| # taz.de -- Aus Le Monde diplomatique: Demokratische Enklave in Nordsyrien | |
| > Nach der Vertreibung des IS erklärten die kurdischen Parteien PKK und PYD | |
| > Rojava für autonom. Sie starteten ein politisches Experiment. | |
| Bild: Eine demokratische Konföderation, in der Kurden, Araber und Jesiden frie… | |
| Es ist Nacht, aber in Qamischli herrscht noch drückende Hitze. An dem | |
| kleinen Flughafen, der von Assads Polizisten und Soldaten kontrolliert | |
| wird, hat man uns rasch abgefertigt. Hier beginnt das Gebiet der | |
| Demokratischen Föderation Nordsyrien, das die Kurden Rojava (Westen) | |
| nennen. | |
| Mindestens 2 Millionen Menschen – zu 60 Prozent Kurden – wohnen in diesem | |
| Gebiet, das sich südlich der syrisch-türkischen Grenze vom Euphrat bis zur | |
| irakischen Grenze im Osten erstreckt. Seit Januar 2014 läuft in diesem Teil | |
| Syriens ein politisches Experiment, das Abdullah Öcalan angeregt hat, der | |
| seit 1999 in der Türkei inhaftierte Gründer der Arbeiterpartei Kurdistans | |
| (PKK). | |
| Im Mai 2005 haben sich die PKK und die mit ihr verbündete kurdisch-syrische | |
| Partei der Demokratischen Union (PYD) vom Marxismus-Leninismus | |
| verabschiedet und bekennen sich seitdem zum „demokratischen | |
| Konföderalismus“. Das Konzept geht auf den Ökoanarchisten Murray Bookchin | |
| (1921–2006) zurück, mit dessen Schriften sich Öcalan im Gefängnis intensiv | |
| auseinandergesetzt hat. Nachdem die kurdischen Kämpfer Ende 2013 das Gebiet | |
| vom „Islamischen Staat“ (IS) zurückerobert hatten, erklärte die PYD im | |
| Januar 2014 die drei unter ihrer Kontrolle stehenden Kantone Afrin, Kobani | |
| und Cizre zu autonomen Gebieten und verabschiedete den | |
| „Gesellschaftsvertrag der Demokratischen Föderation Nordsyrien“. Mit diesem | |
| Dokument erteilen sie dem Nationalstaatsprinzip ein Absage. Ihr erklärtes | |
| Ziel ist eine egalitäre, paritätisch organisierte und Minderheitenrechte | |
| schützende Gesellschaftsform. | |
| In der ganzen Region, mit Ausnahme von zwei Enklaven nördlich von Hasaka | |
| und dem von Damaskus kontrollierten Flughafen von Qamischli, haben die | |
| Demokratischen Kräfte Syriens (DKS) das Sagen: Zu diesem Militärbündnis | |
| gehören aber nicht nur die kurdischen Kämpferinnen und Kämpfer der | |
| Volksverteidigungseinheiten (YPG) und der Frauenverteidigungseinheiten | |
| (YPJ), sondern auch Kontingente sunnitischer, jesidischer und christlicher | |
| Milizen. | |
| ## Von Selbstmordattentätern bedroht | |
| In Quamischli gibt es überall Straßensperren, an denen Sicherheitskräfte | |
| unter riesigen YPG-Fahnen sämtliche Fahrzeuge akribisch durchsuchen. | |
| Dschihadistische Selbstmordattentäter stellen eine ständige Bedrohung dar, | |
| seit am 27. Juli 2016 bei einem Anschlag 44 Menschen getötet und 140 | |
| verletzt wurden. In auffälligem Kontrast zu den voll beleuchteten Städten | |
| Nusaybin und Mardin jenseits der türkischen Grenze brennt in den Straßen | |
| von Quamischli kein Licht. Die Energiefrage ist in dieser an sich | |
| rohstoffreichen Region nur eine von vielen Herausforderungen für die neuen | |
| Autoritäten. In Rumailan, 100 Kilometer weiter auf der Landstraße Richtung | |
| Irak, sehen wir vor den Tankstellen lange Warteschlangen. | |
| Bis zum Beginn des Kriegs vor sechs Jahren wurden in dieser Gegend täglich | |
| 380.000 Barrel Rohöl gefördert, das war ein Drittel der syrischen | |
| Gesamtproduktion. Wegen der Kämpfe ist das Volumen um 70 Prozent | |
