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# taz.de -- Aus Le Monde diplomatique: Demokratische Enklave in Nordsyrien
> Nach der Vertreibung des IS erklärten die kurdischen Parteien PKK und PYD
> Rojava für autonom. Sie starteten ein politisches Experiment.
Bild: Eine demokratische Konföderation, in der Kurden, Araber und Jesiden frie…
Es ist Nacht, aber in Qamischli herrscht noch drückende Hitze. An dem
kleinen Flughafen, der von Assads Polizisten und Soldaten kontrolliert
wird, hat man uns rasch abgefertigt. Hier beginnt das Gebiet der
Demokratischen Föderation Nordsyrien, das die Kurden Rojava (Westen)
nennen.
Mindestens 2 Millionen Menschen – zu 60 Prozent Kurden – wohnen in diesem
Gebiet, das sich südlich der syrisch-türkischen Grenze vom Euphrat bis zur
irakischen Grenze im Osten erstreckt. Seit Januar 2014 läuft in diesem Teil
Syriens ein politisches Experiment, das Abdullah Öcalan angeregt hat, der
seit 1999 in der Türkei inhaftierte Gründer der Arbeiterpartei Kurdistans
(PKK).
Im Mai 2005 haben sich die PKK und die mit ihr verbündete kurdisch-syrische
Partei der Demokratischen Union (PYD) vom Marxismus-Leninismus
verabschiedet und bekennen sich seitdem zum „demokratischen
Konföderalismus“. Das Konzept geht auf den Ökoanarchisten Murray Bookchin
(1921–2006) zurück, mit dessen Schriften sich Öcalan im Gefängnis intensiv
auseinandergesetzt hat. Nachdem die kurdischen Kämpfer Ende 2013 das Gebiet
vom „Islamischen Staat“ (IS) zurückerobert hatten, erklärte die PYD im
Januar 2014 die drei unter ihrer Kontrolle stehenden Kantone Afrin, Kobani
und Cizre zu autonomen Gebieten und verabschiedete den
„Gesellschaftsvertrag der Demokratischen Föderation Nordsyrien“. Mit diesem
Dokument erteilen sie dem Nationalstaatsprinzip ein Absage. Ihr erklärtes
Ziel ist eine egalitäre, paritätisch organisierte und Minderheitenrechte
schützende Gesellschaftsform.
In der ganzen Region, mit Ausnahme von zwei Enklaven nördlich von Hasaka
und dem von Damaskus kontrollierten Flughafen von Qamischli, haben die
Demokratischen Kräfte Syriens (DKS) das Sagen: Zu diesem Militärbündnis
gehören aber nicht nur die kurdischen Kämpferinnen und Kämpfer der
Volksverteidigungseinheiten (YPG) und der Frauenverteidigungseinheiten
(YPJ), sondern auch Kontingente sunnitischer, jesidischer und christlicher
Milizen.
## Von Selbstmordattentätern bedroht
In Quamischli gibt es überall Straßensperren, an denen Sicherheitskräfte
unter riesigen YPG-Fahnen sämtliche Fahrzeuge akribisch durchsuchen.
Dschihadistische Selbstmordattentäter stellen eine ständige Bedrohung dar,
seit am 27. Juli 2016 bei einem Anschlag 44 Menschen getötet und 140
verletzt wurden. In auffälligem Kontrast zu den voll beleuchteten Städten
Nusaybin und Mardin jenseits der türkischen Grenze brennt in den Straßen
von Quamischli kein Licht. Die Energiefrage ist in dieser an sich
rohstoffreichen Region nur eine von vielen Herausforderungen für die neuen
Autoritäten. In Rumailan, 100 Kilometer weiter auf der Landstraße Richtung
Irak, sehen wir vor den Tankstellen lange Warteschlangen.
Bis zum Beginn des Kriegs vor sechs Jahren wurden in dieser Gegend täglich
380.000 Barrel Rohöl gefördert, das war ein Drittel der syrischen
Gesamtproduktion. Wegen der Kämpfe ist das Volumen um 70 Prozent
eingebrochen; seitdem herrscht massiver Kraftstoffmangel. Da die
Autonomieregierung keine eigenen Raffinerien besitzt, ist sie gezwungen,
einen Teil des Rohöls an das syrische Regime zu verkaufen, das dafür
Kraftstoff zum überteuerten Literpreis von 80 Cent liefert.
