# taz.de -- 25. Jahrestag des Massakers in Srebrenica: Der Krieg im Klassenzimm… | |
> Was junge Bosnier*innen in der Schule über Kriegsverbrechen lernen, | |
> hängt stark von der Schule ab. Das Bildungssystem vertieft die Gräben. | |
Bild: Ein Zaun trennt bosnische und kroatische SchülerInnen, um jeglichen Kont… | |
BERLIN taz | Wer in Bosnien Schulbücher des Fachs Geschichte durchblättert, | |
bekommt ein Gefühl dafür, was es heißt, wenn Geschichte noch längst nicht | |
Geschichte ist. | |
Denn nicht nur die Verwaltung des Balkanstaates ist seit dem Ende des | |
Krieges 1995 in serbisch, kroatisch oder bosniakisch geprägte Gebiete und | |
Kantone aufgeteilt – sondern auch das Bildungssystem. Während Schulbücher | |
im einen Landesteil zentral festgelegt werden, können im anderen Teil die | |
Schulen frei bestimmen. Das nutzen die nationalen Gruppen für sich, und | |
lehren ihren Kindern nur jene Version der Kriegsjahre der 1990er, die | |
[1][in das eigene Narrativ] passt. | |
In einem Schulbuch für 9. Klassen im serbisch dominierten Teil Republika | |
Srpska liest sich das so: „Die internationale Gemeinschaft hatte kein | |
Verständnis für das serbische Volk, das nur Freiheit und nationale und | |
Menschenrechte wollte.“ In einem Geschichtsbuch einer | |
kroatisch-katholischen Schule steht hingegen: „Unehrenhafte Handlungen | |
wurden größtenteils aus Rache oder Gier durch Einzelpersonen oder | |
kriminelle Gruppen begangen und stehen im Widerspruch zum ehrenwerten | |
Verhalten der überwiegenden Mehrheit der kroatischen Kommandeure, Soldaten | |
und Polizisten.“ | |
Diese Auszüge zeigen beispielhaft, wie umstritten die [2][zwischen 1992 und | |
1995 begangenen Kriegsverbrechen] bis heute sind – auch an Schulen. Eine | |
von der [3][Open-Society-Stiftung] finanzierte Untersuchung aus dem Jahr | |
2017 zeigt, dass Schulbücher in Bosnien überwiegend mit Stereotypen | |
arbeiten, sich auf die eigene Gruppe fokussieren und das Trennende suchen | |
und betonen. | |
## Ministerium in Sarajevo ohne Befugnisse | |
Im Fach Geschichte scheint das besonders ausgeprägt zu sein: Nur 14 Prozent | |
der untersuchten Geschichtsbücher stellen Sachverhalte differenziert dar, | |
nur 5 Prozent zeigen verschiedene Perspektiven und nur 3 Prozent | |
fokussieren sich auf Lösungen für die angeführten Probleme. | |
Der Daytoner Friedensvertrag beendete 1995 zwar den Krieg in Bosnien, | |
hinterließ aber ein geteiltes Land: Die beiden neu entstandenen | |
Teilrepubliken Republika Srpska und die Föderation Bosnien und Herzegowina | |
besitzen jeweils eine eigene Exekutive und Legislative, die Kantone | |
zusätzliche Befugnisse. Daraus leiten die nationalen Gruppen auch ihr Recht | |
ab, die Bildung ihrer Kinder eigenmächtig zu gestalten. So kommt es, dass | |
in Bosnien bis zu sechs verschiedene Lehrpläne im Einsatz sind und eine | |
serbische Lehrerin an einer bosniakischen Schule zwar Kunst unterrichten | |
darf, aber nicht Geschichte. | |
Besonders heikle Themen werden im Schulunterricht gleich komplett | |
ausgeblendet. So findet sich in den Geschichtsbüchern der Republika Srpska | |
