# taz.de -- Interview mit PYD-Chef: „Erdoğan hat nie gegen den IS gekämpft�… | |
> Salih Muslim, Kovorsitzender der kurdischen Partei in Syrien (PYD), | |
> beurteilt die Syrien-Politik der Türkei und berichtet von den eigenen | |
> Zielen. | |
Bild: „Wir sagen: Lasst uns zusammenleben!“ | |
Die Belagerung von Rakka, der Hauptstadt des „Islamischen Staates“ (IS), | |
durch die Demokratischen Kräfte Syriens (DKS) dauert an. Es heißt, die | |
IS-Führungsspitze einschließlich ihres Chefs Abu Bakr Al-Baghdadi habe sich | |
nach Deir ez-Zor zurückgezogen. | |
Die Verhandlungen der Türkei um Rakka laufen noch, doch die Worte von | |
Außenminister Mevlüt Çavuşoğlu klingen wie ein Eingeständnis, dass die | |
Türkei dabei nicht viel zu melden hat: „Sie (die Internationale Koalition, | |
Anm. d. Red.) haben von Anfang an nicht auf uns gesetzt, weil die YPG Druck | |
gemacht hat“. | |
Die türkische Syrien-Politik, die auf Eroberungsdrang und die Hoffnung auf | |
ein Freitagsgebet in Damaskus basiert, ist offenbar völlig | |
zusammengebrochen. Da sagt sich die Türkei auf den letzten Drücker: | |
„Verhindern wir wenigstens einen kurdischen Korridor.“ Das belegt auch die | |
Bombardierung der Shengal-Berge im Föderierten Kurdistan/Irak und der | |
Karacok-Berge in Rojava/Syrien durch die türkischen Streitkräfte am 25. | |
April 2017. Der Angriff wurde von den Vereinigten Staaten und Russland | |
stark kritisiert, da es den Kampf gegen den sogenannten IS gefährde. | |
Um seine Einschätzung der aktuellen Lage in Syrien einzuholen, traf | |
taz.gazete Salih Muslim, den Kovorsitzenden der kurdischen Partei PYD in | |
Syrien, bei einer Hamburger Tagung. | |
Muslim zieht Bilanz über die bisherige Syrien-Politik der Türkei. Dabei | |
verweist er auf neue von Dschihadisten in der Türkei ausgehende Desaster. | |
Und er ist der Ansicht, dass die türkische Militäroperation „Schutzschild | |
Euphrat“, die über 70 türkische Soldaten das Leben gekostet hat, und das | |
Geschehen in al-Bab keineswegs so verliefen, wie es der türkischen | |
Öffentlichkeit dargestellt wurde. | |
## „Wir verteidigen uns nach wie vor“ | |
Wie steht es aktuell im Kampf gegen den IS? Welche Entwicklungen gibt es | |
hinsichtlich der kurdischen Volksverteidigungseinheit YPG, also dem | |
bewaffneten Arm der PYD? Welche Ziele stehen an? | |
„Wir verteidigen uns nach wie vor und organisieren weiter die Bevölkerung | |
in diesem Rahmen“, sagt Salih Muslim. „Von Anfang an unternahmen wir | |
Schritte zur Existenzsicherung. Wir wünschen uns eine Gesellschaft, in der | |
die Völker in all ihrer Vielfalt geschwisterlich zusammenleben können. | |
Unser Anliegen gilt also nicht allein den Kurden. Es geht uns um eine | |
Änderung der Geisteshaltung in dieser Region.“ | |
## Föderalismus statt Abspaltung | |
Zur Einschätzung der Ereignisse in Syrien aus Sicht der Kurden und anderen | |
Völker in der Region sagt Muslim: „Was aus Syrien wird, hängt vom Willen | |
der Bevölkerung ab. Die Aggressionen gegen die Kurden kommen von | |
Reaktionären, die nicht wollen, dass sich unser Wunschmodell etabliert. Zu | |
ihren Waffen gehört auch das Lügen. Arabische Nationalisten sagen, wir | |
wollten die Spaltung. Daran denken wir aber gar nicht. Wir wollen, dass | |
sich nationalistische, reaktionäre Gesinnungen ändern. | |
Bislang sind nationalistische, reaktionäre Ideologien ausschließlich den | |
Weg des Tötens und der Assimilierung gegangen. Auf diesem Weg können sie | |
uns aber nicht besiegen und nicht vernichten, das haben wir bewiesen. Wir | |
sagen: 'Lasst uns zusammenleben!’ Wer unser System erkennt, schließt sich | |