Zwar gibt es viele lokale Raffinerien, die sich in der Benzinherstellung
versuchen. Aber der Stoff, den sie für 20 Cent pro Liter verkaufen, ist
gefährlich: Schwarzer Rauch hängt über dem Land; die Menschen klagen
zunehmend über Hautkrankheiten und Atemprobleme. „Wir haben zurzeit keine
andere Lösung“, gesteht Samer Hussein, die Beauftragte des
Energieausschusses mit Sitz in Rumailan. „Sobald wir dazu in der Lage sind,
bauen wir moderne Raffinerien, die nicht die Luft verpesten. Und natürlich
stellen wir dann auch die Leute aus den kleinen Raffinerien in den neuen
Fabriken ein.“
Als in anderen Regionen Rojavas die Benzinklitschen verboten wurden,
protestierte die Bevölkerung, der man bereits den Strom rationiert hatte.
Und das trotz der Rückeroberung der drei wichtigsten Euphrat-Staudämme, wo
die Turbinen allerdings weniger Strom produzieren. Das liegt vor allem an
der Türkei, die den Euphrat flussaufwärts kontrolliert. „Ankara hält sich
nicht mehr an seine Verpflichtung, einen Durchfluss von 600 Kubikmetern pro
Sekunde zu gewährleisten“, berichtet Ziad Rustem, Ingenieur und
Beauftragter des Energieausschusses im Kanton Dschasira: „Als die Staudämme
noch vom IS kontrolliert wurden, ließ die Türkei mehr Wasser durch; seitdem
sie von den Demokratischen Kräfte Syriens befreit wurden, hat Ankara die
Wassermenge reduziert. Zurzeit beträgt der Zufluss weniger als 200
Kubikmeter pro Sekunde.“
## Leben unter dem Embargo
Der Journalist Sherwan Youssef, der bei dem kurdischen Fernsehsender Ronahi
TV arbeitet, war bei den Stromprotesten dabei: „In Qamischli sind einige
hundert Menschen auf die Straße gegangen. Sie geben zwar der
Autonomieregierung die Schuld und nicht der Türkei. Aber ich finde die
Demonstrationen trotzdem richtig. Kritik muss erlaubt sein. Die Regierung
sollte den Krieg nicht ständig als Entschuldigung für die mangelnde
Versorgung benutzen.“
Im Gesellschaftsvertrag wird der Umweltschutz zwar hochgehalten, doch die
Umsetzung sei gerade schwierig, erklären unsere Gesprächspartner. Wie soll
man auch neue Raffinerien bauen, die Wasserkraftwerke modernisieren oder
die Entwicklung erneuerbarer Energien vorantreiben, wenn nicht nur die
Türkei, sondern selbst ein Verbündeter wie die im Nordirak dominierende
Demokratische Partei Kurdistans (PDK) ein Embargo über Rojava verhängt
haben?
Doch weder diese drängenden Probleme noch die anhaltenden Kämpfe konnten
das kurdische Projekt in Nordsyrien aufhalten. Die drei Kantone Afrin,
Kobani und Cizre verfügen jeweils über eine gesetzgebende Versammlung und
eine eigene Kantonsregierung. Später sollen die drei Kantone, die ihre
Politik schon jetzt koordinieren, von einem Demokratischen Rat Syriens
verwaltet werden. Die ersten Wahlen fanden im März 2015 statt, weitere sind
für Ende 2017 vorgesehen und Anfang 2018 sollen die Abgeordneten für die
gesetzgebenden Versammlungen gewählt werden.
Kurden, die der PDK nahestehen, haben allerdings die Wahlen boykottiert.
Das gilt etwa für Narin Matini, die im Vorstand der Partei der Kurdischen
Zukunftsbewegung in Syrien und im Kurdischen Nationalrat (KNR) sitzt. Der
KNR ist eine Koalition kurdischer Gruppen unter Vorsitz von Masud Barzani,
dem Präsidenten der Autonomen Region Kurdistan im Nordirak, die am 25.
September ein [1][Referendum über ihre Unabhängigkeit] geplant hat.
## Eine antinationalistische Bewegung
Wir treffen Matini in ihrem Haus im Arbeiterviertel von Qamischli. „Unser
Projekt ist ein kurdisches Nationalprojekt, ein unabhängiges Kurdistan“,
erklärt sie. „Wir teilen die Vorstellungen der Demokratischen Föderation
Nordsyrien nicht. Die Behörden haben unsere Büros geschlossen und unsere
Vorsitzenden festgenommen. Sie haben sie zwar wieder freigelassen. Aber die
Autonomieregierung verlangt, dass wir uns als Partei registrieren lassen.