| eingebrochen; seitdem herrscht massiver Kraftstoffmangel. Da die | |
| Autonomieregierung keine eigenen Raffinerien besitzt, ist sie gezwungen, | |
| einen Teil des Rohöls an das syrische Regime zu verkaufen, das dafür | |
| Kraftstoff zum überteuerten Literpreis von 80 Cent liefert. | |
| Zwar gibt es viele lokale Raffinerien, die sich in der Benzinherstellung | |
| versuchen. Aber der Stoff, den sie für 20 Cent pro Liter verkaufen, ist | |
| gefährlich: Schwarzer Rauch hängt über dem Land; die Menschen klagen | |
| zunehmend über Hautkrankheiten und Atemprobleme. „Wir haben zurzeit keine | |
| andere Lösung“, gesteht Samer Hussein, die Beauftragte des | |
| Energieausschusses mit Sitz in Rumailan. „Sobald wir dazu in der Lage sind, | |
| bauen wir moderne Raffinerien, die nicht die Luft verpesten. Und natürlich | |
| stellen wir dann auch die Leute aus den kleinen Raffinerien in den neuen | |
| Fabriken ein.“ | |
| Als in anderen Regionen Rojavas die Benzinklitschen verboten wurden, | |
| protestierte die Bevölkerung, der man bereits den Strom rationiert hatte. | |
| Und das trotz der Rückeroberung der drei wichtigsten Euphrat-Staudämme, wo | |
| die Turbinen allerdings weniger Strom produzieren. Das liegt vor allem an | |
| der Türkei, die den Euphrat flussaufwärts kontrolliert. „Ankara hält sich | |
| nicht mehr an seine Verpflichtung, einen Durchfluss von 600 Kubikmetern pro | |
| Sekunde zu gewährleisten“, berichtet Ziad Rustem, Ingenieur und | |
| Beauftragter des Energieausschusses im Kanton Dschasira: „Als die Staudämme | |
| noch vom IS kontrolliert wurden, ließ die Türkei mehr Wasser durch; seitdem | |
| sie von den Demokratischen Kräfte Syriens befreit wurden, hat Ankara die | |
| Wassermenge reduziert. Zurzeit beträgt der Zufluss weniger als 200 | |
| Kubikmeter pro Sekunde.“ | |
| ## Leben unter dem Embargo | |
| Der Journalist Sherwan Youssef, der bei dem kurdischen Fernsehsender Ronahi | |
| TV arbeitet, war bei den Stromprotesten dabei: „In Qamischli sind einige | |
| hundert Menschen auf die Straße gegangen. Sie geben zwar der | |
| Autonomieregierung die Schuld und nicht der Türkei. Aber ich finde die | |
| Demonstrationen trotzdem richtig. Kritik muss erlaubt sein. Die Regierung | |
| sollte den Krieg nicht ständig als Entschuldigung für die mangelnde | |
| Versorgung benutzen.“ | |
| Im Gesellschaftsvertrag wird der Umweltschutz zwar hochgehalten, doch die | |
| Umsetzung sei gerade schwierig, erklären unsere Gesprächspartner. Wie soll | |
| man auch neue Raffinerien bauen, die Wasserkraftwerke modernisieren oder | |
| die Entwicklung erneuerbarer Energien vorantreiben, wenn nicht nur die | |
| Türkei, sondern selbst ein Verbündeter wie die im Nordirak dominierende | |
| Demokratische Partei Kurdistans (PDK) ein Embargo über Rojava verhängt | |
| haben? | |
| Doch weder diese drängenden Probleme noch die anhaltenden Kämpfe konnten | |
| das kurdische Projekt in Nordsyrien aufhalten. Die drei Kantone Afrin, | |
| Kobani und Cizre verfügen jeweils über eine gesetzgebende Versammlung und | |
| eine eigene Kantonsregierung. Später sollen die drei Kantone, die ihre | |
| Politik schon jetzt koordinieren, von einem Demokratischen Rat Syriens | |
| verwaltet werden. Die ersten Wahlen fanden im März 2015 statt, weitere sind | |
| für Ende 2017 vorgesehen und Anfang 2018 sollen die Abgeordneten für die | |
| gesetzgebenden Versammlungen gewählt werden. | |
| Kurden, die der PDK nahestehen, haben allerdings die Wahlen boykottiert. | |