uns an und integriert sich. Die Araber von Minbic sind mit uns. Die im | |
Norden von Rakka lebenden arabischen Stämme akzeptieren unser System. | |
Sie erwärmen sich gerade für den demokratischen Föderalismus. Wir haben | |
also in Minbic und Tel Abyad gezeigt, dass unser geplantes Modell | |
funktioniert. Wir werden es auch in Rakka zeigen.“ | |
## Rakka bald unter YPG-Herrschaft? | |
Muslims Überzeugung spricht dafür, dass die demokratischen Kräfte DKS | |
demnächst die Kontrolle in der Region um Rakka übernehmen könnten. Wie | |
eindeutig die Haltung der Koalitionskräfte ist, belegen wiederum die Worte | |
des PYD-Vorsitzenden: „Unserer Meinung nach wissen die USA und die | |
Koalition, wie nötig ein Wandel im Nahen Osten ist. An diesem Punkt gehen | |
die Pläne der Türkei, die in Syrien Eigenes im Sinn hat, nicht auf. | |
Die USA und Europa wollen kein modernes osmanisches Reich. Das ist ein | |
reines Fantasieprodukt. Wir wollen, dass Rakka endlich frei ist. Dann | |
stellen wir unser Modell der regionalen Bevölkerung vor. Sie entscheiden | |
selbst. Wenn sie zusammenleben wollen, steht unsere Tür offen. Wollen sie | |
für sich bleiben, werden wir das akzeptieren. Hauptsache, sie haben nicht | |
vor, uns als Gegner zu bekämpfen. Wir wollen auch in Rakka Freundschaft. In | |
einem „islamischen Staat“ oder Fürstentum können wir nicht leben.“ | |
Türkischer Geheimdienst und IS | |
Der Kampf der Türkei gegen den sogenannten IS steckt in der Sackgasse. Zur | |
dschihadistischen Strömung in Syrien sagt PYD-Chef Muslim: | |
„Der IS ist eine Figur auf dem Schachbrett. An der Spitze derer, die sie | |
füttern und heranziehen, finanzieren und ausbilden, steht neben dem Kapital | |
aus Saudi Arabien und Qatar vor allem der türkische Staatspräsident Recep | |
Tayyip Erdoğan. Die Türkei hat wichtige Leute im IS. Der vor einem halben | |
Jahr getötete Turkmene Ebu Müslüm Türkmani fungierte auch als | |
Stellvertreter von Baghdadi. Er war Mann des türkischen Geheimdiensts, und | |
gleichzeitig im IS. Dort arbeitete er als verlängerter Arm der Türkei. Es | |
gibt eine ganze Reihe solcher Leute.“ | |
Und was sollten solche Pläne bezwecken? Muslim nennt gleich zwei Dinge: | |
„Erstens die Vernichtung der Kurden, zweitens die Errichtung eines | |
Sultanats. Zu den in Homs kämpfenden Dschihadisten stellten sie Leute aus | |
Kirgistan und Kasachstan vor unsere Nase. Unter den Leuten, die aus Homs | |
kamen, befanden sich wiederum zahlreiche türkische Agenten. Warum habt ihr | |
diese Leute in Shahba, Rojava, Dscharabulus stationiert? Was sie vorhaben, | |
ist klar: Fortsetzung der Angriffe und Zerstörung der Demographie!“ | |
Es sei nicht allein der IS, der den Krieg in der Region vorantreibe, so | |
Muslim: „In Shahba wurden die kurdischen Dörfer zerstört. Die mit | |
türkischer Unterstützung gegründete Brigade Sultan Murad brüstet sich | |
lautstark: 'Wir haben 400 bis 600 Familien in der Region angesiedelt.’ Dazu | |
liegt der UN sogar ein Bericht vor. Alle wissen davon. | |
Es ist eben nicht, wie behauptet wird, die YPG, die Menschen aus ihrer | |
Heimat vertreibt und die Demographie verändert. Die Türkei hat sich mit | |
Dutzenden Organisationen auf der Linie der Muslim-Brüder zusammengetan, | |
damit das Chaos in Syrien bestehen bleibt. Sie hat Dschihadistenverbände | |
wie Ahrar al-Sham und Feylek al-Sham unterstützt.“ | |
## Was wirklich in al-Bab geschah | |
Bei der türkischen Militäroperation „Schutzschild Euphrat“, die im | |
vergangenen Sommer in Nordsyrien begann, kamen über 70 Soldaten ums Leben | |
und „Kriegsinstrumente“ der Türkei fielen dem IS in die Hände. Was war das | |