Doch das würde bedeuten, dass wir sie anerkennen.“
Die gesetzgebende Versammlung von Cizre hat ihren Sitz in Amude, etwa 20
Kilometer von Qamischli entfernt. Das Gebäude ist stark bewacht; am Eingang
werden unsere Taschen und Ausweise kontrolliert. Das Gremium hat 100
Mitglieder, zur Hälfte Frauen, alle gehören politischen Parteien an, die
den Gesellschaftsvertrag unterzeichnet haben. Auch zivilgesellschaftliche
Vereinigungen entsenden jeweils zwei Mitglieder, und zwar stets eine Frau
und einen Mann. Alle Abgeordneten werden von ihrer Gruppe vorgeschlagen und
von der gesetzgebenden Versammlung bestätigt. Zudem gibt es etwa ein
Dutzend kurdischer und arabischer politischer Organisationen, die auch
finanziell unterstützt werden, ohne dass sie in der Versammlung
repräsentiert sind.
Die PKK sieht sich heute als antinationalistische Bewegung, strebt also
nicht mehr die Gründung eines kurdischen Nationalstaats an. Öcalan hat die
Ziele der PKK 2012 so definiert: „Sie beabsichtigt die Verwirklichung des
Selbstbestimmungsrechts der Völker durch die Ausweitung der Demokratie in
allen Teilen Kurdistans, ohne die bestehenden politischen Grenzen infrage
zu stellen.“ Das gilt auch für die syrische PYD: „Wir wollen uns nicht von
den anderen syrischen Gebieten abspalten“, betont Siham Queryo,
Ko-Präsidentin des Komitees für auswärtige Angelegenheiten der
Autonomieregierung im Kanton Cizre. „2013 einigten sich Kurden, Araber und
Syriaker in der Region darauf, eine autonome Regierung zu bilden. Anfangs
dachten wir nicht, dass das länger als vier Monate halten würde.“ Queryo
ist Christin, sie zählt sich zu den Syriakern und erwähnt nebenbei, dass es
in Rojova keine Staatsreligion gibt und die Religionsfreiheit garantiert
ist.
Die Syrische Nationalkoalition, die an sich ein Oppositionsbündnis sein
soll, tatsächlich aber der Muslimbruderschaft nahesteht, betrachtet die PYD
und deren militärischen Arm weiterhin als [2][„terroristische
Organisationen“], die mit der PKK in Verbindung stehen. Prominente
Vertreter der syrischen Opposition behaupten, die PYD spiele dem
Assad-Regime in die Hände, das sie militärisch nicht bekämpfen.
## Keine ethnischen Säuberungen
Doch einige haben ihre Meinung geändert. Zum Beispiel Bassam Ishak, ehemals
Exekutivdirektor einer Menschenrechtsorganisation aus Hasaka und einer der
Gründer des Syrischen Nationalrats, der zur Anti-Assad-Koalition gehört.