| Das gilt etwa für Narin Matini, die im Vorstand der Partei der Kurdischen | |
| Zukunftsbewegung in Syrien und im Kurdischen Nationalrat (KNR) sitzt. Der | |
| KNR ist eine Koalition kurdischer Gruppen unter Vorsitz von Masud Barzani, | |
| dem Präsidenten der Autonomen Region Kurdistan im Nordirak, die am 25. | |
| September ein [1][Referendum über ihre Unabhängigkeit] geplant hat. | |
| ## Eine antinationalistische Bewegung | |
| Wir treffen Matini in ihrem Haus im Arbeiterviertel von Qamischli. „Unser | |
| Projekt ist ein kurdisches Nationalprojekt, ein unabhängiges Kurdistan“, | |
| erklärt sie. „Wir teilen die Vorstellungen der Demokratischen Föderation | |
| Nordsyrien nicht. Die Behörden haben unsere Büros geschlossen und unsere | |
| Vorsitzenden festgenommen. Sie haben sie zwar wieder freigelassen. Aber die | |
| Autonomieregierung verlangt, dass wir uns als Partei registrieren lassen. | |
| Doch das würde bedeuten, dass wir sie anerkennen.“ | |
| Die gesetzgebende Versammlung von Cizre hat ihren Sitz in Amude, etwa 20 | |
| Kilometer von Qamischli entfernt. Das Gebäude ist stark bewacht; am Eingang | |
| werden unsere Taschen und Ausweise kontrolliert. Das Gremium hat 100 | |
| Mitglieder, zur Hälfte Frauen, alle gehören politischen Parteien an, die | |
| den Gesellschaftsvertrag unterzeichnet haben. Auch zivilgesellschaftliche | |
| Vereinigungen entsenden jeweils zwei Mitglieder, und zwar stets eine Frau | |
| und einen Mann. Alle Abgeordneten werden von ihrer Gruppe vorgeschlagen und | |
| von der gesetzgebenden Versammlung bestätigt. Zudem gibt es etwa ein | |
| Dutzend kurdischer und arabischer politischer Organisationen, die auch | |
| finanziell unterstützt werden, ohne dass sie in der Versammlung | |
| repräsentiert sind. | |
| Die PKK sieht sich heute als antinationalistische Bewegung, strebt also | |
| nicht mehr die Gründung eines kurdischen Nationalstaats an. Öcalan hat die | |
| Ziele der PKK 2012 so definiert: „Sie beabsichtigt die Verwirklichung des | |
| Selbstbestimmungsrechts der Völker durch die Ausweitung der Demokratie in | |
| allen Teilen Kurdistans, ohne die bestehenden politischen Grenzen infrage | |
| zu stellen.“ Das gilt auch für die syrische PYD: „Wir wollen uns nicht von | |
| den anderen syrischen Gebieten abspalten“, betont Siham Queryo, | |
| Ko-Präsidentin des Komitees für auswärtige Angelegenheiten der | |
| Autonomieregierung im Kanton Cizre. „2013 einigten sich Kurden, Araber und | |
| Syriaker in der Region darauf, eine autonome Regierung zu bilden. Anfangs | |
| dachten wir nicht, dass das länger als vier Monate halten würde.“ Queryo | |
| ist Christin, sie zählt sich zu den Syriakern und erwähnt nebenbei, dass es | |
| in Rojova keine Staatsreligion gibt und die Religionsfreiheit garantiert | |
| ist. | |
| Die Syrische Nationalkoalition, die an sich ein Oppositionsbündnis sein | |
| soll, tatsächlich aber der Muslimbruderschaft nahesteht, betrachtet die PYD | |
| und deren militärischen Arm weiterhin als [2][„terroristische | |
| Organisationen“], die mit der PKK in Verbindung stehen. Prominente | |
| Vertreter der syrischen Opposition behaupten, die PYD spiele dem | |
| Assad-Regime in die Hände, das sie militärisch nicht bekämpfen. | |
| ## Keine ethnischen Säuberungen | |
| Doch einige haben ihre Meinung geändert. Zum Beispiel Bassam Ishak, ehemals | |
| Exekutivdirektor einer Menschenrechtsorganisation aus Hasaka und einer der | |
| Gründer des Syrischen Nationalrats, der zur Anti-Assad-Koalition gehört. | |
