# taz.de -- Kommentar Wahl in Bosnien: Demokratie zum Weglaufen | |
> 23 Jahre nach dem Dayton-Friedensvertrag wird Bosnien weiter von | |
> Volksgruppen dominiert. Die Abwanderung von Fachkräften zermürbt das | |
> Land. | |
Bild: Zwei Frauen essen gemeinsam in der Nähe einer alten Festung in Sarajevo | |
Schon eine Generation kennt gar keine andere Form der Demokratie. Das | |
Problem fängt schon damit an, dass man als Bosnier erklären muss, welcher | |
Volksgruppe man sich zugehörig fühlt, [1][wie man sich also „ethnisch“ | |
definiert.] Auch wer aus einer gemischten Familie kommt, muss bestimmen, ob | |
er oder sie Bosniakin (muslimisch), Serbe (orthodox) oder Kroatin | |
(katholisch) ist. Wer sich als moderner Mensch und Europäer gar nicht | |
definieren will, hat nur eingeschränkte Bürgerrechte. Er oder sie darf zum | |
Beispiel nicht gewählt werden, wie alle Angehörigen von Minderheiten, die | |
sich nicht den drei „konstitutiven Nationen“ zugehörig fühlen. | |
Da hilft es auch nicht, beim Europäischen Gerichtshof in Straßburg zu | |
klagen und Recht zu bekommen. Schon vor fast zehn Jahren erklärte der EuGH, | |
[2][dass die Verfassung grundlegende europäische Werte verleugne] und | |
forderte, die Parlamente müssten die Verfassung ändern. Passiert ist jedoch | |
nichts. Die herrschenden nationalistischen Parteien wollen sich nicht in | |
die Suppe spucken lassen. Alles soll so bleiben, wie es ist. Und die | |
Außenwelt tut so, als sei alles okay, Brüssel und die Hauptstädte | |
akzeptieren für Bosnien und Herzegowina einen in Europa rechtlich | |
unhaltbaren Zustand. | |
BosnierInnen müssen das akzeptieren. Ob sie wollen oder nicht. Sie dürfen | |
immerhin Parlamente wählen, sogar mehrere. die Parlamente der Kantone in | |
der bosniakisch-kroatischen Föderation, das Parlament der Föderation, dann | |
das Parlament des Gesamtstaates. Bewohner der serbischen Teilrepublik haben | |
es leichter: Sie wählen nur das Parlament und den Präsidenten der | |
„Republika Srpska“ und das des Gesamtstaates. | |
Alle Wähler dürfen zudem die drei Präsidenten des Gesamtstaates wählen. In | |
der Föderation dürfen sogar Muslime und Kroaten jeweils bei der | |
Präsidentschaftswahl der anderen Volksgruppe mitwählen, was in den Augen | |
der zahlenmäßig unterlegenen kroatischen Nationalisten unfair ist. | |
## Zerstobene Träume | |
Einfach den besten Kandidaten oder Kandidatin zu wählen, geht aber generell | |
nicht. Wer einen Job will, wählt (nachweislich mit Handy-Foto) die | |
herrschenden Parteien. Oppositionelle können keineswegs sicher sein, dass | |
ihre Stimme zählt. Denn in den Wahlkommissionen sitzen Handlanger der | |
wichtigsten Parteien, sie können eine Stimme ungültig machen und die von | |
110-Jährigen, die schon seit 20 Jahren auf dem Friedhof ruhen, für gültig | |
erklären. Die ausländischen Wahlbeobachter kriegen diese Wahlmanipulationen | |
in der Regel gar nicht mit. | |
Als die internationalen Politiker am Konferenztisch in Dayton, Ohio 1995 | |
[3][Bosnien und Herzegowina einen Friedensvertrag verordneten,] schufen sie | |
gleichzeitig eine für demokratisch erklärte Verfassung. Mit der Präsenz | |
internationaler Akteure wie des Büros des Hohen Repräsentanten sollte das | |