kein einziges Wort zum [4][Genozid in Srebrenica] vor 25 Jahren, als am 11. | |
Juli 1995 in der ostbosnischen Kleinstadt über 8.000 bosniakische Männer | |
und Jungen von Soldaten der Armee der Republika Srpska ermordet wurden. | |
## Tabuthema Sebrenica | |
Schulbücher, die diese Tragödie thematisieren, darf es in der Republika | |
nicht geben, stellte 2017 deren Regierungschef Milorad Dodik klar: „Hier | |
ist es unvorstellbar, dass Schulbücher aus der Föderation verwendet werden, | |
in denen steht, dass die Serben einen Genozid begangen haben (…) Es ist | |
nicht wahr und es wird hier nicht gelehrt.“ Srebrenica selbst liegt in der | |
Republik Srpska – so sollen die Schüler*innen nichts über den Völkermord | |
erfahren, der vor ihrer Haustür stattfand. | |
Ervin Peleš, 18 Jahre alt, Sohn einer Bosniakin und eines Serben, hat nur | |
noch ein Schuljahr vor sich. Mittlerweile besucht er in Bihać im Westen der | |
kroatisch-bosniakisch geprägten Förderation eine Schule mit bosniakischem | |
Lehrplan. Doch weder hier noch in seiner vorherigen kroatischen Schule | |
stand der Genozid auf dem Stundenplan. „Ich habe meine Lehrerin danach | |
gefragt, doch sie meinte, wir haben wichtigere Dinge zu behandeln“, sagt | |
er. | |
Doch Peleš ist geschichtsinteressiert, er hat Bücher über Srebrenica | |
gelesen und Dokumentationen gesehen. „Und meine Oma hat mir viel über | |
Srebrenica erzählt und wie damals serbische Soldaten auch in ihren | |
Heimatort Sanski Most einfielen.“ | |
Die Aufarbeitung der Geschichte geschieht in Bosnien nicht in den | |
Klassenzimmern, sondern zu Hause am Küchentisch – durch Familienmitglieder, | |
die meist selbst auf [5][irgendeine Art Opfer oder Täter waren]. | |
Aleksandra Krstović ist im Rahmen der OSZE-Mission in Bosnien für | |
Bildungsfragen zuständig und findet die Entwicklung problematisch. „Bildung | |
ist wichtig, damit Wissen, Erinnerungen und Vermächtnisse von Konflikten an | |
die nächste Generation weitergegeben werden“, sagt Krstović. „Wenn sie | |
nicht in sicheren Lernumgebungen wie Schulen offen diskutiert werden, | |
können sie möglicherweise wiederkehrende Zyklen von Hass und Gewalt | |
fördern.“ | |
## Segregierte Schulen | |
Das Gegenteil einer solch offenen Lernumgebung ist das Konzept „[6][Zwei | |
Schulen unter einem Dach]“. So betreten etwa in der zentralbosnischen Stadt | |
Travnik und in 55 weiteren Schulen bosniakische und kroatische | |
Schüler*innen morgens zwar dasselbe Schulgebäude – jedoch durch separate | |
Eingänge. Die bosniakischen Schüler*innen nutzen nur einen Teil der | |
Schule, die kroatischen den anderen. Ein Stahlgitter zieht sich durch den | |
Pausenhof, um jeglichen Kontakt zwischen den Schüler*innen zu verhindern. | |
In der Republika Srpska sind Schulen gleich komplett nach Ethnien getrennt. | |
Dieses Konzept wurde nach dem Krieg sogar von der OSZE mitentwickelt. Laut | |
Krstović war es im aufgeheizten Nachkriegskontext die einzige Möglichkeit, | |
die Eltern dazu zu bewegen, ihre Kinder wieder in die Schulen zu schicken. | |
„Es sollte nur eine vorübergehende Lösung sein“, erklärt Krstović. „L… | |
