# taz.de -- Gefährder in Deutschland: Wo beginnt gefährlich? | |
> Ahmed A. hat noch keine Straftat begangen und wird doch schon überwacht. | |
> Denn in Deutschland gilt er als Gefährder. | |
Bild: Dauerüberwachung durch den Staat – jeder Schritt wird wahrgenommen | |
Weil Ahmed A. eine Gefahr für Deutschland ist, schiebt er am 11. Juli 2016 | |
noch einmal die Metalltür des Polizeikommissariats Ricklingen auf. Ein | |
zweistöckiges Gebäude zwischen einem Chinarestaurant und einem | |
Aldi-Supermarkt im Südwesten Hannovers. Es ist ein schwülwarmer Montag, | |
später wird es ein Gewitter geben. | |
A. geht durch die Tür, passiert eine zweite, noch schwerere. Am Empfang | |
legt er ein Papier mit Adresse und Passbild vor, mit dem er sich ausweist, | |
seit er keinen Pass mehr besitzt. Die Person am Tresen notiert sein | |
Erscheinen in einer Mappe, die Ahmed A.s Sachbearbeiter bereit gelegt hat. | |
Dann geht A. Es ist ein kurzer Besuch, Routine. Ahmed A. muss sich dreimal | |
in der Woche bei der Polizei melden. Montags, donnerstags, samstags. | |
Ahmed A., 24 Jahre alt, geboren in Afghanistan, seit 2011 in Deutschland, | |
ist als islamistischer Gefährder eingestuft. So hat es das | |
Landeskriminalamt Niedersachsen entschieden. Die Polizei traut ihm einen | |
Anschlag zu. Deshalb wurde ihm der Pass entzogen und die Ausreise verboten. | |
Deshalb muss Ahmed A. regelmäßig zur Polizei. | |
An diesem Montag aber kommt er zum letzten Mal in die Polizeiwache in | |
Ricklingen. Dann taucht Ahmed A. ab. Er ist bis heute verschwunden. | |
## Die Sorgen des Staats | |
Im Dezember verübte ein anderer Gefährder den schwersten islamistischen | |
Anschlag in Deutschland. Mit einem 32 Tonnen schweren Sattelschlepper raste | |
der Tunesier Anis Amri in den [1][Weihnachtsmarkt an der Berliner | |
Gedächtniskirche]. Zwölf Menschen starben. Es ist genau das Szenario, das | |
Polizei und Geheimdienste befürchtet hatten: Die Sicherheitsbehörden | |
hielten Anis Amri für gefährlich. Den Anschlag verhinderten sie trotzdem | |
nicht. | |
Seitdem vergeht kaum eine Woche ohne Vorschläge, wie man härter gegen | |
islamistische Gefährder vorgehen kann. 602 Namen stehen mittlerweile auf | |
der Liste des Bundeskriminalamts. Die Regierung hat sich auf ein Gesetz | |
geeinigt, das Fußfesseln für Gefährder möglich macht – bislang waren die | |
für verurteilte Straftäter vorgesehen. Außerdem geplant: schnellere | |
Ausweisungen, leichtere Abschiebehaft. In Bayern hat die Landesregierung | |
gerade beschlossen, dass Gefährder unbefristet in Präventivhaft genommen | |
werden können. | |
Dabei liegt gegen Gefährder zunächst nur eines vor: eine Prognose der | |
Polizei. Sie haben in der Regel noch keine Straftat begangen, noch nicht | |
einmal eine vorbereitet – auch das wäre im Bereich Terrorismus schon | |
justiziabel. Ausschlaggebend ist die Möglichkeit, dass die Person nach | |
Einschätzung der Polizei eine Straftat begehen könnte. | |
Aber kann es in einem Rechtsstaat richtig sein, jemanden allein aufgrund | |
einer Prognose zu überwachen? Oder wäre es im Angesicht der Terrorgefahr | |
geradezu fahrlässig, es nicht zu tun? | |
## Aufenthaltsgenehmigung und Deutschsprachiger Islamkreis | |
Ahmed A. kommt am 29. November 2011 nach Deutschland. Er sei 1992 in Kabul | |
geboren, sagt er dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge. Die | |
