# taz.de -- Historikerin zu Massaker von Srebrenica: „Das war der ultimative … | |
> Im Juli 1995 ermordeten serbische Milizen 8.300 muslimische Bosniaken. | |
> Die Welt schaute zu. Die Historikerin Marie-Janine Calic zur Frage: | |
> Warum? | |
Bild: Ein Foto als Ikone des Versagens: Blauhelm-Kommandeur Karremans (r.) pros… | |
taz am wochenende: In [1][Srebrenica] fand 1995 das größte Massaker in | |
Europa nach 1945 statt. Lässt sich die Frage „Wie konnte das passieren?“ | |
heute eindeutiger beantworten als vor 25 Jahren? | |
Marie-Janine Calic: Sicher. Das Ausmaß des Massakers, die Rekonstruktionen | |
der Ereignisse anhand von Videos, Fotos, Zeugenaussagen, Exhumierungen, die | |
Beweise aus den Gerichtsverhandlungen in Den Haag und vor Ort sind | |
eindeutig: Es handelte sich um einen planmäßigen und systematisch | |
durchgeführten Massenmord. Wir wissen zudem, dass außer bosnisch-serbischen | |
Streitkräften auch Spezialeinheiten des serbischen Innenministeriums | |
beteiligt waren, und die UNO und die internationale Staatengemeinschaft | |
eine Teilverantwortung tragen. | |
Srebrenica war von der UN als „Sicherheitszone“ eingerichtet worden. War | |
diese Zone am Ende eine Falle? | |
Im Nachhinein sieht es so aus, es war aber nicht so gedacht. Srebrenica | |
befand sich in einem Gebiet, das die serbischen Streitkräfte kontrollierten | |
und „ethnisch gesäubert“ hatten. Sie hatten also Hunderttausende bosnische | |
Muslime vertrieben, Innenstädte belagert, Kulturdenkmäler zerstört. Da sich | |
die Staatengemeinschaft nicht dazu durchringen konnte, all das militärisch | |
zu verhindern, blieb nur eine humanitäre Strategie der Schadensbegrenzung. | |
Neben der Luftbrücke nach Sarajevo und den Hilfstransporten der | |
UNO-Blauhelmsoldaten waren es diese Sicherheitszonen, in denen die | |
Flüchtlinge humanitär versorgt werden sollten. | |
Man sieht auf Videos und Fotos vom April 1995, dass die niederländischen | |
Blauhelmsoldaten nach dem Einmarsch der serbischen Milizen in Srebrenica | |
die Flüchtlinge mit rot-weißem Flatterband schützten. Ein ziemlich | |
niedrigschwelliger Schutz. | |
Der Begriff „Sicherheitszone“ suggerierte etwas, was nie vorgesehen war: | |
militärischen Schutz vor Angriffen. Die etwa 400 Blauhelmsoldaten in | |
Srebrenica waren dafür weder ausgerüstet noch mandatiert. Sie mussten sich | |
strikt neutral verhalten. Durften Gewalt nur zur Selbstverteidigung | |
ausüben. | |
Der Kommandeur der niederländischen Blauhelme, Thomas Karremans, und seine | |
Stellvertreter wurden von Überlebenden wegen „Völkermord und | |
Kriegsverbrechen“ [2][vor Gericht gebracht], aber nicht verurteilt. Wie | |
viel Verantwortung hatten diese Soldaten? | |
Unbestritten ist, dass die Soldaten mitgeholfen haben, die muslimischen | |
Männer von den Frauen zu trennen und sie dann in Busse zu verfrachteten. In | |
dem guten Glauben, dass diese in Gefangenenlager kämen. Dass sie nicht | |
wussten, dass man die alle erschießen würde, muss man ihnen glauben. Aber | |
der humanitäre Auftrag der Soldaten beinhaltete, darüber Kenntnis zu haben, | |
was mit den Schutzbefohlenen passiert. Und die hatten sie nicht. | |
Auf einem berühmt gewordenen Foto sieht man Karremans und den serbischen | |
General und Kriegsverbrecher Ratko Mladić, wie sie sich mit einem Glas in | |
der Hand zuprosten. | |
Ja, das Foto ist zu einer Ikone des Versagens der UNO geworden. Tatsächlich | |
wurden die Blauhelmsoldaten unfreiwillig zu Komplizen. Aber wenn man sich | |
das Foto genauer ansieht, sieht man deutlich, dass Karremans nicht | |
triumphierend oder freundlich schaut, sondern eher ängstlich und | |
