# taz.de -- Massenentlassungen an Universitäten: Wem die Stunde schlägt | |
> Mehr als 7.000 Akademiker*innen haben im Ausnahmezustand ihre Arbeit | |
> verloren. Die Entlassung kritischer Denker*innen wirkt sich fatal auf die | |
> Universitäten aus. | |
Bild: Was wird aus den Universitäten, wenn die kritischen Geister entlassen we… | |
Die Entlassungen der Akademiker*innen seit dem Putschversuch am 15. Juli | |
2016 haben ein bisher ungekanntes Ausmaß erreicht. Das zeigt ein Blick in | |
die Geschichte der Türkei: Nach dem Putsch 1960 wurden 140 Akademiker*innen | |
von den Universitäten entlassen, nach dem Putsch 1980 haben 250 | |
Akademiker*innen ihre Arbeit verloren. Im Ausnahmezustand wurden infolge | |
des Putschversuchs am 15. Juli 2016 per Notstandsdekret entlassen. | |
Abgesehen von der schieren zahlenmäßigen Dimension fällt die Intensität der | |
ideologischen Repressionen auf, die den Entlassungen zugrunde liegt. | |
Kritische Fakultäten und Abteilungen laufen Gefahr, geschlossen zu werden. | |
Die gewerkschaftlichen Kämpfe sollen zerschlagen werden. Von den | |
Student*innen bis zu den Rektor*innen sind alle, die sich an der | |
Universität zusammengeschlossen haben, angsterfüllt. | |
Die Akademiker*innen für den Frieden erzählen, dass sie schon vor den | |
massenhaften Entlassungen Repressionen und Drohungen ausgesetzt gewesen | |
seien. Doch was sie erlebten, nachdem sie in der Friedenspetition | |
unterschrieben hatten, dass sie „nicht Teil dieses Verbrechens sein“ | |
werden, sei damit nicht zu vergleichen. | |
## Ein schwerer Schlag gegen die Gewerkschaften | |
Die Entlassungen richten sich nicht nur gegen die Hochschulen: Sie sind | |
auch ein schwerer Schlag gegen die gewerkschaftlichen Kämpfe an den | |
Universitäten. Die Gewerkschaft für Bildung und Bildungswerktätige Eğitim | |
Sen sei schon zuvor im Fokus gewesen, sagt der Akademiker İsmet Akça von | |
der Yıldız Technik Universität. „Die Verträge von Dozenten, deren | |
Verbeamtung anstand, wurden trotz positiver Bewertungen von der Abteilung | |
nicht verlängert“, berichtet Akça. „Sie haben uns auch zuvor schon faktis… | |
bestraft.“ | |
Mit den Notstandsdekreten habe jedoch eine neue Phase begonnen. Wer sich | |
gewerkschaftlich engagiere, sei einer nach dem anderen entlassen worden. | |
Wenn man sich die Notstandsdekrete ansieht, fallen vor allem die Namen der | |
Akademiker*innen ins Auge, die Mitglied bei der Gewerkschaft für Bildung | |
und Bildungswerktätige Eğitim Sen sind. „Diese Entlassungen richten sich | |
nicht nur gegen bestimmte Arbeitsfelder, sondern zielen zugleich auch | |
darauf, die gewerkschaftlichen Rechte einzuschränken“, erzählt Ceren | |
Akçabay, Juniorprofessor an der juristischen Fakultät der Marmara | |
Universität und Mitglied bei Eğitim Sen. | |
Und der Druck, dem die Akademiker*innen ausgesetzt sind, bleibt nicht | |
innerhalb der Universitäten. | |
## Die Sicherheit der Akademiker*innen ist gefährdet | |
Kasım Akbaş, ein Lehrbeauftragter an der Juristischen Fakultät der Anadolu | |
Universität in Eskişehir, der per Notstandsdekret entlassen wurde, | |
verdeutlicht das Ausmaß der Repressionen, denen die Akademiker*innen | |
ausgesetzt sind: Mit der Leuchtrakete, die Präsident Recep Tayyip Erdoğan | |
gezündet hatte, habe eine öffentliche Meinungsmache gegen die | |
Akademiker*innen für den Frieden begonnen. | |
Es sei eine Stimmung entstanden, in der die Sicherheit der Akademiker*innen | |
gefährdet sei. Fotos seiner Kolleg*innen von der Osmangazi Universität | |
seien mit den Worten „das sind die Volksverräter“ an die Scheibenwischer | |
von Autos in der Umgebung geklemmt worden. | |
Eine der Akademiker*innen, die diese Bedrohungen erlebt hat, ist Pelin | |
Tuştaş. „Unsere Aktion war eine starkes Gegenhalten gegen die Regierung. | |
Das haben sie uns von Anfang an mit Ermittlungen, Drohungen und | |
Erpressungen spüren lassen“, erzählt die Forschungsbeauftragte der | |
Osmangazi Universität. „Seit einem Jahr spüren wir diese Repressionen jeden | |
Tag.“ | |
Nachdem die Çukurova Universität den Vertrag des Akademikers Mehmet Fatih | |
Traş aufgrund seiner Unterschrift der Friedenspetition nicht verlängert | |
hat, nahm sich der Akademiker im Februar das Leben. Sein Suizid zeigt, wie | |
gravierend die Spirale aus Druck und Angst ist, die erzeugt wird. | |