| Heute setzt Ishak auf das Projekt Rojava: „Als die Revolution von | |
| friedlichen Demonstrationen zum bewaffneten Aufstand überging, zeigte sich, | |
| dass sie ein anderes Ziel verfolgten als ich. Diese Opposition will Assad | |
| verjagen und dann die Macht monopolisieren. Mir blieb also die Wahl | |
| zwischen dem religiösen Staat, den der Syrische Nationalrat anstrebt, ein | |
| arabisch-nationalistisches Syrien oder ein pluralistisches System. Einen | |
| neuen Diktator in Damaskus können wir am ehesten verhindern, indem wir die | |
| Macht auf die verschiedenen Regionen verteilen.“ | |
| Wo immer wir mit Kurden ins Gespräch kommen, weist man den Vorwurf der | |
| Zusammenarbeit mit Damaskus zurück und betont die strategischen Fehler der | |
| Opposition. Der Lehrer Muslim Nabo hat mit Freunden eine klandestine | |
| kurdischsprachige Zeitschrift publiziert. 2007 wurden sie verhaftet. Drei | |
| Monate lang saßen sie in Damaskus in einer winzigen Zelle, ab und zu wurden | |
| sie verprügelt. Nach einem Jahr und einer Woche, der maximalen Dauer für | |
| Untersuchungshaft, wurde Nabo freigelassen. Heute empört er sich: „Manche | |
| sagen, wir würden Assads Regime unterstützen. Das ist eine Lüge. Wir haben | |
| sehr unter diesem Regime gelitten, das einige unserer politischen Führer | |
| gefoltert und umgebracht hat.“ Nabo sagt, dass die kurdischen Parteien eine | |
| gewaltsame Revolution ablehnen, die militärisch auf die Türkei, | |
| Saudi-Arabien und Katar angewiesen wäre: „Die Unterstützung dieser Länder | |
| für die dschihadistischen Gruppen war für die syrische Revolution eine | |
| Katastrophe.“ | |
| 2014 und 2015 geriet die Realpolitik der PYD in den vom IS befreiten | |
| Gebieten allerdings in die Kritik internationaler humanitärer | |
| Organisationen. Im Oktober 2015 erklärte Amnesty International zu den | |
| Übergriffen in der Gegend von Tall Abyad: „Mit der mutwilligen Zerstörung | |
| von Häusern, in einigen Fällen dem Niederbrennen ganzer Dörfer und der | |
| Vertreibung von Bewohnern ohne militärische Rechtfertigung missbraucht die | |
| Autonomieverwaltung ihre Macht und verstößt gegen internationales | |
| humanitäres Recht; solche Angriffe sind Kriegsverbrechen gleichzusetzen.“ | |
| Ein Jahr zuvor hatte Human Rights Watch [3][über ähnliche Vorfälle | |
| berichtet]. | |
| „Von ethnischen Säuberungen gegen Araber kann nicht die Rede sein“, sagt | |
| Siham Queryo. „Vor Kampfhandlungen haben die YPG die Bewohner immer | |
| aufgefordert, ihre Häuser vorübergehend zu verlassen. Ich habe viele | |
| befreite Dörfer um Tall Abyad und Rakka nach den Schlachten besucht. Die | |
| Leute haben mir alle erklärt, dass es sich genauso abgespielt hat. Nach 14 | |
| Tagen sind sie in ihre Häuser zurückgekehrt.“ | |
| Der Vorwurf ethnischer Säuberungen wird auch im [4][Report des | |
| UN-Menschenrechtsrats] vom März 2017 zurückgewiesen: „Die Kommission hat | |
| keine Beweise dafür gefunden, dass Kräfte der YPG oder der DKS jemals aus | |
| ethnischen Gründen gezielt gegen arabische Gemeinschaften vorgegangen wären | |
| oder dass die kantonalen Autoritäten der YPG versucht hätten, die | |
| demografische Zusammensetzung der von ihnen kontrollierten Gebiete durch | |
| Gewalttaten gegen bestimmte ethnische Gruppen systematisch zu verändern.“ | |
| Der Menschenrechtsrat bestätigt zwar, dass manche Umsiedlungen notwendig | |
| gewesen seien, weil der IS das Gelände vermint hatte, kritisiert aber | |
