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# taz.de -- Medienberichterstattung über Gewaltakte: Journalisten sind keine H…
> Eine ideale Berichterstattung bei Gewaltakten wie Terroranschlägen gibt
> es nicht. Das soll aber nicht heißen, dass es nichts zu verbessern gäbe.
Bild: Eilmeldung statt Tiefe?
Es gibt diesen Traum von Medien, die viel besser sein könnten, als sie
sind. Es ist ein schöner Traum. Die Welt darin ist bunt und voller
Karamell, die Blumen duften, und nicht einmal die Tiere fressen sich
gegenseitig auf. Nur lautet die Frage dann: Wie wären solche Medien
eigentlich?
Sie würden natürlich nur Wahres berichten. Journalisten wären objektive
Heilige, die als einzige auf der Welt nie Fehler machen. Natürlich hätten
sie eine Haltung. Die medialen Inhalte wären nie banal, aber stets
verständlich und für alle interessant aufbereitet.
Die Medien würden „die Menschen“ mitnehmen und die Lebenserfahrungen aller
aufgreifen, ohne dabei ihr Fähnchen in den Wind der Publikumsgunst zu
hängen. Sie würden ein breites Meinungsspektrum abdecken und Berlin,
Brüssel und Washington nicht für die ganze Welt halten. Es gäbe keine
blinden Flecken mehr. Kein Abarbeiten an der Terminagenda des Kabinetts.
Ausreichend Geld für Recherchen. Und so weiter und so fort.
Natürlich ist das alles übles Sonntagsredengesabbel. Die Frage ist: Was
wäre realistisch, gemessen an den wirtschaftlichen, personellen,
zeitlichen, kulturellen und sonstigen Umständen unter denen Medien
tatsächlich entstehen?
## Wettlauf gegen die Zeit
Nehmen wir den Bereich des Liveticker-Journalismus. Er boomt. Selbst dann,
wenn es nicht um ein tatsächliches Echtzeit-Ereignis wie ein Fußballspiel
geht, wird mittlerweile häufig so getan, als müsste man in Echtzeit dabei
sein. Etwa nach Gewalttaten, die auf den ersten Blick wirken, als könnte es
sich um [1][Terror] handeln.
Dass die Weisheit des Schriftstellers Peter Glaser – „Information ist
schnell, Wahrheit braucht Zeit“ – dabei nicht berücksichtigt wird, ist noch
nicht einmal das Hauptproblem. Das Problem ist, dass der Journalismus
bisweilen sogar noch schneller ist als die Informationen.
Echtzeit-[2][Journalismus nach Gewalttaten] geht deshalb beinahe
verlässlich schief.
2012 etwa, nachdem an einer Schule in Newtown 20 Kinder und ein halbes
Dutzend Erwachsene getötet worden waren, schickte ein US-Fernsehsender
schnell den Namen des vermeintlichen Täters um die Welt. Sein Foto folgte
wenig später. Dieser Mann saß da gerade in seinem Büro und sah im
Fernsehen, was er angeblich getan hatte. Der tatsächliche Täter war sein
Bruder.
Oder nach dem Anschlag auf den Boston-Marathon 2013: Damals wurden die
Informationen im Minutentakt aktualisiert, und am Ende stimmten sie dann
trotzdem nicht. Der Boston Globe etwa korrigierte die Zahl der Verletzten
kurz nach dem Anschlag innerhalb einer halben Stunde von 46 auf 100, auf
„mindestens 90“, auf 64, und landete schließlich bei etwa 130. Heute weiß
man: Es wurden drei Menschen getötet und mehr als 260 Menschen verletzt.
## Lieber gestern als heute
Nach dem Anschlag auf den Breitscheidplatz 2016 in Berlin wurde recht flott
ein junger Mann pakistanischer Herkunft festgenommen, was dann auch prompt
öffentlich wurde, weil auch die Polizei unter medialer Beobachtung
angehalten ist, lieber gestern als heute Ermittlungserfolge mitzuteilen.
Auch hier wusste man später: Der Mann war es nicht.
Heute müssen sich Online-Nachrichtenredakteur*innen rechtfertigen, wenn sie
nicht schnellstmöglich, aber dafür möglichst dauerhaft live drauf sind,
sobald irgendwo auf der Welt live etwas Aufreibendes geschieht, und
[3][Pushmeldungen] verschicken wie nichts Gutes. Es ist, als hätte man ein
Formel-1-Rennen zu gewinnen.
Allerdings bringt diese hypereilige Berichterstattung selten Erkenntnis –
sieht man mal von der Erkenntnis ab, dass man eigentlich nichts weiß.
Befriedigt wird damit ein Bedürfnis, das medial erst geschaffen wurde: die
Welt wie einen Krimi zu verfolgen. Der wesentliche Impuls dabei ist: Man
macht das, weil es alle machen. Und weil es geht. Und weil man der
Konkurrenz dieses Marktsegment nicht einfach überlassen wird. Aber nicht
unbedingt, weil es auch publizistisch sinnvoll ist.
