# taz.de -- Dimension der Kurdenfrage: Die Lösung liegt in Syrien | |
> Die Frage nach dem Status der Kurden ist längst keine innere | |
> Angelegenheit mehr für die Türkei. Sie muss den Blick nach Syrien | |
> richten, und in die Welt. | |
Bild: keine Chance auf Friedensbildung? | |
Wie es mit der kurdischen Frage jetzt weitergehen soll und wo eine mögliche | |
Lösung liegt, ist in Gesprächen das Hauptthema unter Kurden. 2013 hatten | |
die zeitweiligen Verhandlungen zwischen PKK und dem türkischen Staat für | |
Hoffnung gesorgt, in der Phase kam man dem Frieden näher als je zuvor. | |
Diese zweijährige Erfahrung nährt die Hoffnungen nach wie vor. Obwohl der | |
Prozess endete, und man zum Klima der Gewalt zurückkehrte. Die Hoffnungen | |
und Erwartungen wurden auf die Zeit nach dem Referendum verschoben. Jetzt | |
aber scheint die erwartete Lösung statt in der Türkei in Syrien | |
einzukehren. | |
HDP-Sprecher Osman Baydemir ist der Auffassung, die Kurden hätten beim | |
Referendum ihr Nein zum Abbruch der Verhandlungen erteilt, die Regierung | |
habe aber die darin enthaltene Botschaft nicht „richtig“ gelesen. | |
Ein neuer Lösungsprozess stehe kurzfristig nicht an, darin stimmt der | |
Wissenschaftler Vahap Coşkun von der Dicle-Universität mit Baydemir | |
überein. Coşkun zufolge gibt es Voraussetzungen für einen solchen Prozess, | |
die wichtigste davon liege in Syrien. Denn die kurdische Frage ist längst | |
nicht nur eine innere Angelegenheit der Türkei, sie hat die Grenzen | |
überschritten und eine internationale Dimension bekommen. | |
## „Kurdenfeindliche“ Politik | |
Mehmet Kaya, Vorstandsvorsitzender des Zentrums für Sozialstudien in Dicle, | |
kritisiert diese Politik der Türkei als „kurdenfeindlich“. Halte man an | |
dieser Politik fest, rücke eine neue Lösungsphase auch im Inland in weite | |
Ferne, betont er und ergänzt: „Die Verhandlungen finden in Syrien statt. | |
Verhandlungen in der Türkei hätten keine Chance auf Friedensbildung.“ | |
Coşkun meint: „Die syrische Frage muss zu einer Klärung kommen. Der Türkei | |
müssen ihre Ängste und Sorgen genommen werden, die Türkei muss mit der PYD | |
([1][kurdische Partei in Syrien], Anm. d. Red.) zu einer gewissen Einigung | |
kommen. Ohne Einigung ist die Einleitung eines Lösungsprozesses in der | |
Türkei schwierig, ob nun zwischen beiden Seiten oder mit Unterstützung der | |
USA.“ | |
In Syrien, wo nun auch der Knoten der Kurdenfrage liegt, geschehen Dinge | |
mit weitreichenden Folgen für die Politik zahlreicher Länder, allen voran | |
der Türkei. Die Trump-Administration hat das Pentagon ermächtigt, schwere | |
Waffen an die Kurden zu liefern, die mit Rakka die letzte Festung des IS | |
belagern. Russland, die Türkei und der Iran haben sich auf bestimmte „Zonen | |
der Deeskalation“ verständigt; Angriffe der Türkei auf Rojava und weitere | |
Entwicklungen deuten darauf hin, dass sich in Syrien das Tor zu einer neuen | |
Phase öffnet. Dahinter aber liegt eine Phase, in der die Syrienfrage noch | |
lange ungewiss sein wird. | |
## Angriffe auf Rojava | |
Bestehen bleibt auch die Ungewissheit darüber, wie nachhaltig das | |
türkisch-iranisch-russische Abkommen über die „Deeskalationszonen“ in | |
Teilen von Homs, Hama, Idlib und Damaskus sein wird. Die Verwaltung von | |
Rojava meint, das Abkommen würde konfessionelle Konflikte verschärfen, und | |
glaubt nicht, dass es den Völkern Syriens nutze. Sie ist der Ansicht, das | |
Abkommen leiste keinen Beitrag zur Lösung des Problems, weil die | |
Syrien-Krise nicht als Ganzes angefasst wurde. | |
Im Oktober 2015 begann die Türkei, Rojava zu attackieren, die jüngsten | |
Fliegerangriffe am 25. April bedeuten eine Eskalation und sind laut | |
Baydemir Indikator ihrer Politik der Gewalt im Inneren wie auch im Äußeren. | |
Unmittelbar nach den Angriffen erklärte die YPG (kurdische Miliz in Syrien, | |