sorgenvoll. | |
Das Foto war letztlich auch ein Propagandasieg der Serben? | |
Das Foto ist immer falsch beschrieben worden. Der niederländische | |
Kommandant hatte in diesem Moment gerade über sein eigenes und das Leben | |
seiner Soldaten verhandelt. Dutzende von ihnen hatten die serbischen | |
Milizen als Geiseln festgehalten, Mladić drohte damit, sie zu erschießen, | |
wenn es zu Luftangriffen käme. Seit Monaten waren Konvois mit humanitären | |
Zulieferungen blockiert worden, sodass die Blauhelme selber nichts mehr zu | |
essen hatten. Das soll nichts rechtfertigen. Aber die Verantwortung hatten | |
letztlich die UN-Mitgliedsstaaten: Weder Frankreich noch die USA, | |
geschweige denn die Deutschen waren bereit, für Srebrenica einen Krieg zu | |
führen. | |
Karremans hatte sogar vor dem 11. Juli mehrfach Luftunterstützung | |
angefordert. Die Kampfflieger der Nato waren bereits gestartet und über der | |
Adria. Warum wurden sie im Zagreber UN-Quartier in letzter Minute | |
zurückgepfiffen? | |
Wie gesagt: Die Serben drohten, die Geiseln umzubringen, wenn es zu | |
Luftangriffen kommt. Schon vorher waren bei der Auslieferung von | |
Hilfsgütern etliche Blauhelme getötet worden. Am Ende war das Hauptquartier | |
in Zagreb gegenüber den Mitgliedsstaaten verantwortlich und von denen hatte | |
keiner zu diesem Zeitpunkt einem Kampfeinsatz zugestimmt. Der | |
niederländische Außenminister hat sich gegen einen Luftangriff | |
ausgesprochen, weil er das Leben seiner Soldaten nicht riskieren wollte. | |
Innerhalb des UNO-Krisenstabs in Zagreb war man sich dann uneinig, und es | |
kam zu keinem Einsatzbefehl. | |
Sie selbst waren als Regionalexpertin im Zagreber UN-Quartier. Wie haben | |
Sie selbst damals die Lage dort empfunden? | |
Wir waren alle sehr schlecht über die militärischen Vorgänge informiert, | |
trotz der morgendlichen Briefings. Die UN hat, wie die internationale | |
Politik, immer nur reagiert, häufig hektisch, unter dem Druck der | |
Ereignisse und mit sehr schwachen Mitteln. | |
Hat man die erklärte Absicht seitens der bosnischen Serben, die bosnischen | |
Muslime zu vertreiben, nicht ernst genommen? Oder gar begrüßt, in der | |
Hoffnung, dass dann endlich Ruhe ist in Jugoslawien, dem Land, das man in | |
Deutschland gerne auch als „Völkergefängnis“ diffamierte? | |
An verschiedenen Stellen gab es womöglich unterschiedliche Motive. Im | |
Zagreber UN-Hauptquartier hielt man es schlicht für unvorstellbar, dass die | |
Enklave militärisch eingenommen wird, um alle zu ermorden. | |
Haben Sie selbst daran gedacht, dass da gerade ein Völkermord stattfindet? | |
Nein. Die Dimension wurde ja wirklich erst später klar. Auch wenn in | |
Bosnien schon seit 1992 davon die Rede war, dass es einen Genozid an den | |
bosnischen Muslimen gibt, aufgrund der Gefangenenlager, in denen sie | |
massenhaft ermordet und misshandelt wurden. Nicht jede „ethnische | |
Vertreibung“ ist aber ein Genozid. Diesen nachzuweisen, ist sehr schwer. | |
Neben serbischen Politikern, haben auch französische und deutsche Linke, | |
amerikanische Journalistinnen und europäische Schriftsteller die Verbrechen | |
angezweifelt. Inwiefern wirkt sich das bis heute auf die kollektive | |
Erinnerung an dieses Verbrechen aus? | |
Dieser Krieg war von Anfang an ein Propagandakrieg, der von allen Seiten | |
geführt wurde. Deshalb umweht ihn immer noch der Hauch von | |
Rätselhaftigkeit. Und das, obwohl wir so gut wie alles wissen und alles | |
einfach nachzulesen ist, auch für einen Peter Handke. | |
Der Literaturnobelpreisträger, der behauptet, Srebrenica sei ein | |
Rachemassaker gewesen. | |