Heute setzt Ishak auf das Projekt Rojava: „Als die Revolution von
friedlichen Demonstrationen zum bewaffneten Aufstand überging, zeigte sich,
dass sie ein anderes Ziel verfolgten als ich. Diese Opposition will Assad
verjagen und dann die Macht monopolisieren. Mir blieb also die Wahl
zwischen dem religiösen Staat, den der Syrische Nationalrat anstrebt, ein
arabisch-nationalistisches Syrien oder ein pluralistisches System. Einen
neuen Diktator in Damaskus können wir am ehesten verhindern, indem wir die
Macht auf die verschiedenen Regionen verteilen.“
Wo immer wir mit Kurden ins Gespräch kommen, weist man den Vorwurf der
Zusammenarbeit mit Damaskus zurück und betont die strategischen Fehler der
Opposition. Der Lehrer Muslim Nabo hat mit Freunden eine klandestine
kurdischsprachige Zeitschrift publiziert. 2007 wurden sie verhaftet. Drei
Monate lang saßen sie in Damaskus in einer winzigen Zelle, ab und zu wurden
sie verprügelt. Nach einem Jahr und einer Woche, der maximalen Dauer für
Untersuchungshaft, wurde Nabo freigelassen. Heute empört er sich: „Manche
sagen, wir würden Assads Regime unterstützen. Das ist eine Lüge. Wir haben
sehr unter diesem Regime gelitten, das einige unserer politischen Führer
gefoltert und umgebracht hat.“ Nabo sagt, dass die kurdischen Parteien eine
gewaltsame Revolution ablehnen, die militärisch auf die Türkei,
Saudi-Arabien und Katar angewiesen wäre: „Die Unterstützung dieser Länder
für die dschihadistischen Gruppen war für die syrische Revolution eine
Katastrophe.“
2014 und 2015 geriet die Realpolitik der PYD in den vom IS befreiten
Gebieten allerdings in die Kritik internationaler humanitärer
Organisationen. Im Oktober 2015 erklärte Amnesty International zu den
Übergriffen in der Gegend von Tall Abyad: „Mit der mutwilligen Zerstörung
von Häusern, in einigen Fällen dem Niederbrennen ganzer Dörfer und der
Vertreibung von Bewohnern ohne militärische Rechtfertigung missbraucht die
Autonomieverwaltung ihre Macht und verstößt gegen internationales
humanitäres Recht; solche Angriffe sind Kriegsverbrechen gleichzusetzen.“
Ein Jahr zuvor hatte Human Rights Watch [3][über ähnliche Vorfälle
berichtet].
„Von ethnischen Säuberungen gegen Araber kann nicht die Rede sein“, sagt
Siham Queryo. „Vor Kampfhandlungen haben die YPG die Bewohner immer
aufgefordert, ihre Häuser vorübergehend zu verlassen. Ich habe viele
befreite Dörfer um Tall Abyad und Rakka nach den Schlachten besucht. Die
Leute haben mir alle erklärt, dass es sich genauso abgespielt hat. Nach 14
Tagen sind sie in ihre Häuser zurückgekehrt.“
Der Vorwurf ethnischer Säuberungen wird auch im [4][Report des
UN-Menschenrechtsrats] vom März 2017 zurückgewiesen: „Die Kommission hat
keine Beweise dafür gefunden, dass Kräfte der YPG oder der DKS jemals aus
ethnischen Gründen gezielt gegen arabische Gemeinschaften vorgegangen wären
oder dass die kantonalen Autoritäten der YPG versucht hätten, die
demografische Zusammensetzung der von ihnen kontrollierten Gebiete durch
Gewalttaten gegen bestimmte ethnische Gruppen systematisch zu verändern.“
Der Menschenrechtsrat bestätigt zwar, dass manche Umsiedlungen notwendig
gewesen seien, weil der IS das Gelände vermint hatte, kritisiert aber
„Zwangsrekrutierungen“ und dass die YPG keine „adäquate“ humanitäre H…
geleistet habe.
## Die Mauer zur Türkei
Wir verlassen Amude in Richtung Westen. Die Straße nach Kobani verläuft
entlang einer endlosen 500 Kilometer langen Mauer, für deren Bau die Türkei
syrisches Gebiet besetzt hat. Das mit Stacheldraht gesicherte Betongebilde
verstärkt das Gefühl der Isoliertheit. Die Gegend war seit jeher die
Getreidekammer Syriens. Jetzt im Juli sind die riesigen Weizenfelder längst
abgeerntet; Schafherden ziehen über die Stoppelfelder. Auf den Hügeln
wachsen junge Olivenbäume, die hier erst seit Kurzem angepflanzt werden.
Die meist jungen Landarbeiter sind sehr früh auf dem Feld, um der größten
Hitze zu entgehen. In der Nähe von Tall Abyad verläuft die Straße vorbei an
einem rauschenden Bach. Vor Kurzem war hier nur ein dünnes Rinnsal, aber
das hat sich geändert, seit die Türkei, um die Wassermengen des Euphrats zu
drosseln, die winterlichen Regenfälle in kleinere Flüsse leitet. Das kommt
der Bewässerung im syrischen Norden zugute.
Am Ortseingang von Kobani stehen wie in allen Städten der Region auf dem
Mittelstreifen große Stellwände mit den Fotos sogenannter Märtyrer,
darunter viele Frauen. Auch das Porträt Öcalans ist allgegenwärtig. Die
Stadt, die noch vor zwei Jahren weitgehend in Trümmern lag, macht einen
sehr lebendigen und dynamischen Eindruck. Zwischen zerstörten Häuserblöcken
ragen Kräne auf, wachsen Neubauten in die Höhe. „Wir wollen die Stadt
möglichst schnell wieder aufbauen, damit die Menschen zurückkommen“,
erklärt die Stadtplanerin Hawzin Azeez. Allerdings bleibe die humanitäre
Hilfe von außen hinter den Erwartungen und Ankündigungen zurück. So erfolgt
der Wiederaufbau „vorwiegend aus eigener Kraft“.
