# taz.de -- Erdogan geht verschärft gegen Gegner vor: Festnahmen in Istanbul | |
> Der türkische Präsident entlässt 4.000 Staatsbedienstete und verbietet | |
> Heiratsshows. Und auch der Zugang zu Wikipedia wurde gesperrt. | |
Bild: 1. Mai-Protest in Istanbul: Polizisten verhaften Demonstranten | |
ISTANBUL afp | Zwei Wochen nach dem Referendum zur Stärkung seiner Macht | |
hat der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan erneut fast 4.000 | |
Staatsbedienstete entlassen. Bei Demonstrationen zum Tag der Arbeit hat es | |
in der türkischen Metropole Istanbul Dutzende von Festnahmen gegeben. | |
Mit einem am Samstag erlassenen Notstandsdekret wurden auch Heiratsshows im | |
Fernsehen verboten, zudem blockierte die Regierung den Zugang zu Wikipedia. | |
UN-Menschenrechtskommissar Zeid Ra'ad Al Hussein und Oppositionsführer | |
Kemal Kilicdaroglu äußerten scharfe Kritik. | |
Mit dem Notstandsdekret wurden 3.974 Staatsbedienstete entlassen, darunter | |
1.200 Angehörige der Streitkräfte. Auch 1.127 Angestellte des | |
Justizministeriums sowie 201 Mitarbeiter der Religionsbehörde Diyanet | |
wurden gefeuert. Auch die Wahlkommission, das Verfassungsgericht und der | |
Hohe Rat der Richter und Staatsanwälte waren betroffen. | |
Unter dem Ausnahmezustand, der nach dem gescheiterten Militärputsch im | |
vergangenen Juli verhängt worden war, wurden bislang rund 120.000 | |
Staatsbedienstete entlassen, mehr als 47.000 wurden inhaftiert. Betroffen | |
sind vor allem mutmaßliche Anhänger des islamischen Predigers Fethullah | |
Gülen, dessen Bewegung von Ankara für den Putschversuch verantwortlich | |
gemacht wird. | |
Aber auch kurdische Aktivisten, Oppositionsanhänger und Regierungskritiker | |
wurden entlassen. Durch das neueste Dekret wurden 484 Dozenten und Forscher | |
sowie 98 Verwaltungsmitarbeiter von Universitäten ihrer Posten enthoben. | |
Darunter waren auch Unterzeichner einer Petition für Frieden mit den | |
Kurden, wie die Zeitung Daily News berichtete. | |
## „Klima der Angst“ | |
UN-Menschenrechtskommissar Al Hussein kritisierte, bei einer so großen Zahl | |
an Entlassungen sei es „höchst unwahrscheinlich, dass diese Suspendierungen | |
und Festnahmen den Verfahrensregeln entsprechen“. Er sei „äußerst | |
beunruhigt“ über den im April verlängerten Ausnahmezustand und über das | |
„Klima der Angst im Land“, erklärte er am Montag. | |
Auch die oppositionelle Republikanische Volkspartei (CHP) äußerte scharfe | |
Kritik. „Die Grundrechte und Freiheiten werden durch die Notstandsdekrete | |
zerstört“, schrieb ihr Vorsitzender Kilicdaroglu in einer Erklärung zum 1. | |
Mai. Er kritisierte insbesondere die Einschränkung der Versammlungsfreiheit | |
unter dem Ausnahmezustand. | |
Die Polizei ging am 1. Mai in Istanbul mit Tränengas gegen Demonstranten | |
vor, die trotz eines Verbots zum zentralen Taksim-Platz zu marschieren | |
versuchten. Sie entrollten Banner mit der Aufschrift „Lang lebe der 1. Mai. | |
Nein zum Diktator“. Der symbolträchtige Platz, auf dem es im Sommer 2013 | |
große Proteste gegeben hatte, war weiträumig abgesperrt. | |
70 Menschen habe die Polizei im Stadtteil Besiktas in Gewahrsam genommen, | |
berichtete der Sender NTV am Montag. Im Stadtteil Mecediyeköy gab es nach | |
Angaben der Nachrichtenagentur DHA Auseinandersetzungen zwischen der | |
Polizei und Demonstranten, die zum zentralen Taksim-Platz laufen wollten. | |
Die Polizei habe Tränengas eingesetzt, mehrere Menschen seien festgenommen | |
worden. | |
## Taksim-Platz abgesperrt | |
Die Gegend um den Taksim-Platz war weitläufig abgesperrt. Nach Angaben der | |
staatlichen Nachrichtenagentur Anadolu waren mehr als 30.000 | |
Sicherheitskräfte in Istanbul im Einsatz. | |
Für Gewerkschaften hat der Taksim-Platz eine besondere Bedeutung. Am 1. Mai | |
1977 eröffneten dort Heckenschützen das Feuer auf eine Demonstration mit | |
rund 500.000 Teilnehmern. Mindestens 34 Menschen starben. Bis heute ist | |
unklar, wer die Täter waren. | |
Mit dem Notstandsdekret von Samstag wurden auch Heiratsshows im Fernsehen | |
verboten. Sie erfreuen sich in der Türkei großer Beliebtheit, stoßen aber | |
bei konservativen Muslimen auf Kritik. Jedes Jahr gibt es tausende | |
Beschwerden dagegen. Vize-Ministerpräsident Numan Kurtulmus hatte im März | |
kritisiert, die Shows passten nicht zu türkischen Sitten. | |
Die Opposition beklagt seit langem einen Missbrauch der Dekrete zur | |
Einschränkung der Meinungsfreiheit. Am Samstag wurde auch der Zugang zum | |
Online-Lexikon Wikipedia von der Behörde für Informations- und | |
Kommunikationstechnologien (BTK) blockiert. Internetnutzer konnten | |
Wikipedia nur noch mit technischen Hilfsmitteln wie VPN-Verbindungen | |
aufrufen. | |
## Erdogan gegen Wikipedia | |
Medienberichten zufolge hatten die Behörden Wikipedia zuvor aufgefordert, | |
Inhalte zur „Terrorunterstützung“ sowie Angaben zu löschen, wonach die | |
Türkei mit Terrorgruppen kooperiert. Anlass für die Sperrung war | |
möglicherweise eine Aktualisierung der Seite zu Erdogan, auf der das per | |
Referendum gebilligte Präsidialsystem als Form der „Diktatur“ kritisiert | |
wurde. | |
„Zugang zu Informationen ist ein grundlegendes Menschenrecht“, schrieb | |
Wikipedia-Gründer Jimmy Wales auf Twitter. Im Kampf für dieses Recht stehe | |
er an der Seite des türkischen Volkes. Österreichs Bundeskanzler Christian | |
Kern nannte die Entwicklung „äußerst besorgniserregend“. „Wir müssen u… | |
Beziehungen zur Türkei neu ordnen“, forderte er in Brüssel. | |
Die Türken hatten bei einem Referendum am 16. April mit knapper Mehrheit | |
einer umstrittenen Verfassungsänderung zugestimmt, die Präsident Erdogan | |
deutlich mehr Macht gibt. Die Opposition sieht darin einen Schritt zu einer | |
Ein-Mann-Herrschaft und wirft der Regierung die Manipulation der Abstimmung | |
vor. | |
1 May 2017 | |
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