Die Echtzeitticker nach Gewalttaten sind damit eine Versinnbildlichung der
Branchenmechanismen. Es geht in vielen Redaktionen um mehr Output bei
höherem Tempo. Der Zeitdruck, unter dem heute journalistische Texte
angefertigt werden, ist größer als je zuvor. Zugleich gibt es ein Primat
der Ökonomie, das man sogar im Unterhaltungsbereich des Privatfernsehens
sieht: Shows, die in der Produktion wenig kosten, dauern heute vier, fünf
Stunden, obwohl sie nur Spannung für eine halbe Stunde bieten.
## Viel Licht, viel Schatten
Der Journalismus von heute ist wahrlich nicht der schlechteste, den man
sich vorstellen kann. Die Zahl der herausragenden Projekte, der tiefen
Recherchen, der klugen Essays, der stilistisch aufregenden Reportagen ist
groß. Nur hat die Medienbranche zwei Gesichter. Neben dem Tollen steht
ebenso viel Unsinn: die schnell geschriebenen Wasserstandsberichte.
Die eiligst dahingeschriebenen Aufreger. Von der Versicherungsindustrie
mitfinanzierte Wissenschaftsartikel. Die Recherchen im Reisejournalismus,
organisiert von der Tourismusbranche. Den Journalismus des gestopften Lochs
der Marke „Schnell, wir brauchen noch irgendetwas für Seite 2“. Und eben
die Livetickerei zu Terroranschlägen mit immer mehr Information bei
gleichzeitig wachsendem Zweifel.
Die Frage ist: Kann man gegen solche medialen Automatismen, gegen den
Bullshit nichts machen? Die Antwort ist: Doch, kann man. Und es geschieht
bereits. Das Schweizer Medienprojekt [4][Republik] etwa sammelt Geld mit
dem Versprechen, einen Journalismus „ohne Bullshit“ zu betreiben. Tausende
spendeten schon innerhalb der ersten Tage einen Vertrauensvorschuss.
Interessanterweise treiben sich die Medien nicht nur gegenseitig zu
allerlei Unfug an – wie etwa zu jener maßlosen Berichterstattung in der
Affäre um Bundespräsident Christian Wulff, als noch die letzte
Regionalzeitung einen eigenen Coup landen wollte. Sondern auch zu
Kurskorrekturen.
## Einer macht, die anderen ziehen mit
Es gibt tatsächlich eine funktionierende mediale Selbstregulierungspraxis.
Und sie ist es, die heute sinnvoll als konstruktive Gegenöffentlichkeit zu
bezeichnen wäre: Ein Umsteuern ist möglich. Es muss nur irgendeine
Redaktion erst einmal vormachen – und zeigen, dass guter Journalismus auch
tatsächlich am Markt besteht. Dann zieht die Konkurrenz schon mit.
Als die Liveticker nach Terroranschlägen geradezu beängstigend
unglaubwürdig geworden waren, als man angesichts der Fülle an einander
teilweise widersprechenden Informationen nicht mehr zusammenbrachte, was
man nun wusste und was man nur glauben musste – da entwickelte die
Redaktion von Zeit Online ein Format mit dem Titel „Was wir wissen – und
was nicht“.
Darin fand sich genau das, was in dieser Lage der allgemeinen
Unübersichtlichkeit gebraucht wurde: Angaben darüber, worüber man nur
spekulieren konnte und was an Fakten wirklich feststand. Eine Karte durch
den Informationsmüllhaufen.
Die Idee wurde mittlerweile von praktisch jeder deutschen
Nachrichtenredaktion aufgegriffen. Und zum Teil zwar auch wieder
aufgeweicht und verschlechtert – aber trotzdem: So ungefähr, dachte man da,
kann das doch gehen mit der medialen Selbstregulierung. So kann das doch
gehen mit der Bullshit-Freiheit des Journalismus.
## Reflexen widerstehen
Ein nächster Schritt wäre das Ende substanzloser Aufreger, nach deren
Konsum man sich als User*in fühlt, als hätte man in einer Matschpfütze
gebadet. Aufreger wie zum Beispiel hingeplapperte Politikerzitate, die zum
Skandal aufgeblasen werden. Wie übertrumpfen wir die Empörung, von der die
Konkurrenz profitiert?
Das ist einfach nicht die richtige Frage – und vielleicht muss eine neue
Redaktion kommen, um zu zeigen, dass man sich auch bei kompletter
Bullshit-Freiheit am Markt halten kann.
Empörung ist im 21. Jahrhundert nicht per se eine politische Tat – sondern
in vielen Fällen nur ein übereilter Reflex. Da nicht mitzumachen, wäre eine
zeitgemäße Form von Gegenöffentlichkeit. Ein Journalismus gegen Reflexe.
30 May 2017
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## AUTOREN
Klaus Raab
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