Die Schlacht um Kobani, die von September 2014 bis Januar 2015 dauerte, war
ein Wendepunkt im Kampf gegen den IS. Hier wurde die Expansion des
„Kalifats“ zum ersten Mal aufgehalten. Und die westliche Welt erfuhr von
einem neuen Rollenbild für Frauen im Nahen Osten.
## Ein neues Rollenbild für Frauen
Das Frauenhaus von Kobani heißt „Kongra Star“, wie die Frauenbewegung von
Rojava. Das große Gebäude liegt in einer ruhigen Nebenstraße. Im großen
Versammlungsraum hängt die Reproduktion eines Wandgemäldes von einem
Künstler aus Gaza: Eine junge Frau erhebt sich aus den Ruinen – ein Symbol
für Zukunft und Hoffnung. Daneben hängen Porträts von Frauen, die in der
Schlacht von Kobani umgekommen sind. Ein anderer Teil des Gebäudes, der
über einen diskreten Nebeneingang verfügt, dient als Zuflucht für
misshandelte und in Not geratene Frauen.
Die Leiterinnen des Hauses betonen die zentrale Bedeutung, die das Prinzip
der Gleichberechtigung für den Gesellschaftsvertrag von Rojava hat. „Die
Gesetze legen zum Beispiel fest, dass Sohn und Tochter zu gleichen Teilen
erben, das islamische Recht sieht für die Tochter nur den halben Anteil
vor“, erklärt Sarah al-Khali. „Es ist nicht einfach, diese neuen Regeln in
einer traditionellen Gesellschaft durchzusetzen. Doch nach und nach werden
sie von den Leuten akzeptiert.“
Die Autonomieregierung verbietet auch Polygamie, allerdings mit einer
Ausnahme: Wegen des „Mangels an jungen Männern“, erklärt eine andere
Mitarbeiterin von Kongra Star, würden sich einige Frauen auch auf eine Ehe
mit bereits verheirateten Männern einlassen: „Wenn alle Beteiligten
einverstanden sind, kann der Richter dieses Recht ausnahmsweise gewähren.“
Sarah al-Khali spricht ein weiteres Problem an: „In dieser Region gibt es
einen schrecklichen Brauch: die Blutrache.“ Sie berichtet stolz, dass das
Frauenhaus für die Ächtung sogenannter Ehrenmorde eintritt. „Wenn zum
Beispiel jemand deinen Bruder tötet, muss sich deine Familie rächen und ein
Mitglied der anderen Familie umbringen. Kongra Star hat ein
Versöhnungskomitee gegründet, um die Blutrache zu verhindern. Darin werden
Vertreter aus beiden Familien entsandt. Gibt es in einer Kommune ein
Problem, greift ein Frauenkomitee ein und versucht es zu lösen. Schaffen
sie es nicht, kommen sie hierher. Finden wir auch keine Lösung, landet der
Streitfall vor dem Gericht.“
## Kommunen für alle
Hier werden Prinzipien, die von Murray Bookchins Kommunalismus inspiriert
sind, in die Praxis umgesetzt. „Jede Straße, jedes Viertel kann eine
Kommune gründen“, erzählt Ibrahim Mussa. „Es ist eine Art Basisregierung,
die von den Einwohnern gewählt wird und wieder abgesetzt werden kann.
