# taz.de -- Moderne Gegenöffentlichkeit: Auf die Nerven gehen | |
> Gegenöffentlichkeit ist heute was anderes als früher. Grund dafür sind | |
> neue Mittel der Artikulation und rechtspopulistisches Aufbegehren. | |
Bild: Nicht jammern, sondern auf die Straße gehen | |
Das Konzept „Gegenöffentlichkeit“ gab es schon lange vor dem 2. Juni 1967. | |
Vor 50 Jahren, nachdem der keineswegs durchpolitisierte Student Benno | |
Ohnesorg von einem Beamten einer allenfalls vierteldemokratisch gesinnten | |
Polizei West-Berlins erschossen worden war, wurde lediglich aus der Not die | |
Idee von Untersuchungsausschüssen, Gegenermittlungen und Recherchen gegen | |
die Behauptungen der Staatsapparate geboren. | |
Ein junger Mann, Teil des gesellschaftlichen Aufbruchs in der | |
Bundesrepublik gegen den Muff der christlich auf Untertänigkeit getrimmten | |
Adenauerrepublik, war das Opfer, mit dem sich schließlich die halbe | |
Republik identifizieren wollte. | |
Aber Öffentlichkeit der Opposition, selbst unter totalitären Bedingungen, | |
gab es immer schon – auch wenn ihre Ausübung mit dem Tode bestraft wurde, | |
wie bei den Geschwistern Sophie und Hans Scholl unter den | |
Nationalsozialisten, denen Flugblätter zum Verhängnis wurden. | |
## Papierne Formen des Einspruchs | |
Flugschriften, Mitteilungen, ohne durch die Filter der etablierten | |
Zeitungen zu müssen, gab es seit Jahrzehnten: Sie waren zugleich | |
mobilisierende Papiere, die Missstände anprangerten und Protest | |
einforderten. | |
Diese papiernen Formen des Einspruchs, der schriftlich verfassten Mühen um | |
eine andere Sicht auf die Wirklichkeit, sterben aus oder sind es schon: | |
Läuft doch alles digital. Die heutigen Empörungen und Einsprüche werden am | |
häufigsten über Facebook, aber auch über Foren wie Open Petition und | |
Campact verbreitet. | |
So weit, so modern. „Gegenöffentlichkeit“ ist jedoch keine linke Domäne | |
mehr. Rechtspopulistische und offen rechte Erregungen, wie sie zur | |
Pegida-Bewegung und zur AfD wurden, beanspruchen, die wahre Wahrheit zu | |
formulieren – und sie taten dies vor den ersten Dresdner | |
Pegida-Manifestationen über das Internet. | |
Dass diese rechte Bewegung im medialen „Tal der Ahnungslosen“ Erfolg bis | |
heute hat, mag darauf geschoben werden, dass in Dresden bis zur Wende kaum | |
Westfernsehen zu sehen war und deshalb Mediennutzung nicht gelernt wurde – | |
die Realsozialisten publizierten und niemand glaubte ihnen, selbst wenn | |
dass Neue Deutschland zutreffend behauptet hätte, jeden Tag ginge die Sonne | |
auf. | |
## AfD und Pegida sind nicht die Gefahr | |
Dass heute in den rechtspopulistischen Szenen ein fundamentales Misstrauen | |
gegen die Medien existiere, ist allerdings falsch: Das Misstrauen gilt der | |
Bundesrepublik als solcher, nur vordergründig den Zeitungen und | |
Radiostationen und TV-Sendern, mit denen eine völkisch gesinnte | |
Neujustierung der Bundesrepublik nicht zu haben ist. | |
Pegida – und die AfD als solche – ließe sich auch anders denn als Gefahr | |
formulieren: Die verlaufen sich; diese Bewegung ist nicht sexy, nicht | |
seriös mehrheitsfähig; sie repräsentiert eine Gegenöffentlichkeit und | |
-praxis, die buchstäblich fast allen auf die Nerven geht. Wer will sich | |
schon ernsthaft mit Figuren wie Lutz Bachmann identifizieren oder, nun ja, | |
Alexander Gauland? Freaks und Nervensägen. | |
Riskant ist das Konzept „Gegenöffentlichkeit“ freilich für die Linke, für | |
Alternative, für jene, denen die Bundesrepublik noch vor gar nicht langer | |
Zeit auch als „System“ abzuschaffen war. Die Bereitschaft, unentwegt | |
enthüllen und entlarven zu wollen, ist wie eh und je immens. Und sie ist | |
berechtigt, wo es, wie in Berlin vor einigen Jahren, um die geheim | |