radikalislamische Miliz Hisb-i-Islami habe ihn bedroht, weil er für | |
britische und US-Streitkräfte gedolmetscht habe. Deshalb sei er geflohen. | |
A.s Asylantrag wird abgelehnt, weil er durch einen sicheren Drittstaat | |
eingereist ist. Weil seine Fluchtgründe „begründet“ seien, erhält Ahmed … | |
dennoch eine befristete Aufenthaltsgenehmigung. | |
Ahmed A.s Werdegang und die Maßnahmen gegen ihn sind in Gerichtsurteilen | |
festgehalten. Und sie waren Thema in einem Untersuchungsausschuss, der seit | |
Mai 2016 im Niedersächsischen Landtag tagt. | |
Der Afghane zieht nach Hannover, er wirkt unauffällig. Ein sportlicher Typ, | |
dunkle Haare, gestutzter Bart. A. kleidet sich westlich, trägt Basecap und | |
Jeans, geht ins Fitnessstudio. Aber: Ahmed A. besucht auch den | |
„[2][Deutschsprachigen Islamkreis]“. Der Moscheeverein im Norden Hannovers | |
ist laut Verfassungsschutz ein Hotspot der Salafisten. | |
Auch Safia S. geht hier ein und aus. Sie wird im Februar 2016 im Alter von | |
15 Jahren einen Polizisten im Hauptbahnhof Hannover niederstechen, laut | |
Gericht im Auftrag des „Islamischen Staats“ (IS). Der Richter verurteilt | |
sie zu sechs Jahre Haft. Vieles spricht dafür, dass Ahmed A. sie gekannt | |
hat. | |
## Plante Ahmed A. einen Anschlag in Afghanistan? | |
Ahmed A. beteiligt sich auch an der „Lies!“-Kampagne. In weißen T-Shirts | |
verteilen junge Salafisten Korane. Die Kampagne gilt als Rekrutierungsort | |
für Dschihadisten, sie ist inzwischen verboten. 140 „Lies!“-Aktivisten | |
sollen in den vergangenen Jahren nach Syrien und in den Irak ausgereist | |
sein. | |
Im Juni 2015 übermittelt das Bundesamt für Verfassungsschutz dem LKA | |
Niedersachsen einen brisanten Hinweis. „Dem BfV liegen Informationen vor, | |
nach denen ein in Hannover wohnhafter A. plane, im Juni 2015 nach Kabul, | |
Afghanistan, zu reisen, um dort Anschläge gegen afghanische Streitkräfte | |
oder die der Resolute Support Mission, also die Nato-Mission dort, „zu | |
verüben“, heißt es in dem Vermerk. A. unterhalte „Kontakte zu mehreren | |
militanten Netzwerken“. | |
Woher der Verfassungsschutz seine Information hat, teilt er nicht mit. | |
Hinweise auf konkrete Terrorpläne liefert er offenbar auch nicht. | |
„Zureichende tatsächliche Anhaltspunkte für das Vorliegen einer Straftat | |
wurden nicht erkannt“, sagt der Hannoveraner Kripochef später im | |
Untersuchungsausschuss. Doch das LKA hatte A. längst als Gefährder | |
eingestuft. | |
Ahmed A. hatte in seiner Asylanhörung Fotos vorgelegt, die ihn als | |
Dolmetscher bei Entschärfungen von Sprengfallen zeigen. Die Befürchtung | |
ist: Er kenne sich mit Sprengstoff aus. | |
## Sperrvermerk im „Terrorausschuss“ | |
Die Polizei lässt Ahmed A. nun überwachen. Die Stadt Hannover untersagt ihm | |
die Ausreise und zieht seinen Flüchtlingspass ein. Als sich A. einen neuen | |
Reisepass im afghanischen Konsulat holt, wird auch dieser einkassiert. | |
Hannover beruft sich auf das Passgesetz: Ahmed A. stelle eine „Gefährdung | |
der inneren oder äußeren Sicherheit der Bundesrepublik“ dar. Ein Passentzug | |
ist so möglich – und bei Gefährdern längst üblich. Einen Monat später fo… | |
eine weitere Auflage: Ahmed A. muss sich dreimal in der Woche bei der | |
Polizei melden. | |
Landtag Hannover, Raum 1105. Am Mittwoch dieser Woche tagt hier der | |
Untersuchungsausschuss zum behördlichen Vorgehen gegen Islamisten in | |