Letztes Jahr wurden im Kanton Kobani 2300 Kommunen registriert. Sie konnten
9700 Anzeigen bearbeiten. Nur 500 kamen vor Gericht.“ Mussa erwähnt ein
weiteres Beispiel: „In jedem Viertel überprüfen die Anwohner, ob das
Antimonopolgesetz eingehalten wird, damit die Händler das Embargo nicht
für Preistreibereien ausnutzen.“
In Kobani lässt sich auch studieren, wie schwer es ist, das Zusammenleben
verschiedener Bevölkerungsgruppen zu organisieren, die zwar im Kampf gegen
den IS vereint waren, aber ansonsten nicht unbedingt die gleichen Ansichten
teilen. Unter dem Assad-Regime wurde in den Schulen nur auf Arabisch
unterrichtet. Seit der umfassenden Schulreform sind die drei Amtssprachen –
Syrisch, Arabisch und Kurdisch – gleichberechtigt, erklärt uns Dildar
Kobani, der im kantonalen Bildungsausschuss sitzt: „Unsere Gesellschaft ist
ein Mosaik aus lauter bunten Rosen. Einige werfen uns vor, wir würden die
Gesellschaft ‚kurdisieren‘, das ist absurd. Die Hälfte der 20 000
Lehrkräfte ist arabisch. In Kobani ist der größere Teil der Verwaltung
kurdisch, wie die Bevölkerung. Aber in Tall Abyad, einer gemischten Region,
ist die Verwaltung zur Hälfte kurdisch, zur Hälfte arabisch.“
Unser vorletzter Halt ist Manbidsch. Die Stadt wurde im August 2016 von
DKS-Einheiten befreit, die es bei den Kämpfen gegen den IS auch mit
türkischen Truppen und der Freien Syrischen Armee (FSA) aufnehmen mussten.
Auf dem Suk sieht man Frauen mit Ganzkörperschleiern und mit und ohne
Kopftuch, kurdische Metzger, tscherkessische Bäcker und arabische
Obsthändler. Ein turkmenischer Pizzabäcker namens Ahmed fegt die
Behauptung vom Tisch, die turkmenische Bevölkerung sei für eine türkische
Intervention. „Wir leben hier zusammen wie Brüder. Die Beziehungen zwischen
den turkmenischen, kurdischen, arabischen und tschetschenischen
Gemeinschaften sind sehr gut. Es gibt sogar gemischte Ehen. Was soll denn
die Türkei hier zu suchen haben?“
Abeer al-Abud gehört zu dem großen arabischen Stamm der Bani Sultan. Sie
hat gute Chancen auf einen Sitz in der Zivilregierung von Manbidsch. Die
praktizierende Muslimin spricht sich ebenfalls gegen die mutmaßlichen Pläne
Ankaras aus: „Wir protestieren entschieden gegen die türkischen
Unterstellungen, die Kurden würden die arabischen, turkmenischen,
tschetschenischen und tscherkessischen Mitbürger unterdrücken. Im großen
Rat sind alle fünf Bevölkerungsgruppen vertreten, in allen anderen Gremien
haben die Araber die Mehrheit. Die Türkei versucht unserem Ansehen zu
schaden. Wenn sie die Kurden auf diesem Gebiet bekämpfen will, werden wir
Araber uns mit ihnen verbünden und unser Mosaik von Volksgruppen
verteidigen.“
## Schutz vor Rache und Selbstjustiz
Unweit des Markts begegnen wir Ali Hatem, einem Araber, der sein ganzes
Leben als Fahrer für ein Bauunternehmen gearbeitet hat. Jetzt verkauft er
Zigaretten, worauf unter dem Zwangsjoch des IS die Todesstrafe stand. Aber
schon vorher war es schlimm, als die Freie Syrische Armee und die
Al-Nusra-Front das Sagen hatten, erzählt Ali: „Sie mischten sich in alles
ein, wollten alles bestimmen. Außerdem haben sie uns bestohlen und sich
untereinander bekämpft. Aber unter dem IS war es noch schlimmer. Wir haben
uns nicht mehr getraut, uns offen zu unterhalten, wir dachten, die Wände
hören mit. Wenn wir heute ein Problem haben, gehen wir zum Stadtteilrat.“
Schon vor der Befreiung von Manbidsch hatten die Einwohner einen Zivilrat
mit allen Bevölkerungsgruppen gegründet, darunter die kurdische Minderheit,
die 30 Prozent der Bevölkerung ausmacht. Nach der Befreiung übertrug der
Militärrat der DKS alle politischen Kompetenzen an diesen Rat.
Die lokalen Behörden vor Ort müssen allerdings auch die dramatischen
Ereignisse der jüngeren Vergangenheit aufarbeiten, damit nicht neuer Hass
entsteht. Abeer Mahmud gehört dem Rat für Versöhnung und Integration an.
Seit ihr Mann vor drei Jahren vom IS verhaftet wurde, hat sie nichts mehr
von ihm gehört. Aber auch sie betont, wie notwendig das Bemühen um
Versöhnung sei.