gehaltenen Wasserverträge ging: Wo es um kommunale Güter geht, muss es | |
Transparenz geben. | |
Aber schon am Beispiel [1][„Wikileaks“] lässt sich heute plausibel machen, | |
dass ein Mann wie Julian Assange und seine Freund*innen kaum mehr als | |
politische Hasardeure sind – und zwar im Gewand der Aufklärer. Wie sich | |
mehr und mehr herausstellt, ist die Enthüllungsplattform kaum mehr als ein | |
Instrument nützlicher Idioten im Sinne der antidemokratischen Politiken | |
Putins: Donald Trump und die Seinen freuten sich im Kampf gegen die | |
demokratischen Bewegungen in den USA tüchtig. | |
## Was haben die Panama-Papers gebracht? | |
Denn: Wo haben denn die Wikileaks etwas zu oligarchischen Systemen in | |
Russland oder im arabischen Kontext blamiert? Sind denn Dateien des | |
wahhabitischen Königshaus in Riad zur Kenntnis gebracht worden? Oder solche | |
mit näheren Hintergründen – Geldflüsse etwa – zur Okkupation der Krim du… | |
russische Militärs? | |
Weiter: Was hat die Publikation der [2][Panama-Papiere] gebracht? | |
Geldwäsche, Diebstähle an Volksvermögen durch Steuerhinterziehung – das | |
sind Fragen, die nur politisch gelöst werden können und müssten: Empörung | |
über die Gier der Wohlhabenden reicht nicht. | |
Der Coup, Panama als Hehlerstaat dem globalen Pulikum zur Kenntnis gebracht | |
zu haben, lohnte sich für die dies veröffentlichenden Medien, auch die | |
Süddeutsche Zeitung, führte aber gesetzlich zu fast nichts: Politik gegen | |
solche Panama-Praxen wird in Parlamenten entschieden, nicht in den Sozialen | |
Medien oder Zeitungen. | |
Dass die Schweiz faktisch kein Bankgeheimnis mehr hat und es für | |
Steuerflüchtige dort keine Heimat mehr gibt, lag an US-amerikanischen | |
Drohungen, nicht an wortreichen Petitionsaufständen im Internet. | |
## Coolness gegen Empörung | |
Eine andere Tradition steckt auch noch im Konzept „Gegenöffentlichkeit“, | |
und sie dreht sich um die linke Annahme der späten sechziger Jahre, das | |
Private sei politisch. Das ist erstens öfters wahr als gelogen: Alle | |
Fragen, die die Frauenbewegung seit der Achtundsechzigerzeit stellte, waren | |
und sind politisch: Abtreibungsrecht, gleiche Rechte in Partnerschaften und | |
Ehen, Kinder und Nichtkinder etwa. | |
Auch in den Bewegungen sexueller Minderheiten – etwa der Schwulen – musste | |
das scheinbar Private politisiert werden: Die heteronormative Machtkultur | |
musste einfach unterlaufen werden, und sei es, wie durch [3][Rosa von | |
Praunheim], durchs Outen von Männern wie Alfred Biolek und Hape Kerkeling. | |
Anders kann das, was Normalisierung nicht heterosexueller Lebenschancen | |
angeht, nicht errungen werden. | |
„Gegenöffentlichkeit“ – die braucht es nicht mehr nicht mehr in dem | |
klassisch verstandenen Sinne wie vor 50 Jahren. Empörung als Reaktionsmodus | |
auf alles, was einem in der Welt nicht passt, ist zur Disziplin der Rechten | |
geworden, und sie wird es bleiben: Das können die echt gut. Leider. Linken | |
stünde ein anderer Modus gut an: Coolness. Nicht Chemtrails trauen, keiner | |
Hassbotschaft, keiner aufgeschäumten Erregung, keiner Verschwörungstheorie | |
und auch keinen Botschaften, die die Welt als Verhängnis schildern. | |
Politisch ist eine bessere Welt nur durch stete, auch nervenaufreibende | |
Arbeit zu haben – in den demokratischen Institutionen. Die Straße als | |
Gegenöffentlichkeit ist weiterhin notwendig: Auch, um rechten | |
Demonstrationen zu signalisieren, dass sie als Antidemokraten jederzeit mit | |
Gegenwehr einer bunten oder konservativ gesinnten oder linken Gesellschaft | |
zu rechnen haben. | |
23 May 2017 | |
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## AUTOREN | |
Jan Feddersen | |
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