| „Zwangsrekrutierungen“ und dass die YPG keine „adäquate“ humanitäre H… | |
| geleistet habe. | |
| ## Die Mauer zur Türkei | |
| Wir verlassen Amude in Richtung Westen. Die Straße nach Kobani verläuft | |
| entlang einer endlosen 500 Kilometer langen Mauer, für deren Bau die Türkei | |
| syrisches Gebiet besetzt hat. Das mit Stacheldraht gesicherte Betongebilde | |
| verstärkt das Gefühl der Isoliertheit. Die Gegend war seit jeher die | |
| Getreidekammer Syriens. Jetzt im Juli sind die riesigen Weizenfelder längst | |
| abgeerntet; Schafherden ziehen über die Stoppelfelder. Auf den Hügeln | |
| wachsen junge Olivenbäume, die hier erst seit Kurzem angepflanzt werden. | |
| Die meist jungen Landarbeiter sind sehr früh auf dem Feld, um der größten | |
| Hitze zu entgehen. In der Nähe von Tall Abyad verläuft die Straße vorbei an | |
| einem rauschenden Bach. Vor Kurzem war hier nur ein dünnes Rinnsal, aber | |
| das hat sich geändert, seit die Türkei, um die Wassermengen des Euphrats zu | |
| drosseln, die winterlichen Regenfälle in kleinere Flüsse leitet. Das kommt | |
| der Bewässerung im syrischen Norden zugute. | |
| Am Ortseingang von Kobani stehen wie in allen Städten der Region auf dem | |
| Mittelstreifen große Stellwände mit den Fotos sogenannter Märtyrer, | |
| darunter viele Frauen. Auch das Porträt Öcalans ist allgegenwärtig. Die | |
| Stadt, die noch vor zwei Jahren weitgehend in Trümmern lag, macht einen | |
| sehr lebendigen und dynamischen Eindruck. Zwischen zerstörten Häuserblöcken | |
| ragen Kräne auf, wachsen Neubauten in die Höhe. „Wir wollen die Stadt | |
| möglichst schnell wieder aufbauen, damit die Menschen zurückkommen“, | |
| erklärt die Stadtplanerin Hawzin Azeez. Allerdings bleibe die humanitäre | |
| Hilfe von außen hinter den Erwartungen und Ankündigungen zurück. So erfolgt | |
| der Wiederaufbau „vorwiegend aus eigener Kraft“. | |
| Die Schlacht um Kobani, die von September 2014 bis Januar 2015 dauerte, war | |
| ein Wendepunkt im Kampf gegen den IS. Hier wurde die Expansion des | |
| „Kalifats“ zum ersten Mal aufgehalten. Und die westliche Welt erfuhr von | |
| einem neuen Rollenbild für Frauen im Nahen Osten. | |
| ## Ein neues Rollenbild für Frauen | |
| Das Frauenhaus von Kobani heißt „Kongra Star“, wie die Frauenbewegung von | |
| Rojava. Das große Gebäude liegt in einer ruhigen Nebenstraße. Im großen | |
| Versammlungsraum hängt die Reproduktion eines Wandgemäldes von einem | |
| Künstler aus Gaza: Eine junge Frau erhebt sich aus den Ruinen – ein Symbol | |
| für Zukunft und Hoffnung. Daneben hängen Porträts von Frauen, die in der | |
| Schlacht von Kobani umgekommen sind. Ein anderer Teil des Gebäudes, der | |
| über einen diskreten Nebeneingang verfügt, dient als Zuflucht für | |
| misshandelte und in Not geratene Frauen. | |
| Die Leiterinnen des Hauses betonen die zentrale Bedeutung, die das Prinzip | |
| der Gleichberechtigung für den Gesellschaftsvertrag von Rojava hat. „Die | |
| Gesetze legen zum Beispiel fest, dass Sohn und Tochter zu gleichen Teilen | |
| erben, das islamische Recht sieht für die Tochter nur den halben Anteil | |
| vor“, erklärt Sarah al-Khali. „Es ist nicht einfach, diese neuen Regeln in | |
| einer traditionellen Gesellschaft durchzusetzen. Doch nach und nach werden | |
| sie von den Leuten akzeptiert.“ | |
| Die Autonomieregierung verbietet auch Polygamie, allerdings mit einer | |
| Ausnahme: Wegen des „Mangels an jungen Männern“, erklärt eine andere | |