„Als Manbidsch befreit wurde“, erzählt die Frau, „gingen viele Leute zu …
DKS, um Kollaborateure zu denunzieren. Die wurden dann vom Militärrat
festgenommen, um Racheakte ohne Gerichtsverhandlung zu verhindern. Im
Rahmen unserer Versöhnungsarbeit wurden 250 Männer, die kein Blut an den
Händen hatten, nach Fürsprache angesehener Persönlichkeiten und der
offiziellen Repräsentanten ihrer Bevölkerungsgruppe freigelassen. Die
Todesstrafe gibt es hier nicht.“ Dschihadisten, die wegen Bluttaten
angeklagt oder verurteilt sind, sitzen in Gefängnissen, in denen die von
den YPG unterzeichnete Genfer Konvention offiziell eingehalten wird.
## Eine Armee aus Jesiden, Arabern und Kurden
Auf der Straße nach Rakka halten wir in Ain Issa, dem Hauptquartier der
DKS. Ein Milizionär malt gerade mithilfe einer Schablone „Demokratische
Kräfte Syriens“ auf eine Mauer – auf Arabisch, Kurdisch und Syrisch
(Aramäisch). Die Autonomieregierung hat einen neunmonatigen Militärdienst
beschlossen. Dabei sind die meisten Kämpfer ohnehin freiwillig an der
Front. Unter ihnen finden sich auch Brigadisten aus dem Ausland wie Robert
Grodt. Der kalifornische Occupy-Aktivist kam am 6. Juli 2017 beim Sturm der
YPG auf einen Vorort von Rakka ums Leben.
Auf den kleinen Straßen des Kantons zirkulieren Militärkonvois mit leichten
Panzerfahrzeugen aus US-amerikanischen Beständen. Nach zwei Stunden Fahrt,
vorbei an zerstörten Gebäuden und verbrannten Autowracks, nähern wir uns
Rakka. Scharfschützen und Angriffe der Dschihadisten halten den Vormarsch
der DKS auf. Am Stadtrand sehen wir eine Garage, in der Leichtverletzte
provisorisch behandelt werden. Etwas weiter bereitet sich eine Gruppe
junger [5][Jesidinnen auf ihren Einsatz an der Front] vor. Eine von ihnen
erzählt uns, sie wolle Rache üben für alle Frauen, die in die Fänge des IS
geraten sind. „Egal ob die Gefangenen Jesidinnen, Araberinnen oder
Turkmeninnen sind – wir sind hierhergekommen, um sie zu befreien. Dann
gehen wir wieder nach Hause, wir sind keine Besatzungsmacht.“
Von der Dachterrasse des Häuserblocks, in dem die Kämpferinnen und Kämpfer
untergebracht sind, hat man eine eindrucksvolle Sicht auf die Stadt, in der
früher 200 000 Einwohner lebten. Die Straßen zwischen den zerstörten und
den noch intakten Häusern sind menschenleer. Das ganze Viertel wurde
vorsichtshalber evakuiert. Vereinzelt sind Schüsse und Explosionen zu
hören. Ein Stockwerk tiefer sitzt eine Gruppe von Kämpfern um eine große
Schüssel Reis mit Gemüse und Hühnerfleisch. Nur an den Uniformabzeichen
kann man die jesidische, arabische oder kurdische Zugehörigkeit erkennen.
Alle lauschen konzentriert den Funksprüchen aus der DKS-Kommandozentrale,
über die jedes Mitglied der Gruppe seine Anweisungen bekommt.
Die Pause dauert nicht lange. Der IS leistet erbitterten Widerstand. Seine
Niederlage scheint unabwendbar. Jenseits von Rakka stehen weitere Kämpfe
bevor. Und vielleicht wird man dann eines Tages auf den Landkarten der
Region tatsächlich die Namen Rojava oder Demokratische Föderation
Nordsyrien lesen.
Aus dem Französischen von Inga Frohn
15 Sep 2017
## LINKS
[1] http://www.thearabweekly.com/Opinion/9116/Kurdish-independence-prospect-cem…
[2] https://www.amnestyusa.org/reports/we-had-nowhere-else-to-go-forced-displac…
[3] https://www.hrw.org/news/2014/06/18/syria-abuses-kurdish-run-enclaves
[4] https://www.google.de/url?sa=t&rct=j&q=&esrc=s&source=web&a…
[5] https://monde-diplomatique.de/artikel/!5370261
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