Niedersachsen, „Terrorausschuss“ nennen ihn viele. Ein holzvertäfelter Raum | |
mit Teppichboden, die Tische stehen im Quadrat. Heute sagt Uwe Kolmey aus, | |
ein hagerer Mann mit runder Brille, 60 Jahre alt. Kolmey ist Chef des | |
Landeskriminalamts Niedersachsen. Und er ist einer der Jäger von Ahmed A. | |
Er referiert über die Entstehung der islamistischen Szene, blättert | |
zwischendrin in Aktenordnern. Mehr als eine Stunde redet er. Zu Ahmed A.: | |
kein einziges Wort. Ein FDP-Abgeordneter hakt nach. „Ich kann zu Ahmed A. | |
keine Angaben machen“, sagt der LKA-Chef. Für den Fall gibt es einen | |
Sperrvermerk des Bundesinnenministeriums. | |
In Kolmeys Amt laufen alle Informationen über Gefährder in Niedersachsen | |
zusammen. Gerade erst verhaftete die Polizei zwei von ihnen wegen | |
Terrorverdachts in Göttingen. Die Zahl der Gefährder steige seit Jahren, | |
schreibt Kolmey auf Anfrage. Noch 2012 war sie in Niedersachsen einstellig, | |
heute sind es 45. Man habe nun den Staatsschutz aufgestockt. | |
## Vom Fußball zum Islamismus | |
Der Begriff Gefährder tauchte zuerst in der Fußballszene auf. Fans, von | |
denen die Polizei annahm, sie könnten Ärger machen, wurden manchmal vor | |
Spielen von Beamten besucht, die rieten, besser nicht ins Stadion zu gehen. | |
Gefährderansprache nennt man das. | |
Nach den Terroranschlägen vom 11. September übernahm der Staatsschutz den | |
Begriff. 2004 einigten sich die Chefs des BKA und der Landeskriminalämter | |
auf eine Definition. „Ein Gefährder ist eine Person, bei der bestimmte | |
Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass sie politisch motivierte | |
Straftaten von erheblicher Bedeutung, insbesondere solche im Sinne des § | |
100a der Strafprozessordnung (StPO) begehen wird.“ | |
Bestimmte Tatsachen? Auslegungssache. Ein Gesetz, das festlegt, was genau | |
ein Gefährder ist, gibt es bis heute nicht. | |
Von den 602 Gefährdern auf der Liste des BKA sind etwa 30 Frauen. Viele der | |
Personen wissen selbst nichts von dem Status. Etwa die Hälfte der Gefährder | |
ist gerade im Ausland, meist in Syrien und im Irak. Hundert sitzen in | |
hierzulande in Haft. Das heißt: etwa 200 leben frei in Deutschland. | |
## Fragen | |
Und drei sind verschwunden. Einer von ihnen: Ahmed A. Wo ist er? Ist er | |
noch in Deutschland? Droht er womöglich hier einen Anschlag zu begehen? | |
Hat er es ohne Pass ins Ausland geschafft? Ist er zu seiner Familie nach | |
Afghanistan aufgebrochen, wie er es vor Gericht als Wunsch äußerte? | |
Mit „Hochdruck“ werde nach dem Untergetauchten gefahndet, erklärt | |
Niedersachsens Innenminister Boris Pistorius. | |
Alle Spuren von ihm scheinen verwischt zu sein. In seinem früheren Umfeld | |
ist es still. Ahmed A.s Partnerin, Nur G., die noch in Hannover lebt, redet | |
nicht mit der Presse. | |
## Die Salafisten wissen von nichts | |
Es könne sein, dass er ihn mal gesprochen habe, sagt Dennis Rathkamp, einer | |
der Wortführer der Salafistenszene Hannovers. Mehr könne er nicht sagen. | |
Auch Rathkamp gehörte früher zu den Koranverteilern in der Stadt. | |
In der Moschee des „Deutschsprachigen Islamkreises“ gibt man sich genauso | |
ahnungslos. An einem Freitag im Februar steht zum Freitagsgebet die Tür | |
offen. Männer strömen in den kleinen Klinkerbau. Alle sagen, dass sie Ahmed | |
A. nicht kennen. | |
