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# taz.de -- Debatte Bosnien und Herzegowina: Zündeln auf dem Balkan
> Die politische Lage in Bosnien und Herzegowina wird immer brisanter.
> Russland und die Türkei verfolgen dort jeweils eigene Interessen.
Bild: Das Land hat lange für seine Unabhängigkeit gekämpft
Vor wenigen Wochen sprach man erstmals wieder über einen Krieg in Bosnien
und Herzegowina. Die hochgeschwappte Diskussion hat sich inzwischen zwar
beruhigt, sie hat jedoch ein Schlaglicht auf die nach wie vor angespannte
Lage an der Südostflanke Europas geworfen. Das Land, das in den letzten
einhundert Jahren dreimal das zentrale Schlachtfeld in der Region war, ist
immer noch ein Seismograf für deren Entwicklung.
Wenn es auf dem Balkan kriselt, dann zeigt sich dies zuerst in Bosnien und
Herzegowina. Die Krisen in der Region hingen in der Geschichte immer mit
Konflikten der Großmächte zusammen. Im Schnittpunkt Sarajevo zeigen sich
auch heute die Interessen der internationalen Akteure deutlicher als
anderswo in der Region.
Hier spielen nicht nur die Gegensätze der [1][Nachbarstaaten Serbien] und
Kroatien eine Rolle, sondern auch jene der EU, Russlands, der USA – und
sogar jene der islamischen Mächte: [2][der Türkei] und neuerdings auch der
Golfstaaten und Saudi-Arabiens.
Mit den Einmischungen von außen werden die Konflikte zwischen den drei
bestehenden Lagern in Bosnien und Herzegowina selbst angeheizt. Mit der
versuchten Zerstörung der multinationalen und multireligiösen Gesellschaft
durch den Krieg der 90er Jahre und der darauf folgenden administrativen
Teilung des Landes in die serbische Teilrepublik und die
bosniakisch-kroatische Föderation fällt dies sogar noch leichter als zuvor.
## Dayton wird infrage gestellt
Der serbische Nationalismus hat einen langen Atem. Er hat den seit dem 19.
Jahrhundert bestehenden Traum, ein Großserbien zu schaffen, nie aufgegeben.
Ähnlich liegen die Dinge auf kroatischer Seite. Beide Nationalismen
sprechen Bosnien und Herzegowina bis heute das Existenzrecht ab, wollen das
Land beherrschen oder es unter sich aufteilen.
Nur die Bosniaken – Muslime – und die nichtnationalistischen linken
Strömungen haben bis heute an dem multinationalen Staat festgehalten.
Immerhin haben die internationalen Mächte im Abkommen von Dayton 1995 das
Existenzrecht des Staates Bosnien und Herzegowina garantiert.
Doch jetzt wird auch international das Abkommen wieder infrage gestellt.
Zwar hat die EU 2003 in Thessaloniki das Versprechen gegeben, die Staaten
des Balkans könnten langfristig in die EU eintreten, wenn sie sich in
Richtung Demokratie und Rechtsstaat entwickeln. Das hat große Hoffnung in
den Bevölkerungen ausgelöst.
Rechtsstaat und Demokratie sollten die Region stabilisieren und damit den
Weg zu einer positiven Wirtschaftsentwicklung öffnen. Doch mit der Krise in
der EU und mit dem Schwinden der Überzeugungskraft der europäischen Vision
könnte sich die Waage bedenklich auf die andere Seite neigen. Hinzu kommt,
dass die USA mit sich selbst beschäftigt sind.
## Russland will westliche Integrationspolitik stören
Diese Grundkonstellation hat ein politisches Vakuum eröffnet, das weitere
politische Spieler auf dem Balkan nutzen, um die Lage für ihre eigenen
Interessen zu funktionalisieren. Nachdem Wladimir Putin einen Kurswechsel
in seiner Europapolitik vollzogen hat, versucht Russland, auf dem Balkan
Verbündete zu finden, um die westliche Integrationspolitik zu stören.
Wichtigstes Pfund für die Russen sind die orthodoxen Bevölkerungen, die
traditionell große Sympathien für Russland empfinden – in Serbien,
Bulgarien, Mazedonien, Montenegro, aber auch in Griechenland. Ökonomisch
versucht Russland Abhängigkeiten zu schaffen.
Nicht nur dass die meisten Länder des Balkans vom russischen Gas abhängig
sind; in Serbien und der Republika Srpska befindet sich die Ölindustrie
schon in russischer Hand. Russische Banken versuchen, westliche und lokale
Banken aufzukaufen.
Vor allem geht es Putin aber um den politischen Einfluss. Eine weitere
Integration der Region in Nato und EU soll verhindert werden. Putin bietet
neben Militärhilfe in Serbien dem serbischen Teilstaat in Bosnien die
russische Unterstützung im Weltsicherheitsrat der UNO an. Eine
Volksabstimmung über die Loslösung der serbischen Teilrepublik von Bosnien
– was Krieg bedeuten könnte – ist so nicht unmöglich. Putin kann zündeln.
## Legitimation für die Russen
Auch die Türkei ist in den letzten Jahren aktiv geworden. Präsident Recep
Tayyip Erdoğan hat den muslimischen Bevölkerungen in Bosnien und
Herzegowina, in der Sandschakregion in Serbien, im Kosovo, in Mazedonien
und Albanien seine (in Bosnien auch militärische!) Unterstützung
zugesichert. Seine Vision von einer Erneuerung des Osmanischen Reiches ist
eine religiös geprägte politische Offensive, der es bisher aber an größerer
Wirtschaftskraft fehlt. In den Augen der Türken sind die muslimischen
Siedlungsgebiete auf dem Balkan „unser Land“.
Konkurrenz in Bezug auf die autochthonen muslimischen Bevölkerungen haben
die Türken durch die Aktivitäten der Golfstaaten und Saudi-Arabiens
erhalten. Die Emirate investieren Milliarden in riesige Tourismusprojekte
im Kanton Sarajevo, arabische Privatleute kaufen landwirtschaftlich
genutztes Land sogar in Serbien und Kroatien.
Bedeutsam ist, dass die Araber ihre fundamentalistische Spielart des Islam
vor allem in Bosnien zu verankern suchen und den traditionellen, toleranten
und offenen bosnischen Islam, der politisch für ein Zusammenleben aller
Religionen und Volksgruppen steht, zurückdrängen wollen.
Sowohl die Türken als auch die Araber haben mit ihrem Geld Einfluss auf die
muslimisch geprägte bosniakische Nationalpartei SDA gewonnen, die bisher
noch für ein multiethnisches Bosnien und Herzegowina eingetreten ist.
## Westen muss Gefahren erkennen
Türkei und Emirate fördern mit ihrer religiös geprägten Politik die
Abgrenzung der Bosniaken von den anderen Volksgruppen, also eine
Dreiteilung Bosnien und Herzegowinas auf ethnonationalistischer und
religiöser Ebene. Sie heizen damit die Spannungen in der Region an und
bieten zudem Legitimationen für eine aggressive russische Politik.
Und der Westen? Europa muss die Gefahren, die sich auf dem Balkan erneut
zusammenbrauen, erkennen. Auch die Sicherheitsrisiken. Dass in Brüssel und
Berlin allerdings ernsthaft durchdachte Gegenstrategien zu der russischen,
türkischen und arabischen Offensive auf dem Balkan entwickelt werden, ist
leider zu bezweifeln.
10 Oct 2016
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## AUTOREN
Erich Rathfelder
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