# taz.de -- Medien und Populismus: Kult der neuen Technologien | |
> Der Niedergang der Zeitungen schafft Resonanzräume im Internet – ist aber | |
> nicht die Ursache von Populismus. Den gibt es schon länger. | |
Bild: Wenn er sich seinen Anhängern nicht holografisch zeigen kann, dann eben … | |
Den Populismus als eine „rechte“ politische Bewegung zu betrachten, ist | |
eine falsche Vereinfachung. Den Populismus als ein Phänomen der sozialen | |
Medien zu betrachten, ist die zweite Vereinfachung. | |
Der Kampfbegriff der „[1][Fake News]“ kompliziert die Sache noch, denn er | |
wird von beiden Seiten eingesetzt: Die Medien beschuldigen Trump, mit Fake | |
News zu operieren – und Trump dreht diesen Vorwurf einfach um. Zurück | |
bleiben seine begeisterten Anhänger und eine konfuse Öffentlichkeit. | |
Jede Epoche muss mit ihren Medien umzugehen lernen. Der Buchdruck brachte | |
den Protestantismus – denn ohne Buchdruck wäre die Forderung, dass jeder | |
selbst seine Bibel liest und seine Zwiesprache mit Gott persönlich hält, | |
nicht denkbar. Der Buchdruck brachte auch die Philologie – und damit den | |
Zweifel, ob die Bibel tatsächlich Gottes Wort sei und nicht eher ein | |
reichlich wirres Textkonvolut, das nur die Aufklärung entziffern kann. | |
Aber der Buchdruck brachte auch den „Hexenhammer“, den ersten Bestseller | |
der modernen Mediengeschichte: Das heißt, der Buchdruck ist konsubstanziell | |
mit dem kollektiven Wahn der Hexenverfolgungen, der sowohl Katholiken als | |
auch Protestanten heimsuchte. Der Buchdruck war ein neues Instrument der | |
Wahrheit und eines der Lüge. | |
Es ist eigentlich eine Banalität, aber es kann angesichts aktueller | |
Diskussionen über Facebook und Fake News nicht schaden, sich dies vor | |
Augen zu halten: Mussolini, Lenin, Hitler und Stalin sind auch ohne | |
Facebook hochgekommen. Sie nutzten die modernsten Medien ihrer Zeit. | |
Zeitungen waren historisch gesehen nur in einigen Jahrzehnten vor und nach | |
dem Zweiten Weltkrieg jene Garanten der demokratisch vor sich hin | |
deliberierenden Öffentlichkeit, die Habermas idealisierte. Zeitungen waren | |
über Jahrzehnte hinweg vor allem Partei- und Propagandainstrumente. Und das | |
sind sie nicht selten bis heute: Der Brexit wurde von Zeitungen befeuert. | |
Facebook war nur der Verstärker in der Filterblase. | |
Der Populismus geht zurück bis zur Figur des Volkstribuns, der in der | |
Römischen Republik als Vertreter der Plebejer Verfassungsrang hatte. Die | |
Tendenz zur Überbrückung des „Systems“ und zur direkten Ansprache an das | |
Volk ist schon dieser Position eingeschrieben und ist vielleicht seit je | |
eine der möglichen Bruchstellen von Republiken oder Demokratien. | |
In der Moderne war der Urtyp all der Caudillos von Pinochet bis Chávez der | |
Korse Napoleon Buonaparte, ein Nobody mit Charisma, der sich selbst zum | |
Kaiser krönte. Das ganze 19. Jahrhundert war traumatisiert von dieser | |
Gestalt – die Gattung des Romans ist ohne dieses Muster der | |
Selbstermächtigung nicht denkbar. Karl Marx beschrieb sie in seinem | |
„Achtzehnten Brumaire des Louis Bonaparte“ als Wiederholung und Farce: Der | |
Neffe Napoleons ließ sich per Plebiszit „zur Wiederherstellung des | |
Kaisertums“ vom Volk absegnen. Das Plebiszitäre, die Pervertierung | |
demokratischer Muster zur Instituierung charismatischer Herrschaft, ist | |
seitdem ein Muster des Populismus. | |
## Das Märchen von der sozialen Gerechtigkeit | |
Links oder Rechts? Kein Populist kommt ohne „linke“ Versprechen aus. | |
Soziale Gerechtigkeit soll wiederhergestellt werden, Profiteure werden in | |
die Schranken gewiesen. In Wirklichkeit läuft es immer auf die Definition | |
eines „Anderen“ hinaus, dem der Reichtum genommen wird – eine Logik der | |
Requisition, die bei den historischen Vorläufern auf die Spitze getrieben | |