Ein Mann, der über seinem weißen Kaftan eine dunkle, warme Jacke trägt, | |
schiebt einen Müllcontainer in den Hof. „Ich bin schon seit mehr als 20 | |
Jahren hier.“ Aber Ahmed A., der Name sage ihm nichts. | |
Noch im Mai 2016 hatten Ahmed A. und Nur G. nach islamischen Ritus | |
geheiratet, im Dunya Event Center in Hannover. Laut Verfassungsschutz kamen | |
120 Gäste. Nun aber scheint es, als sei Ahmed A. nie in Hannover gewesen. | |
## Strategie: Opferlamm | |
Die Strategie von Terrororganisationen wie dem „Islamischen Staat“ ist es, | |
mithilfe von Angst ein politisches Klima hervorzurufen, das Muslime | |
diskriminiert. | |
Muslime sollen das Gefühl bekommen, im Land der Ungläubigen könnten sie nie | |
gleichberechtigte Mitglieder sein – letztlich müssten sie sich also für | |
eine der beiden Seiten entscheiden. Wenn die Polizei auf der Suche nach | |
Gefährdern nun Unschuldige beobachten sollte, könnte das dieser Strategie | |
in die Hände spielen. | |
Andererseits ist das Risiko, dass in Deutschland ein nächster, vielleicht | |
noch schwererer islamistischer Terroranschlag geschieht, real. Seit 2012 | |
sind mehr als 910 Menschen aus Deutschland in Richtung Syrien und Irak | |
ausgereist, etwa ein Drittel von ihnen ist wieder hier. | |
Der IS hat zu Anschlägen im Westen aufgerufen, auch Deutschland wurde | |
explizit genannt. Die Polizei hat in den vergangenen Monaten mehrfach | |
Sprengstoff oder Material dafür bei Razzien gefunden. Und die | |
Terroranschläge des vergangenen Jahres zeigen: Auch ein Lkw oder eine Axt | |
können eine Waffe sein. | |
## Die Analytikerin | |
Aber lässt sich voraussagen, wer so etwas tun würde? Valerie Profes’ Job | |
ist es, dabei zu helfen, genau das herauszufinden. | |
Die 42-jährige Juristin leitet beim Bundeskriminalamt in Wiesbaden ein | |
Team, das ein Prognosewerkzeug erfunden hat. Fallanalytiker, Staatsschützer | |
und forensische Psychologen der Universität Konstanz haben es gemeinsam | |
entwickelt, es heißt [3][Radar-iTE]. Ein Fragebogen-Tool zur Voraussage von | |
Gefährlichkeit – Mithilfe von Exceltabellen. Am Ende steht für jeden | |
Gefährder eine Risikoeinstufung: gelb, orange oder rot. | |
Bundeskriminalamt Wiesbaden, Standort Äppelallee, Referat Operative | |
Fallanalyse und Risikoanalyse. Vor Valerie Profes auf dem Tisch liegt eine | |
beige Umlaufmappe, darin stecken Ausdrucke. Einer zeigt in einer Kurve, wie | |
die Anzahl der Gefährder seit Jahren steigt. „Mit den begrenzten | |
polizeilichen Ressourcen war das irgendwann nicht mehr machbar“, sagt | |
Profes. „Radar ist dafür gemacht, aus diesem großen Personenkreis die | |
herauszufiltern, von denen ein besonderes Risiko für eine Gewalttat | |
ausgeht. Und auf die kann sich die Polizei dann besonders konzentrieren.“ | |
Profes strahlt etwas Praktisches aus: Pferdeschwanz, flache Schuhe, T-Shirt | |
unterm Jacket. „Der Umgang mit Gefährdern ist nicht einfach, keine Frage“, | |
sagt sie und verschränkt die Arme. „Aber ich glaube, die Bevölkerung würde | |
uns schwere Vorwürfe machen, wenn wir nicht präventiv tätig werden würden | |
und versuchen, einen Anschlag zu verhindern.“ | |
## Dystopie: Eine Welt wie in „Minority Report“ | |
In den USA bezeichnet man das, was Valerie Profes macht, als „Predictive | |
Policing“, also „vorausssagende Polizeiarbeit“: Falldaten zu analysieren, | |
