# taz.de -- Mladić-Prozess und Rückkehrer: Vergiftete Nachbarschaft | |
> Das Urteil gegen den angeklagten Massenmörder Ratko Mladić wird | |
> erwartet. Doch an der Lage bosnischer Rückkehrer wird das nichts ändern. | |
Bild: Bosnische Muslime tragen einen Sarg eines identifizierten Srebrenica-Opfe… | |
ROGATICA taz | Die schlammige Straße nahe dem südlich von Sarajevo | |
gelegenen Städtchen Rogatica windet sich zwischen Regen durchnässten Wiesen | |
und blätterlosen Bäumen den Berg hinauf. Sie führt vorbei an halb | |
verfallenen Gehöften, um schließlich auf einem Plateau mit Obstbäumen zu | |
enden: der Bauernhof der Familie Herceglija. | |
Als letzte Woche die Nachricht die Runde machte, drei Kühe der | |
bosniakischen Rückkehrerfamilie seien von serbischen Nachbarn vergiftet | |
worden, waren auch die Institutionen der internationalen Gemeinschaft in | |
Bosnien und Herzegowina wie elektrisiert. Gerade jetzt, kurz vor dem Urteil | |
gegen den ehemaligen General der bosnisch-serbischen Truppen im Krieg, | |
Ratko Mladić, ein solcher Zwischenfall? Könnten jetzt die Spannungen | |
zwischen den Volksgruppe wieder aufbrechen und zu Gewaltakten führen? | |
Ihr Vater werde schon von Mitarbeitern der OSZE befragt, erklärt die | |
19-jährige Nejra und bittet, uns noch etwas zu gedulden. Vom Bauernhof aus | |
gestattet der wolkenverhangene Himmel keinen Blick auf die beeindruckende | |
Bergwelt hier. Der Hang fällt ab zum Tal der Drina, wo die Städte Goražde, | |
Foča und Višegrad liegen. Als das Römische Reich in ein Ost- und ein | |
Westreich aufgeteilt wurde, gehörte das Gebiet jenseits des Flusses zu | |
Byzanz, diesseits zu Rom. Seit alters her ist der Fluss auch die Grenze | |
zwischen Serbien und Bosnien. | |
Doch in den 1990er-Jahren wurde um diese Grenze ein Krieg geführt. Im | |
April/Mai 1992 drangen serbische Truppen und Freischärler unter dem Befehl | |
von General Ratko Mladić in diese vor allem von Muslimen bewohnte Gegend | |
ein, in den Städten Foča und Višegrad kam es zu Massakern an Nichtserben. | |
Frauen wurden in Vergewaltigungslager verschleppt, in ihrer Panik flohen | |
die Überlebenden in die Wälder. An der Drina hielt nur ein Ort der | |
gnadenlosen serbischen Offensive stand: das kaum 30 km entfernte Goražde, | |
das dann dreieinhalb Jahre belagert und mit Artillerie beschossen wurde. | |
Ratko Mladić stammt aus dieser Gegend, aus Božanovići bei Kalinovik, ein 20 | |
km entfernter, einsam in den Bergen liegender Ort. Er kannte jeden Pfad in | |
den Bergen und versuchte die Fluchtwege abzuschneiden. „Mir gelang es | |
damals trotzdem, von hier aus in das freie Gebiet um Goražde zu fliehen“, | |
sagt der 49-jährige Bauer und Nejras Vater, Nedžad Herceglija. | |
Im Friedensabkommen von Dayton 1995 wurde Bosnien und Herzegowina zwar je | |
zur Hälfte in eine serbische und in eine bosniakisch-kroatische Entität | |
aufgeteilt, die Vertriebenen bekamen jedoch das Recht, zurückzukehren und | |
ihr Eigentum wieder in Besitz zu nehmen. Es habe dann 12 Jahre gedauert, | |
bis Nedžad Herceglija sich getraut habe, 2007 wieder in seine Heimat, die | |
nun zur serbischen Teilrepublik gehört, auf seinen eigenen Grund und Boden | |
zurückzukehren. Das gesamte Anwesen sei zerstört gewesen, das Haus | |
niedergebrannt, er habe alles wieder mit eigenen Händen aufgebaut, erklärt | |
er. | |
Auch ein paar andere bosniakische Familien kamen zurück, „doch die meisten | |
sind in alle Winde zerstreut“, sagt Herceglija. In der Gemeinde Rogatica | |
gebe es jetzt eine serbische Mehrheit, eine serbische Verwaltung, serbische | |
Curricula in den Schulen, eine serbisch dominierte Polizei. Die Bosniaken | |
würden als „Minderheit“ und nicht als gleichberechtigte Bürger angesehen, | |
klagt Nejra. Sie fühlte sich als Bosniakin in der Schule gemobbt. Sie hat | |
sie abgebrochen – ihr vier Kilometer langer Schulweg führt durch einen | |
Wald. | |
22 Jahre nach dem Friedensabkommen von Dayton traut die Familie dem Frieden | |
nicht mehr. Seit sich ein paar hundert Meter unterhalb des Hauses die | |
serbische Familie Abazović angesiedelt hat, haben die Zwischenfälle | |
zugenommen. Am 10. November wurden drei ihrer 8 Kühe vergiftet, die Familie | |
lebt seitdem wieder in großer Angst. „In den letzten vier Jahren haben sie | |
fünf Hunde erschossen und Weidezäune eingerissen“, sagt der Vater. Sie | |
hätten die Polizei gerufen, doch die forderte von ihnen Beweise. Wie aber | |
sollten die beschafft werden? | |
Würde eine lebenslange Strafe für Ratko Mladić die Lage hier ändern? „Kau… | |