Land in eine gemeinsame, bessere und friedliche Zukunft geführt werden. | |
Man wollte Demokratie und Rechtsstaat aufbauen und so die Voraussetzung für | |
eine gute wirtschaftliche Entwicklung schaffen, die schließlich in die | |
Integration des Landes in ein Europa der Prosperität und des Friedens | |
münden würde, so das Versprechen. Mit der Demokratie und mit der Bestrafung | |
der Kriegsverbrecher sollte der Neuanfang begonnen werden. | |
Heute sind diese Träume völlig zerstoben, die Versprechungen von damals | |
klingen nur noch wie Hohn. Wer in diesem Land geblieben ist, muss sich mit | |
dem in Dayton geschaffenen System arrangieren. Es gibt zwei Teilstaaten, | |
die Entitäten, es gibt 10 Kantone, den unabhängigen Bezirk Brcko. Dazu | |
kommt, dass sich auf Grundlage dieser Struktur drei Erfahrungswelten, drei | |
Medienwelten, also drei Öffentlichkeiten entwickelt haben. In den | |
Parlamenten besteht die „demokratische Kultur“ darin, die von den | |
herrschenden Nationalparteien definierten „Interessen“ der Volksgruppen | |
durchzusetzen. | |
## Eine lahme Ente | |
Es geht nicht um beste Lösungen für die Gegenwart und Zukunft des Landes. | |
Eine Krähe hackt der anderen kein Auge aus – in Mostar werden sogar | |
Kommunalwahlen blockiert, die beiden Nationalparteien der Kroaten und | |
Muslime haben sich auf eine Machtteilung geeinigt. Und langsam wird | |
deutlich, dass die Nationalisten der Kroaten und Serben ihre Kriegsziele | |
von 1992 endlich durchsetzen wollen: Das Land soll territorial nach | |
ethnischen Kriterien aufgeteilt werden. Dieses Modell wird zunehmend durch | |
ausländische Mächte gestützt. | |
Der starke Mann der Republika Srpska Milorad Dodik bekommt Hilfe für seine | |
Pläne der Sezession der serbischen Teilrepublik und der Vereinigung mit | |
Serbien: Er wurde vor einigen Tagen demonstrativ nach Moskau eingeladen. | |
Russland bildet serbisch-bosnische Militärs aus. Die nationalistischen | |
Kroaten der Herzegowina können mit der Hilfe aus (dem EU-Land) Kroatien für | |
ihre „Dritte Entität“ rechnen, die Nationalisten bei den Muslimen klammern | |
sich an eine vollmundig versprochene (militärische) Rückendeckung aus | |
Ankara. | |
Bei Jugendlichen der Unterschichten werden autoritäre Politikmodelle immer | |
populärer. Die USA und die EU dagegen lassen die Dinge schleifen und wollen | |
ungern an die Versprechen von Dayton erinnert werden. Dazu gehörte | |
immerhin, die territoriale Integrität des Landes und den demokratischen | |
Aufbau zu garantieren. Mit Trump sind die USA nicht mehr verlässlich und | |
die EU hat an Ansehen eingebüßt. Auch weil Brüssel nicht mehr Zähne zeigt, | |
weil es die Schwächung des Hohen Repräsentanten in Sarajevo zugelassen hat. | |
Der Hohe Repräsentant hätte zwar formell die Macht, nationalistische | |
Politiker des Amts zu entheben, doch niemand unterstützt ihn. Jetzt ist er | |
eine lahme Ente. Was sollen also junge BosnierInnen tun, wenn sie in einem | |
demokratischen Land leben wollen? Die Antwort ist jeden Tag erfahrbar. | |
Zehntausende Fachkräfte haben das Land im letzten Jahr in Richtung | |
stabilerer Demokratien verlassen. | |
7 Oct 2018 | |
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## AUTOREN | |
Erich Rathfelder | |
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