um zu berechnen, wie wahrscheinlich künftige Straftaten sind. Profes ist es | |
wichtig, zu betonen, dass bei Radar keine Software am Werk sei. In den USA | |
verarbeiten schon oft selbstlernende Algorithmen die großen Datenmengen. | |
Ein US-Soziologe behauptet, er könnte so ziemlich genau vorhersagen, ob ein | |
Baby einmal ein Mörder werde. | |
Das Thema ist Stoff für Dystopien wie den Steven-Spielberg-Film „Minority | |
Report“, in dem es jahrelang keinen Mord mehr in Washington gegeben hat, | |
weil die Polizei die Mörder vor der Tat fasst und dann in einem Zustand | |
künstlicher Bewusstlosigkeit verwahrt. | |
Aber genauso birgt der Ansatz Hoffnungen. Etwa wenn Polizisten öfter in | |
Gebieten Streife fahren, in denen laut statistischer Vorhersage | |
wahrscheinlich Einbrüche geschehen. | |
Gefahrenabwehr ist neben Strafverfolgung die Hauptaufgabe der Polizei. Aber | |
wenn Überwachungstechnik und Prognosewerkzeuge immer besser werden, | |
verändert das die Möglichkeiten. Besonders wenn gesellschaftliche Angst | |
hinzukommt. | |
## Zurück nach Afghanistan? | |
September 2015, Verwaltungsgericht Hannover. Ahmed A. klagt gegen die | |
Stadt. Er will seinen Pass zurück und ausreisen. A. trägt Basecap und | |
Lederjacke. Einen Anwalt hat er nicht dabei. Er verteidigt sich selbst. | |
Er habe mitnichten vor, einen Terroranschlag in Afghanistan zu begehen, | |
sagt Ahmed A. Er wolle ausreisen, um seine Mutter zu besuchen, die am | |
Herzen operiert wurde. | |
Der Richter ist nicht überzeugt. Er glaubt den Angaben des | |
Verfassungsschutzes, die die Stadt vorlegt. Im Internet halte er unter | |
einem Alias-Namen Kontakt zu Verwandten in extremistischen Gruppen. Der | |
Richter verweist auch auf A.s salafistische Kontakte in Hannover. Der | |
Verdacht, dass A. einen Anschlag plane, sei begründet. | |
Es ist ein Balanceakt. Der Richter sagt in der Verhandlung selbst, die | |
Angaben des Verfassungsschutzes müssten „vorsichtig“ behandelt werden. | |
Schließlich lege der Dienst seine Quellen nicht offen. Das Urteil aber | |
werde, so der Richter, durch „zahlreiche weitere Anknüpfungstatsachen | |
gestützt“. Das ist das eine. Das andere ist aber wohl: Niemand will | |
derjenige sein, der Sicherheitsmaßnahmen ablehnt – und dann gibt es doch | |
einen Anschlag. | |
## Das Grundrecht der Betroffenen | |
Es ist einer der Gründe, warum es Kritiker so schwer haben. Selbst die | |
Grünen fordern aktuell mehr Härte gegen Gefährder und deren „Festsetzung�… | |
Der Kriminologe Charles von Denkowski sieht das anders. „Der | |
Gefährderbegriff ist verfassungswidrig“, sagt er. Von Denkowski, 44 Jahre, | |
Glatze und Dreitagebart, sitzt in der Küche seiner Berliner Altbauwohnung. | |
Auf dem Tisch stehen Granatapfelkerne und getrocknete Algen. „Als Gefährder | |
gelistet zu werden und das noch geheim, greift massiv in die Grundrechte | |
des Betroffenen ein“, sagt von Denkowski. „Und das ohne gesetzliche | |
Grundlage.“ | |
Von Denkowski war 14 Jahre Polizist, bevor er in die Wissenschaft | |
wechselte. Drei Tage nach den Anschlägen vom 11. September fing der | |
Deutschamerikaner 2001 beim Hamburger Staatsschutz an. Ausgerechnet in der | |
Hansestadt, wo der Attentäter Mohammed Atta gelebt hatte. Von Denkowski war | |
für Rechtsextreme zuständig, die hektische Betriebsamkeit in Sachen | |
islamistischer Terror aber bekam er mit. | |