die meisten Serben lehnen das Tribunal in Den Haag ab. Zwar wäre dann für | |
uns immerhin gezeigt, dass es noch ein bisschen Gerechtigkeit gibt. Aber | |
wird das was verändern?“ | |
## „Wir haben die Kühe nicht vergiftet“ | |
Ana Abazović, die serbische Nachbarin, ist eine 32-jährige, schlanke, | |
keineswegs unsympathische Frau. Sie steht im Hof ihres Anwesens und hat | |
gerade die Hühner versorgt. Ihr Mann und sie haben das Land vor vier Jahren | |
von nicht zurückgekehrten Bosniaken gekauft und leben so ärmlich wie ihre | |
bosniakischen Nachbarn. Sie haben ein paar Kühe, im Hof steht eine | |
elektrische Säge, Holzplanken sind daneben aufgestapelt. Zwei Kinder lugen | |
aus dem Hauseingang des noch unverputzten Ziegelbaus | |
Sie ist nervös angesichts der Fragen der ausländischen Besucher. „Das ist | |
alles nicht wahr. Wir haben die Kühe nicht vergiftet.“ Sie blickt zur | |
Seite, ihre Mundwinkel zucken. Es fällt schwer, ihr zu glauben. Doch sie | |
leugnet nicht, dass ihr Schwiegervater, Dragomir Abazović, vom | |
Staatsgericht in Sarajevo der Kriegsverbrechen angeklagt war. Und dass es | |
bei seiner Festnahme durch internationale Eufor-Truppen im Januar 2006 zu | |
einer Schießerei gekommen ist, bei der er und einer seiner Söhne verwundet | |
wurden. Seine Frau Rada starb infolge ihrer Schussverletzungen im | |
Krankenhaus. Ihre Schwager sollen jetzt nach Meinung der Nachbarn die | |
Problemstifter sein. Dazu möchte Ana nichts sagen. Auch nicht zu Ratko | |
Mladić. | |
In einer Cafébar in der ehemaligen Hauptstadt der Serben zu Kriegszeiten, | |
Pale, das jetzt ein ruhiges Provinznest ist, sind einige junge Serben | |
anzutreffen. Sie sitzen stundenlang vor einem kleinen Macchiato. Manche von | |
ihnen gehen noch zur Schule, andere schlagen sich mit Gelegenheitsarbeiten | |
durch. Und träumen davon, wegzugehen. Der 20-jährige Zoran fragt, wie es | |
für ihn möglich wäre, nach Deutschland zu kommen. Andere wollen nach | |
Belgrad ziehen. „Hier gibt es doch nichts, keine Wirtschaft, nichts.“ | |
Sie waren damals, während des Krieges, noch gar nicht geboren. Sie kennen | |
das alte multinationale Bosnien nicht. Damals war Pale ein Luftkurort und | |
Zentrum zahlreicher olympischer Skipisten. Viele Menschen pendelten zur | |
Arbeit nach Sarajevo. Die meisten Jungs von heute sind noch niemals in | |
Sarajevo gewesen. Sie wollen keinen Kontakt zu den „Baljes“, wie sie die | |
Bosniaken nennen. Nicht einmal die Konzerte weltbekannter Musiker, nicht | |
einmal das Kinocenter oder gar die Theater können sie in die Hauptstadt des | |
Landes locken. | |
## Mehr als ein Nachbarschaftsstreit | |
Dieses Verhalten, Kontakt zu vermeiden, ist für den Mittvierziger Mirsad | |
Dautović der Schlüssel für die Diskussion über das Mladić-Urteil. Die | |
nationalistische Ideologie, die ein friedliches Zusammenleben der | |
Bevölkerungsgruppen nicht möglich mache, entspräche dem Denken und Handeln | |
des Ratko Mladić. Dautović, der aus Prijedor stammt und im | |
Konzentrationslagers Keraterm saß, hat die ethnischen Säuberungen in | |
Westbosnien nur knapp überlebt. Anders als 50 Mitglieder seiner | |
weitläufigen Familie. Erst 2014 konnten ein Bruder, sein Vater und neun | |
andere enge Mitglieder der Familie aus dem Massengrab Tomašica bei Prijedor | |
geborgen werden. | |
Er stochert in seinem Teller in einem Restaurant in Sarajevo. Immer noch | |
leidet er an seinem Magengeschwür, das er sich damals im Lager zugezogen | |
hat. „Natürlich hoffen wir, dass Ratko Mladić die Höchststrafe bekommt. Und | |
damit auch die Ideologie dahinter. Schwerer wiegt aber, dass Mladić sein | |
politisches Ziel erreicht hat. Mit Massenmord und großen Verbrechen haben | |
die serbischen Nationalisten das Land erobert und bekamen in Dayton mit dem | |
Segen der großen Mächte die Hälfte des Landes zugesprochen.“ Damit wurden | |
die Verbrechen letztendlich legitimiert. | |
Die Geschichte in Rogatica sei mehr als nur ein Nachbarschaftsstreit, | |
glaubt er. Rückkehrer in die einstmals ethnisch gesäuberten Gebieten würde | |
das Leben so schwergemacht wie möglich. „Wir haben ja nirgends in Bosnien | |
einen Rechtsstaat. Die serbischen Machthaber machen ungebrochen weiter, | |
leugnen jegliche Verantwortung, feiern Ratko Mladić als ihren Helden. Der | |
General schlage in Den Haag seine letzte Schlacht, ist jetzt ihre Parole.“ | |
22 Nov 2017 | |
## AUTOREN | |
Erich Rathfelder | |
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