Anm. d. Red.), die Türkei habe entlang der Grenze elf Grenzposten | |
bombardiert. Anschließend sahen wir russische und amerikanische Soldaten an | |
der Grenze patrouillieren. Diese Patrouillen, während die Forderung der | |
Regierung von Rojava nach Flugsverbotszonen nach wie vor unbeantwortet ist, | |
wurde als Botschaft an die Türkei verstanden. Seither gab es keine | |
Kampfhandlungen. | |
## Operation Euphrat | |
Allerdings werden starke Truppenbewegungen der Türkei an dieser Linie | |
beobachtet. Informationen aus der Region zufolge bereitet die Türkei eine | |
Bodenoperation vor, gemeinsam mit der Freien Syrischen Armee, die auch die | |
Militäroperation Schutzschild Euphrat gegen das im Juni 2015 vom IS | |
zurückeroberte Tel Ebyad (Girê Spî) unterstützt hatte. Staatspräsident | |
Erdoğan hatte angekündigt, die Operation Schutzschild Euphrat werde unter | |
anderen Namen fortgesetzt werden. | |
Kommt die oben erwähnte Einigung nicht zustande und greift die Türkei in | |
Rojava ein, würde das die Fortsetzung der Kämpfe auf beiden Seiten der | |
Grenze bedeuten, daraus könnte sich eine Politik entwickeln, so Coşkuns | |
Sorge, bei der alle verlieren. Ein neuer Lösungsprozess sei absolut von | |
Rojava abhängig, unterstreicht auch der Politikwissenschaftler Ahmet Hamdi | |
Akkaya. Er meint, Rojava sei für die Kurden mittlerweile eine Sache „auf | |
Leben und Tod“. | |
Man wird sich daran erinnern, dass die Kurden in den ersten Tagen des | |
IS-Angriffs auf Kobane gegen die Unterstützung des IS durch die Türkei | |
protestierten. Die Aktionen gingen als „Kobane-Proteste vom 6.-8. Oktober“ | |
in die Geschichte der Türkei ein, mindestens 50 Menschen kamen dabei ums | |
Leben. | |
## Steht Rakka-Operation bald an? | |
Ein wesentliches Detail für die Bestimmung der Gleichgewichte in der Region | |
liegt in Rakka. Die Demokratischen Kräfte Syriens (DKS), dazu gehört auch | |
die hauptsächlich von Kurden gebildete YPG-YPJ, haben Rakka eingeschlossen, | |
wo der letzte Schlag gegen den IS geführt werden soll, und setzen ihre | |
Operationen fort. | |
Jüngst wurde die auch mit Unterstützung der USA geführte Operation in Tabka | |
beendet, das im Belagerungsring von Rakka liegt. Die DKS übernahmen die | |
vollständige Kontrolle über die Stadt und die Umgebung des Stausees, wo in | |
den letzten Tagen heftig gekämpft worden war. Am Dienstag begann dann der | |
vierte Sturm auf Gebiete nördlich von Rakka. Nach Tabka wird eine | |
Intensivierung dieser Operationen erwartet. | |
Trumps Beschluss wird dahingehend interpretiert, dass die USA gemeinsam mit | |
den DKS, die sich im Kampf gegen den IS „bewährt“ haben, gegen Rakka | |
vorgehen werden, und zwar bald. Die Waffen für die DKS werden kurzfristig | |
im Feld gegen den IS zum Einsatz kommen. | |
## Keine Lösung in absehbarer Zeit | |
Im Augenblick scheint wenig wahrscheinlich, dass die Türkei darauf | |
insistiert, alternativ zu den DKS mit der Freien Syrischen Armee in den | |
Prozess einzugreifen. Bei dem jetzt anstehenden Treffen zwischen Erdoğan | |
und Trump wird Rakka als eines der wichtigsten Themen auf der Tagesordnung | |
stehen. | |
Der Beschluss, Waffen an die Kurden zu liefern, ausgerechnet an dem Tag, an | |
dem türkische Vertreter Gespräche zur Vorbereitung des Treffens in den USA | |
führten, zeigt, wie entschlossen die USA zum Handeln in Rakka sind. | |
Gespannt darf man darauf sein, wie die USA die Türkei nach deren Kritik an | |
dem Beschluss, zu überzeugen suchen wird. | |
Die Ungewissheit in Syrien und der Eindruck, die Türkei insistiere auf ihre | |
im Feld „kurdenfeindliche“ Politik, sind letztlich ein Zeichen dafür, dass | |
der erhoffte Lösungsprozess, über den die Kurden täglich reden, zumindest | |
derzeit nicht absehbar ist. | |
16 May 2017 | |
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## AUTOREN | |
Hayri Demir | |
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