Damals sprach man noch von Schläfern, die weitgehend unauffällig in | |
Deutschland leben, bis sie von außen mit einem Terrorauftrag aufgeweckt | |
werden. Gefährder klingt aktiver. Sie handeln unter Umständen auch von sich | |
aus. | |
## Zwischen Polizei und Verfassungsschutz | |
Damals, sagt von Denkowski, hätte der Staatsschutz begonnen, | |
Islamismus-Abteilungen aufzubauen. Die Polizei sollte stärker im Vorfeld | |
von Taten aktiv werden. Das war aus seiner Sicht der entscheidende | |
Einschnitt. „Natürlich ist es richtig, mögliche Terroristen früh zu | |
erkennen.“ Aber oft seien die Ermittlungen nicht vom Polizeirecht gedeckt. | |
„Extremisten zu beobachten ist Aufgabe des Verfassungsschutzes.“ | |
Bei der polizeilichen Gefahrenabwehr gelte, dass die Gefahr konkret sein | |
muss – zeitlich und örtlich, sagt von Denkowski. Bei Gefährdern braucht es | |
das nicht. „Für den Staatsschutz ist das eine Art Joker.“ | |
Von Denkowski fordert, dass ein Gesetz die Einstufung von Gefährdern regelt | |
und ein Richter darüber entscheiden muss – die Grundlage dafür soll ein | |
Gutachter prüfen. | |
Im Fall Ahmed A. wiederholt der Verfassungsschutz im Dezember 2015 seine | |
Warnung: A. wolle nach eigener Aussage als Märtyrer sterben. Die | |
polizeilichen Beobachtungen aber ergeben offenbar wenig. Ahmed A. scheint | |
sich nach dem Urteil seinem Schicksal zu fügen. Er erfüllt seine | |
Meldeauflagen. Im Frühjahr 2016 verringert die Polizei ihre Überwachung. | |
## Dauer-Beschattung | |
Aber Ahmed A. bleibt als Gefährder eingestuft. Als im März 2016 auf dem | |
Brüsseler Flughafen Bomben explodieren, prüfen die Behörden, wo sich Ahmed | |
A. aufhält. Als dann im April US-Präsident Barack Obama Hannover besucht, | |
wird Ahmed A. während des gesamten Besuchs beschattet – 48 Stunden lang. | |
Im Juni 2016 ist es Hannovers Polizeipräsident, der im | |
Untersuchungsausschuss zu Ahmed A. befragt wird. A. habe sich bei | |
Gefährderansprachen „sehr kooperativ“ verhalten, sagt er. Drei Wochen | |
später ist der 24-Jährige verschwunden. | |
Hätte das verhindert werden können? Von wem? Und wie? | |
Viele der momentan diskutierten Verschärfungen hätten im Fall Ahmed A. | |
wenig genutzt. Eine Abschiebung war nicht möglich – dagegen steht eine | |
UN-Resolution, die verpflichtet, mutmaßliche Terroristen an der Ausreise zu | |
hindern. Eine [4][Fußfessel] lässt sich abtrennen. Verhindert hätte Ahmed | |
A.s Flucht nur die unbegrenzte Präventivhaft, wie sie Bayern plant. Aber | |
die geht selbst vielen bei der Polizei zu weit. | |
## Anis Amri: Risikostufe rot | |
Bei Ahmed A. hat sich die Polizei verschätzt – genau wie im Fall des | |
Berliner Attentäters Anis Amri. Hier hatten die Behörden zunächst Glück. | |
Sie hatten einen V-Mann in der Szene, dem Amri sich anvertraute: Er wolle | |
Waffen beschaffen und einen Anschlag begehen. Amris Handy wurde angezapft | |
und er observiert. Aber die Polizei bemerkte nur kleine Drogengeschäfte und | |
eine Schlägerei. Keine konkrete Gefahr, so der Rückschluss. | |
Im September 2016 wird die Überwachung eingestellt. Erst bei seinem | |
Anschlag auf dem Breitscheidplatz taucht er wieder auf. | |
Beim BKA in Wiesbaden darf Valerie Profes über Amri nicht sprechen. Aus | |
Sicherheitskreisen heißt es aber, dass ihr Team den Fall nach dem Anschlag | |
mit dem Prognose-Instrument Radar überprüft habe. Sie gaben die vor dem | |