Ergebnis der Operation? Fand sie so statt, wie öffentlich berichtet wird? | |
Der PYD-Chef sagt: „Al-Bab wurde nicht befreit, man bekam es als Ergebnis | |
von Verhandlungen mit dem IS in die Hand“, und unterstreicht ein paar | |
wichtige Punkte: „Es waren nicht Soldaten, die die Region gesäubert haben, | |
es fand ein Austausch statt. Gegen den IS funktioniert nur ein | |
Guerilla-Kampf. Unerfahrene Soldaten ohne Ortskenntnis sind nicht in der | |
Lage, gegen Dschihadisten zu kämpfen. | |
Kürzlich wurde gemeldet, in der Türkei seien 860 IS-Leute festgenommen | |
worden. Darüber wurde aber nicht viel geredet. Bei den Banden gibt es | |
einheimische Aktivisten wie auch ausländische. Man kam überein. Dem IS | |
wurde gesagt: 'Du räumst das Gebiet und wir liefern deine Aktivisten aus.’ | |
Ein Teil dieser Leute wurde nach Rakka überführt. Ein Teil blieb in der | |
Türkei. Tatsächlich haben die Türkei und Erdoğan weder physisch noch mental | |
je gegen IS gekämpft.“ | |
## Probleme mit Freigelassenen | |
„Die Türkei wird noch einen schlimmen Preis zahlen müssen“, fährt Muslim | |
fort: „Gibt es offizielle Informationen darüber, wie viele IS-Leute in der | |
Türkei inhaftiert sind und wie viele freigelassen wurden? Werden sich die | |
Freigelassenen in der Türkei etwa ruhig verhalten? Natürlich werden sie dem | |
Land Probleme bereiten. | |
Die Türkei steckt von Anfang an in diesem Sumpf. Wir haben es beim | |
Austausch von Mossul gesehen (Im Juni 2014 wurden 49 türkische Geiseln vom | |
IS verschleppt, die im September wieder frei kamen. Die türkische Regierung | |
machte zunächst keine näheren Angaben, nur dass der Geheimdienst in die | |
Rettungsaktion involviert sei, allerdings berichteten türkische Medien von | |
einem Austausch mit IS-Gefangenen. Anm.d.Red). Die Ausgetauschten planten | |
die Anschläge von Suruç und Ankara. Dasselbe wird wieder geschehen. Willst | |
du dann wieder die YPG um Hilfe bitten, wie damals bei der Verlegung der | |
Grabstätte von Sulaiman Schah? Damals sagte die Türkei zwar öffentlich, sie | |
habe die Verlegung des Grabs allein durchgeführt. Das stimmt aber nicht, | |
die YPG machte den Weg frei und schützte die türkischen Soldaten. Noch | |
einmal: Kein Soldat kann einen Guerilla-Kampf führen.“ | |
## Nur Einheit kann Zerstörung stoppen | |
Muslim weist vor allem auf die Zerstörungen in der Region hin: „Erdoğan | |
wollte die Hindernisse vor sich aus dem Weg räumen. Das größte Hindernis | |
auf seinem Weg zum Sultanat sind die Kurden. Deshalb hat er gemeinsam mit | |
den Einheiten in Syrien einen Völkermord gegen die Kurden eingeleitet. | |
Die Massaker, die in Shengal und Sindschar ihren Ausgang nahmen, wurden in | |
Kobanê gestoppt, gingen aber innerhalb der Türkei weiter. Die Methoden vom | |
IS in Syrien wurden in den türkischen Orten Silopi, Şırnak und Cizre | |
angewendet. Häuser wurden zerstört, Menschen verbrannt. | |
Die Völker in der Türkei mussten sich auf beide möglichen Ergebnisse des | |
Referendums einstellen. Wäre ein Nein herausgekommen, hätte Erdoğan sich | |
gerächt. Am 16. April gab es aber ein Ja. Die Lage ist nicht gut. Der | |
Sultan will sein Ziel erreichen. | |
Nur wenn Kurden, fortschrittliche Kräfte und Demokraten zusammenstehen, | |
gibt es einen Ausweg aus dem Chaos. Mittlerweile ist jeder eine | |
Zielscheibe, der für die Freundschaft der Völker, für Gleichberechtigung | |
und Demokratie eintritt. Kommt es nicht zur Einigung, wird man gemeinsam in | |
die Katastrophe gestürzt.“ | |
Aus dem Türkischen von Sabine Adatepe | |
27 Apr 2017 | |
## AUTOREN | |
Erk Acarer | |
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