ist das Temporäre dauerhaft geworden.“ Selbst in gemischten Schulen werden | |
die Schüler*innen oft getrennt, sobald Fächer wie Geografie oder | |
Geschichte auf dem Stundenplan stehen. | |
Politisch ist das durchaus gewollt. Verschiedene Bemühungen, die Trennung | |
an den Schulen zu beenden – etwa durch ein initiiertes | |
Antidiskriminierungsgesetz oder das Urteil des bosnischen | |
Verfassungsgerichts, das das Zwei-Schulen-Modell für diskriminierend und | |
verfassungswidrig erklärte –, konnten bislang nichts ausrichten. Denn im | |
Streben der politischen Eliten um Macht und Einfluss sind Bosniens Schulen | |
ein umkämpftes Feld. So erklärte die damalige bosnische Bildungsministerin | |
Greta Kuna im Jahr 2007: „Äpfel zu Äpfeln und Birnen zu Birnen.“ | |
## Nationalist*innen an der Macht | |
An dieser Einstellung hat sich kaum etwas geändert: [7][Nationalistische | |
Politiker*innen], wie sie in Bosnien-Herzegowina fast nur an der Macht | |
sind, arbeiten lieber [8][mit Ressentiments gegenüber den anderen | |
nationalen Gruppen], um schnell Wählerstimmen zu sammeln, als mit | |
langwierigen Reformen. | |
Dabei hätte das bosnische Bildungssystem sie dringend nötig: In der letzten | |
Pisa-Studie von 2018 lagen die Schüler*innen in allen Fachbereichen weit | |
hinter dem OECD-Durchschnitt. Doch bislang werde Geld lieber in die | |
Aufrechterhaltung des kostspieligen getrennten Schulsystems gesteckt, | |
anstatt in Unterrichtsmaterialien oder Lehrer*innenausbildung zu | |
investieren, kritisiert Bildungsexpertin Aleksandra Krstović. | |
So liegt es heute an einzelnen Lehrkräften, ihren Schüler*innen die | |
jüngere Geschichte differenziert zu vermitteln. Für sie haben | |
Historiker*innen und Geschichtslehrer*innen aus Bosnien auf der | |
Plattform [9][Devedesete.net] [devetesete = Neunziger] | |
Unterrichtsmaterialien gesammelt, die die Geschehnisse der 1990er Jahre | |
behandeln, darunter Dokumentarfilme über den Genozid von Srebrenica oder | |
eine interaktive Webseite. Andere NGOs organisieren etwa Exkursionen zum | |
Gedenkort in Potočari. | |
Solche Bemühungen sind wichtig. Denn nach dem Krieg ist bisher eine ganze | |
Generation getrennt voneinander aufgewachsen – mit kaum Kontakt zu | |
serbischen, kroatischen oder muslimischen Bosniern, dafür mit Schulbüchern | |
voller Feindbilder. Beim 18-jährigen Peleš ist das anders. In seine Klasse | |
gehen auch einige kroatische und serbische Bosnier, der Unterricht findet | |
nicht getrennt statt. „Einer meiner besten Freunde ist Kroate“, sagt er. | |
„Er ist einer der ehrlichsten Menschen, die ich kenne.“ | |
8 Jul 2020 | |
## LINKS | |
[1] /Gedenken-in-Bosnien-und-Herzegowina/!5360804 | |
[2] /Jahrestag-des-Massakers-in-Srebrenica/!5611442 | |
[3] /Soros-Stiftung/!t5268774 | |
[4] /UN-Tribunal-in-Den-Haag-zu-Srebrenica/!5465800 | |
[5] /Mladic-Prozess-und-Rueckkehrer/!5461343 | |
[6] /Bosnien-und-Herzegowina/!5641650 | |
[7] /Nationalismus-in-Bosnien-Herzogowina/!5666891 | |
[8] /Krise-in-Bosnien-und-Herzegowina/!5593005 | |
[9] http://www.devedesete.net/ | |
## AUTOREN | |
Jana Lapper | |
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