Anschlag vorhandenen Informationen ein. Das Ergebnis: Risikostufe rot. | |
Künftig, so der Plan der Behörden, soll sich die Polizei auf diese | |
Gefährder konzentrieren. | |
## So funktioniert „Radar“ | |
Radar-iTE ist eine Abkürzung für „Regelbasierte Analyse potentiell | |
destruktiver Täter zur Einschätzung des akuten Risikos – islamistischer | |
Terrorismus“. Das hört sich komplizierter an, als es ist: ein langer | |
Fragebogen in einer Excel-Tabelle, angelehnt an die Risikoeinschätzung bei | |
rückfallgefährdeten Sexualstraftätern. Für jeden Gefährder soll so | |
ermittelt werden, wie hoch die Gefahr ist, dass er eine Gewalttat begeht. | |
Drei Bereiche würden abgefragt, erklärt Valerie Profes im Besprechungsraum | |
in Wiesbaden. „Als Erstes der Werdegang, also biografische Daten. Als | |
Zweites seine aktuelle Situation. Hat er seinen Arbeitsplatz verloren oder | |
gerade eine Trennung hinter sich, solche Dinge. Und als Drittes geht es um | |
sein Umfeld: Wie eng ist er in die radikale Szene eingebunden? Wie ist der | |
Kontakt zur Familie?“ Profes spricht schnell, dann hält sie plötzlich inne. | |
„Ich muss kurz überlegen, was ich sagen kann.“ Zu viele Details darf sie | |
nicht verraten. | |
Trifft ein Merkmal zu, macht der Beamte ein Kreuz. Für jedes gibt es | |
Punkte. Je nach Gesamtpunktzahl wird der Gefährder eingeordnet: Gelb steht | |
für ein moderates, Rot für ein hohes Risiko, Orange liegt dazwischen. Wird | |
ein hohes Risiko festgestellt, nimmt sich eine Runde den Einzelfall vor. | |
Radar-iTE soll im Sommer bundesweit einsetzbar sein, in Niedersachsen wird | |
es gerade eingeführt. | |
Das mag eine sinnvolle Maßnahme sein, wie manch andere, wenn man sie als | |
Mosaikstein betrachtet. Schaut man auf das ganze Bild, zeigt sich aber | |
auch: Seit den Terroranschlägen von 9/11 weiten sich die Befugnisse der | |
Polizei im Vorfeld von Straftaten immer stärker aus. So manches Mal in | |
einer rechtlichen Grauzone. So manches Mal auch bei Personen, die eben noch | |
als unschuldig galten. Das kann im Einzelfall vielleicht einen Anschlag | |
verhindern. Das kann aber auch den Rechtsstaat aushöhlen, den man doch | |
eigentlich verteidigen will. | |
## Dürre Beweise | |
Im April 2016 muss auch Ahmed A.s Freundin, die Deutschtürkin Nur G., ihren | |
Pass und ihren Personalausweis abgeben. Die Polizei hatte darauf gedrängt. | |
Ihre Begründung: Nur G. könnte mit Ahmed A. ausreisen. | |
Auch die 23-Jährige zieht dagegen vor Gericht. Bei der Verhandlung im Juli | |
2016 sitzt nur ihr Anwalt im Saal. Der gibt an, Nur G. sei gar nicht mehr | |
mit Ahmed A. zusammen. Ein Verfassungsschützer widerspricht, verweist auf | |
die Hochzeit der beiden im Mai. Zudem habe Nur G. eingewilligt, sich von | |
Ahmed A. im Umgang mit Waffen schulen zu lassen. Der Richter belässt es | |
darauf beim Ausweisentzug für Nur G., obwohl auch er die vorgelegten | |
Beweise des Verfassungsschutzes als „dürr“ bezeichnet. | |
Für Ahmed A. dürfte jetzt klar sein, dass er den Status des Gefährders so | |
schnell nicht los wird. Zwei Tage später wird daraus Gewissheit: Die Stadt | |
Hannover verlängert sein Ausreiseverbot um ein weiteres Jahr. | |
Einmal noch meldet er sich darauf bei der Polizei. Am 11. Juli 2016. Dann | |
ist er weg. Was er vorhat, weiß nur er. | |
26 Mar 2017 | |
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