## Die Universitäten verwandeln sich in Gymnasien | |
Einige Rektor*innen versuchten, sich infolge der Ermittlungen gegen | |
mutmaßliche Mitglieder der sogenannten „Fethullah Gülen Terrororganisation�… | |
(FETO) nach dem Putschversuch selbst zu entlasten. Um zu beweisen, dass sie | |
selbst auf der Seite der Regierung stehen, machten sie die Akademiker*innen | |
für den Frieden zur Zielscheibe. | |
Es folgte eine Entlassungswelle. „Manche Rektoren waren besonders eifrig. | |
Womöglich wollten sie bestimmten staatlichen Stellen auffallen“, vermutet | |
der Lehrbeauftragte der Politik- und Verwaltungswissenschaften an der | |
Ankara Universität, Murat Sevinç. | |
Abgesehen davon, dass die Entlassungen verfassungswidrig sind, wirken sie | |
sich fatal auf den Wissenschaftsbetrieb aus. „Die Massenentlassungen | |
richten sich gegen das kritische Denken an den Universitäten. Die | |
Universitäten werden sich in bessere Oberschulen verwandeln“, erklärt der | |
Akademiker Murat Sevinç und fügt hinzu: „Wenn Menschen als Lehrkörper in | |
den Unterricht kommen, ohne sich kritisch zu positionieren, wird die | |
Universität zu einer Institution, an der es nur noch darum geht, zu | |
veröffentlichen, um aufzusteigen. Wenn das passiert, wird kein | |
ausländischer Akademiker in der Türkei bleiben.“ | |
## Kritische Fakultäten unter Druck | |
Die Journalistikstudentin Müge Helin Deviren, die sich für ihren | |
Fachbereich entschied, weil es sich um einen kritischen Studiengang | |
handelte, erzählt von den Repressionen, denen ihre Fakultät an der Ankara | |
Universität bereits vor den Entlassungen ausgesetzt war: „Schon vor den | |
Entlassungen hat das Rektorat Druck auf uns ausgeübt, weil die Fakultät | |
kritisch ist. Es gab auch Gerüchte darüber, dass die Fakultät der | |
Kommunikationswissenschaft geschlossen wird“, sagt sie. | |
„Dass die Fakultät nicht offiziell geschlossen wird, macht keinen | |
Unterschied: Indem sie die Dozent*innen entlassen und durch regierungsnahe | |
Dozent*innen ersetzen, gibt es unsere Fakultät auf eine Art nicht mehr.“ | |
Die Anzahl der Masterstudienplätze sei reduziert worden. „In einem Jahr ist | |
die Anzahl der Studienplätze von 30 auf drei Plätze zurückgegangen“, | |
berichtet die Studentin. | |
In diesen Tagen gibt es aber auch Student*innen, die die Akademiker*innen | |
nicht allein lassen. „Egal, welcher politischen Ausrichtung, die | |
Student*innen haben eine gemeinsame Koordination gegründet“, berichtet | |
Murat Karabulut, der Studierendenratsvertreter der Ankara Universität ist. | |
„Dieser Studierendenausschuss kümmert sich gerade um alles an der | |
Universität. Die Student*innen agieren jetzt geschlossen. Die Student*innen | |
setzen sowohl außerhalb der Universitäten als auch auf dem Campus viel in | |
Bewegung, damit ihre Dozent*innen ihre Arbeit wieder aufnehmen können“, | |
erklärt Karabulut. | |
## Studierendenproteste unter Angst | |
Doch die Umstände, unter denen die Student*innen sich engagieren, sind | |
nicht frei. Der Jurastudent Arınç Onat Kılıç berichtet, dass an der | |
Istanbul Universität die Beteiligung an den Protesten aufgrund des Drucks, | |
den der Rektor Mahmut Ak aufgebaut habe, zurückgegangen sei. | |
Kılıç befürchtet, dass gegen die Student*innen, die an den Universitäten | |
gegen die Entlassung ihrer Dozent*innen protestieren, Ermittlungen | |
eingeleitet werden. „Viele Student*innen halten sich angesichts der | |
privaten Sicherheitskräfte und der Polizeigewalt von den Protesten fern. | |
Diejenigen, die noch an der Uni sind, können sich aus Angst, exmatrikuliert | |
zu werden, nicht äußern“, erklärt er. | |
Auch wenn noch nicht ganz klar ist, ob die Entlassungen an den | |
Universitäten fortdauern werden, wird angenommen, dass auch | |
Akademiker*innen der renommierten und beliebten ODTÜ, der Technischen | |
Universität in Ankara und der Boğazıcı-Universität auf der Liste stehen. | |
Tezcan Durna, Dozentin am Kommunikationsinstitut der Ankara Universität, | |
begreift die Entlassungen als Schlag gegen die Universitäten und hofft, | |
dass die Proteste weitergehen. „Wenn die Proteste nicht fortgeführt | |
werden“, sagt sie, „wird es auch diejenigen treffen, die denken, dass ihnen | |
nichts passieren kann.“ | |
28 Apr 2017 | |
## AUTOREN | |
Rıfat Doğan | |
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