| Mitarbeiterin von Kongra Star, würden sich einige Frauen auch auf eine Ehe | |
| mit bereits verheirateten Männern einlassen: „Wenn alle Beteiligten | |
| einverstanden sind, kann der Richter dieses Recht ausnahmsweise gewähren.“ | |
| Sarah al-Khali spricht ein weiteres Problem an: „In dieser Region gibt es | |
| einen schrecklichen Brauch: die Blutrache.“ Sie berichtet stolz, dass das | |
| Frauenhaus für die Ächtung sogenannter Ehrenmorde eintritt. „Wenn zum | |
| Beispiel jemand deinen Bruder tötet, muss sich deine Familie rächen und ein | |
| Mitglied der anderen Familie umbringen. Kongra Star hat ein | |
| Versöhnungskomitee gegründet, um die Blutrache zu verhindern. Darin werden | |
| Vertreter aus beiden Familien entsandt. Gibt es in einer Kommune ein | |
| Problem, greift ein Frauenkomitee ein und versucht es zu lösen. Schaffen | |
| sie es nicht, kommen sie hierher. Finden wir auch keine Lösung, landet der | |
| Streitfall vor dem Gericht.“ | |
| ## Kommunen für alle | |
| Hier werden Prinzipien, die von Murray Bookchins Kommunalismus inspiriert | |
| sind, in die Praxis umgesetzt. „Jede Straße, jedes Viertel kann eine | |
| Kommune gründen“, erzählt Ibrahim Mussa. „Es ist eine Art Basisregierung, | |
| die von den Einwohnern gewählt wird und wieder abgesetzt werden kann. | |
| Letztes Jahr wurden im Kanton Kobani 2300 Kommunen registriert. Sie konnten | |
| 9700 Anzeigen bearbeiten. Nur 500 kamen vor Gericht.“ Mussa erwähnt ein | |
| weiteres Beispiel: „In jedem Viertel überprüfen die Anwohner, ob das | |
| Antimonopolgesetz eingehalten wird, damit die Händler das Embargo nicht | |
| für Preistreibereien ausnutzen.“ | |
| In Kobani lässt sich auch studieren, wie schwer es ist, das Zusammenleben | |
| verschiedener Bevölkerungsgruppen zu organisieren, die zwar im Kampf gegen | |
| den IS vereint waren, aber ansonsten nicht unbedingt die gleichen Ansichten | |
| teilen. Unter dem Assad-Regime wurde in den Schulen nur auf Arabisch | |
| unterrichtet. Seit der umfassenden Schulreform sind die drei Amtssprachen – | |
| Syrisch, Arabisch und Kurdisch – gleichberechtigt, erklärt uns Dildar | |
| Kobani, der im kantonalen Bildungsausschuss sitzt: „Unsere Gesellschaft ist | |
| ein Mosaik aus lauter bunten Rosen. Einige werfen uns vor, wir würden die | |
| Gesellschaft ‚kurdisieren‘, das ist absurd. Die Hälfte der 20 000 | |
| Lehrkräfte ist arabisch. In Kobani ist der größere Teil der Verwaltung | |
| kurdisch, wie die Bevölkerung. Aber in Tall Abyad, einer gemischten Region, | |
| ist die Verwaltung zur Hälfte kurdisch, zur Hälfte arabisch.“ | |
| Unser vorletzter Halt ist Manbidsch. Die Stadt wurde im August 2016 von | |
| DKS-Einheiten befreit, die es bei den Kämpfen gegen den IS auch mit | |
| türkischen Truppen und der Freien Syrischen Armee (FSA) aufnehmen mussten. | |
| Auf dem Suk sieht man Frauen mit Ganzkörperschleiern und mit und ohne | |
| Kopftuch, kurdische Metzger, tscherkessische Bäcker und arabische | |
| Obsthändler. Ein turkmenischer Pizzabäcker namens Ahmed fegt die | |
| Behauptung vom Tisch, die turkmenische Bevölkerung sei für eine türkische | |
| Intervention. „Wir leben hier zusammen wie Brüder. Die Beziehungen zwischen | |
| den turkmenischen, kurdischen, arabischen und tschetschenischen | |
| Gemeinschaften sind sehr gut. Es gibt sogar gemischte Ehen. Was soll denn | |
| die Türkei hier zu suchen haben?“ | |
| Abeer al-Abud gehört zu dem großen arabischen Stamm der Bani Sultan. Sie | |
| hat gute Chancen auf einen Sitz in der Zivilregierung von Manbidsch. Die | |