wurde. Bei den Nazis waren es die Juden, bei den Kommunisten die Bauern und | |
Bourgeois. | |
Bei den farcenhaften Wiederholungen der Jetztzeit sind die Sündenböcke | |
entweder die Migranten, die möglichst wieder über die Grenzen expediert | |
werden sollen, oder abstrakter der „Neoliberalismus“, das „System“, | |
„Amerika“, das „Finanzkapital“, „Europa“: Der Linkspopulismus hat i… | |
den Vorzug, nicht so stark zu personalisieren. | |
In den französischen Wahlen konnte man dennoch sehr schön sehen, dass beide | |
Spielarten des Populismus, [2][die „rechte“ der Marine Le Pen] und die | |
„linke“ des [3][Jean-Luc Mélenchon], dieselben Hassargumente gegen Emmanuel | |
Macron, den „Rothschild-Bankier“, der nur das „alte System“ verkörpert… | |
Umlauf brachten. | |
Mélenchon ist wie der böse Clown Italiens, Beppe Grillo, geradezu das | |
Muster eines Populisten, fast mehr noch als die durchaus virtuose Marine Le | |
Pen, die als Kronprinzessin und Vatermörderin in ihre Funktion hineinwuchs. | |
Mélenchon hatte als Populist ein Erweckungserlebnis, das er in einem | |
Dokumentarfilm, der bei Arte lief, als mystische Verschmelzung mit dem | |
Volkskörper beschrieb. | |
## Überbrückung von Zeit und Raum | |
Es geschah ihm bei seinem Kampf gegen die europäische Verfassung im Jahr | |
2005: „Ich bin bei einer Versammlung Département Somme … Ich ergreife das | |
Wort und sage ihnen: ‚Stimmt ab, um sie zu strafen.‘ Und ich weiß nicht, | |
was dann in dem Saal geschieht, alle stehen auf und fangen an zu schreien … | |
Auf diesen Moment datiere ich meinen affektiven Bruch mit der Welt, aus der | |
ich komme.“ | |
Mélenchon ließ sich bei seinen späteren Wahlkampfauftritten als Hologramm | |
auf die Bühnen projizieren, um körperliche Präsenz an verschiedenen Orten | |
zu simulieren: Der Kult der neuesten Technologien dient im Populismus | |
dieser körperlichen Verschmelzung mit den Massen. | |
Ähnlich funktioniert der Demagoge Grillo – als direkter Redner auf der | |
Bühne, oder als Blogger, der das ganze „System“ der Medien überbrückte, … | |
direkt mit seinem Publikum zu kommunizieren. In Deutschland ist der | |
inzwischen verstorbene Mitbegründer der Fünf-Sterne-Bewegung, der | |
Informatiker Gianroberto Casaleggio, kaum bekannt: ein | |
Software-Unternehmer, der eine Art New-Age-Kult um das Internet betrieb und | |
Grillo mit sektenähnlicher Effizienz in die Öffentlichkeit katapultierte. | |
Die sozialen Medien sind für die Populisten ein Hallraum von nie | |
dagewesener Wirkungskraft. Neu an ihnen ist, dass sie viral funktionieren | |
und ein Publikum über die physische Präsenz hinaus – vor allem jenseits der | |
traditionellen Zeitungen – konstituieren helfen. Aber sie sind ein Faktor, | |
nicht die Ursache. | |
## Folgen der technischen Umwelzung | |
Dass überall auf der Welt zugleich Populismen entstehen – von den | |
Philippinen über die USA bis nach Ungarn und Russland – muss irgendwie auch | |
in gleichzeitigen technischen Umwälzungen begründet sein, nur sind die | |
Interdepenzen vielfältiger, als es sich eine einseitige Fixierung auf die | |
neuen Medien ausmalt. | |
Da ist zum Beispiel der soziologische Aspekt: Mehr als die Globalisierung | |
mit ihren Firmenverlagerungen oder gar der ominöse „Neoliberalismus“ | |
dürften technologische Entwicklungen den Boden für die Populismen bereitet | |
haben: durch Rationaliserungen, die immer mehr Arbeitskräfte überflüssig | |
machen. | |
Für Heere von Fernfahrern und Kassiererinnen verkürzen sich die | |
Perspektiven. Wo Digitalisierung Jobs schafft, sorgt sie für Vereinzelung. | |
Foodora-Kuriere sind kein Proletariat. | |
26 May 2017 | |
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## AUTOREN | |
Thierry Chervel | |
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