| praktizierende Muslimin spricht sich ebenfalls gegen die mutmaßlichen Pläne | |
| Ankaras aus: „Wir protestieren entschieden gegen die türkischen | |
| Unterstellungen, die Kurden würden die arabischen, turkmenischen, | |
| tschetschenischen und tscherkessischen Mitbürger unterdrücken. Im großen | |
| Rat sind alle fünf Bevölkerungsgruppen vertreten, in allen anderen Gremien | |
| haben die Araber die Mehrheit. Die Türkei versucht unserem Ansehen zu | |
| schaden. Wenn sie die Kurden auf diesem Gebiet bekämpfen will, werden wir | |
| Araber uns mit ihnen verbünden und unser Mosaik von Volksgruppen | |
| verteidigen.“ | |
| ## Schutz vor Rache und Selbstjustiz | |
| Unweit des Markts begegnen wir Ali Hatem, einem Araber, der sein ganzes | |
| Leben als Fahrer für ein Bauunternehmen gearbeitet hat. Jetzt verkauft er | |
| Zigaretten, worauf unter dem Zwangsjoch des IS die Todesstrafe stand. Aber | |
| schon vorher war es schlimm, als die Freie Syrische Armee und die | |
| Al-Nusra-Front das Sagen hatten, erzählt Ali: „Sie mischten sich in alles | |
| ein, wollten alles bestimmen. Außerdem haben sie uns bestohlen und sich | |
| untereinander bekämpft. Aber unter dem IS war es noch schlimmer. Wir haben | |
| uns nicht mehr getraut, uns offen zu unterhalten, wir dachten, die Wände | |
| hören mit. Wenn wir heute ein Problem haben, gehen wir zum Stadtteilrat.“ | |
| Schon vor der Befreiung von Manbidsch hatten die Einwohner einen Zivilrat | |
| mit allen Bevölkerungsgruppen gegründet, darunter die kurdische Minderheit, | |
| die 30 Prozent der Bevölkerung ausmacht. Nach der Befreiung übertrug der | |
| Militärrat der DKS alle politischen Kompetenzen an diesen Rat. | |
| Die lokalen Behörden vor Ort müssen allerdings auch die dramatischen | |
| Ereignisse der jüngeren Vergangenheit aufarbeiten, damit nicht neuer Hass | |
| entsteht. Abeer Mahmud gehört dem Rat für Versöhnung und Integration an. | |
| Seit ihr Mann vor drei Jahren vom IS verhaftet wurde, hat sie nichts mehr | |
| von ihm gehört. Aber auch sie betont, wie notwendig das Bemühen um | |
| Versöhnung sei. | |
| „Als Manbidsch befreit wurde“, erzählt die Frau, „gingen viele Leute zu … | |
| DKS, um Kollaborateure zu denunzieren. Die wurden dann vom Militärrat | |
| festgenommen, um Racheakte ohne Gerichtsverhandlung zu verhindern. Im | |
| Rahmen unserer Versöhnungsarbeit wurden 250 Männer, die kein Blut an den | |
| Händen hatten, nach Fürsprache angesehener Persönlichkeiten und der | |
| offiziellen Repräsentanten ihrer Bevölkerungsgruppe freigelassen. Die | |
| Todesstrafe gibt es hier nicht.“ Dschihadisten, die wegen Bluttaten | |
| angeklagt oder verurteilt sind, sitzen in Gefängnissen, in denen die von | |
| den YPG unterzeichnete Genfer Konvention offiziell eingehalten wird. | |
| ## Eine Armee aus Jesiden, Arabern und Kurden | |
| Auf der Straße nach Rakka halten wir in Ain Issa, dem Hauptquartier der | |
| DKS. Ein Milizionär malt gerade mithilfe einer Schablone „Demokratische | |
| Kräfte Syriens“ auf eine Mauer – auf Arabisch, Kurdisch und Syrisch | |
| (Aramäisch). Die Autonomieregierung hat einen neunmonatigen Militärdienst | |
| beschlossen. Dabei sind die meisten Kämpfer ohnehin freiwillig an der | |
| Front. Unter ihnen finden sich auch Brigadisten aus dem Ausland wie Robert | |
| Grodt. Der kalifornische Occupy-Aktivist kam am 6. Juli 2017 beim Sturm der | |
| YPG auf einen Vorort von Rakka ums Leben. | |
| Auf den kleinen Straßen des Kantons zirkulieren Militärkonvois mit leichten | |
| Panzerfahrzeugen aus US-amerikanischen Beständen. Nach zwei Stunden Fahrt, | |
| vorbei an zerstörten Gebäuden und verbrannten Autowracks, nähern wir uns | |
| Rakka. Scharfschützen und Angriffe der Dschihadisten halten den Vormarsch | |
| der DKS auf. Am Stadtrand sehen wir eine Garage, in der Leichtverletzte | |
| provisorisch behandelt werden. Etwas weiter bereitet sich eine Gruppe | |
| junger [5][Jesidinnen auf ihren Einsatz an der Front] vor. Eine von ihnen | |
| erzählt uns, sie wolle Rache üben für alle Frauen, die in die Fänge des IS | |
| geraten sind. „Egal ob die Gefangenen Jesidinnen, Araberinnen oder | |
| Turkmeninnen sind – wir sind hierhergekommen, um sie zu befreien. Dann | |
| gehen wir wieder nach Hause, wir sind keine Besatzungsmacht.“ | |
| Von der Dachterrasse des Häuserblocks, in dem die Kämpferinnen und Kämpfer | |
| untergebracht sind, hat man eine eindrucksvolle Sicht auf die Stadt, in der | |
| früher 200 000 Einwohner lebten. Die Straßen zwischen den zerstörten und | |
| den noch intakten Häusern sind menschenleer. Das ganze Viertel wurde | |
| vorsichtshalber evakuiert. Vereinzelt sind Schüsse und Explosionen zu | |
| hören. Ein Stockwerk tiefer sitzt eine Gruppe von Kämpfern um eine große | |
| Schüssel Reis mit Gemüse und Hühnerfleisch. Nur an den Uniformabzeichen | |
| kann man die jesidische, arabische oder kurdische Zugehörigkeit erkennen. | |
| Alle lauschen konzentriert den Funksprüchen aus der DKS-Kommandozentrale, | |
| über die jedes Mitglied der Gruppe seine Anweisungen bekommt. | |
| Die Pause dauert nicht lange. Der IS leistet erbitterten Widerstand. Seine | |
| Niederlage scheint unabwendbar. Jenseits von Rakka stehen weitere Kämpfe | |
| bevor. Und vielleicht wird man dann eines Tages auf den Landkarten der | |
| Region tatsächlich die Namen Rojava oder Demokratische Föderation | |
| Nordsyrien lesen. | |
| Aus dem Französischen von Inga Frohn | |
| 15 Sep 2017 | |
| ## LINKS | |
| [1] http://www.thearabweekly.com/Opinion/9116/Kurdish-independence-prospect-cem… | |
| [2] https://www.amnestyusa.org/reports/we-had-nowhere-else-to-go-forced-displac… | |
| [3] https://www.hrw.org/news/2014/06/18/syria-abuses-kurdish-run-enclaves | |
| [4] https://www.google.de/url?sa=t&rct=j&q=&esrc=s&source=web&a… | |
| [5] https://monde-diplomatique.de/artikel/!5370261 | |
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| Doppelanschlag im Südirak: Behörden melden Dutzende Tote | |
| Bei einem Doppelanschlag im Südirak sind mindestens 50 Menschen gestorben | |
| und 90 verletzt worden. Der IS hat den Anschlag für sich reklamiert. | |
| Pressefreiheit in der Türkei: Verhafteter Journalist #164 | |
| Der Franzose Loup Bureau wurde in der Türkei festgenommen. Der Grund: Vor | |
| drei Jahren berichtete er über die syrische Kurdenmiliz YPG. | |
| Dimension der Kurdenfrage: Die Lösung liegt in Syrien | |
| Die Frage nach dem Status der Kurden ist längst keine innere Angelegenheit | |
| mehr für die Türkei. Sie muss den Blick nach Syrien richten, und in die | |
| Welt. | |
| Regionalmacht im Nordirak: Innerer Konflikt | |
| Im Nordirak herrschen die Kurden seit Langem. Ihr Verhältnis zu den Kurden | |
| in Syrien und der Türkei ist angespannt. | |
| Interview mit PYD-Chef: „Erdoğan hat nie gegen den IS gekämpft“ | |
| Salih Muslim, Kovorsitzender der kurdischen Partei in Syrien (PYD), | |
| beurteilt die Syrien-Politik der Türkei und berichtet von den eigenen | |
| Zielen. |