Was definitiv widerlegt ist. Vom kleinen Jungen bis zum Greis wurden in | |
Srebrenica 1995 alle muslimischen Männer ermordet. Das war nicht nur eine | |
Begleiterscheinung des Krieges. Der Begriff „Genozid“ ist daher richtig. | |
Allerdings ist er symbolisch aufgeladen, weil er eine Parallele zum | |
Holocaut nahelegt. Er wird von unterschiedlichen Seiten für politische | |
Zwecke ausgeschlachtet. | |
Wie genau? | |
Serben, die anerkennen, dass Kriegsverbrechen stattgefunden haben, etwa das | |
serbische Parlament, leugnen die planmäßige Vernichtungsabsicht. Sie halten | |
das für Propaganda, die dazu dient, ihnen den Teil Bosniens, den sie im | |
Krieg erobert haben, die heutige Republika Srbska, streitig zu machen. Auf | |
der anderen Seite ist der Begriff „Genozid“ Bestandteil des Gründungsmythos | |
des bosnischen Staats geworden. Mit ihm wird alles mögliche erklärt, unter | |
anderem eine Erbfeindschaft gegen die Serben. | |
War der Bosnienkrieg auch ein Kampf um die Deutung der Geschichte | |
Jugoslawiens? | |
Sicher. Im sozialistischen Jugoslawien hatte man sich darauf verständigt, | |
dass Bosnien das Land der Serben, Muslime und Kroaten ist. Es gab dort | |
keine einzige Gemeinde, die ethnisch homogen war. Der Krieg hat diese | |
Homogenität dann hergestellt. Die Erinnerung daran dient in dieser Region | |
nicht der Verarbeitung der Traumata, sondern dazu, die Spaltung | |
aufrechtzuerhalten und das Zusammenleben aller in einem Staat als unmöglich | |
erscheinen zu lassen. | |
Der UN-Generalsekretär Kofi Annan bezeichnete Srebrenica als größte Schande | |
in der Geschichte dieser Institution. Hat die internationale Politik ihr | |
Versagen besser aufgearbeitet als die Serben ihre Verbrechen? | |
Für die UN und die Europäische Gemeinschaft war Srebrenica der ultimative | |
Weckruf, mit größerer Einigkeit und angemesseneren Instrumenten in | |
Konfliktgebieten zu intervenieren. Zum Beispiel wurde das | |
Nichteinmischungsgebot modifiziert und das Prinzip der Schutzverantwortung | |
etabliert. Demnach kann es der Weltgemeinschaft erlaubt sein, | |
Massenverbrechen durch eine Militärintervention zu verhindern, wenn der | |
einzelne Staat darin versagt, seine Bürger zu beschützen. 2011 beschloss | |
der UN-Sicherheitsrat eine solche Intervention in Libyen. Eine stabile | |
Friedensordnung ist dort aber trotzdem nicht entstanden, ganz zu schweigen | |
von anderen Ländern, etwa Syrien, wo unzählige externe Akteure jeweils | |
unterschiedliche Kriegsparteien unterstützen. In Bezug auf die Lehren aus | |
Sebrenica kann man angesichts dessen kaum optimistisch sein. | |
Deutschland ist mit der Anerkennung der jugoslawischen Teilrepubliken | |
Kroatien und Slowenien als unabhängige Staaten 1991 vorgeprescht. Hätte der | |
blutige Krieg in seiner Dimension vermieden werden können, wenn das nicht | |
passiert wäre? | |
Deutschland kann nichts für die Auflösung Jugoslawiens und den sich daran | |
anschließenden Krieg. Daran haben allein die Akteure vor Ort Schuld. Aber | |
das Vorgehen Deutschlands war nicht zu Ende gedacht, etwa in Bezug auf die | |
Folgen für Bosnien-Herzegowina. Es hat eine Gesamtlösung für den | |
zerfallenden Vielvölkerstaat verhindert. Ob es eine solche damals überhaupt | |
hätte geben können, steht allerdings auf einem anderen Blatt. | |
Gibt es heute einen Plan für Bosnien? | |
Sicher, der hat sich aber überlebt: der Dayton-Vertrag von 1995, der den | |
bosnischen Staat in zwei Entitäten aufgeteilt hat und dessen Umsetzung bis | |
heute von einem „Hohen Repräsentanten“ der Staatengemeinschaft überwacht | |
wird. Tatsächlich aber hat dieser den Zustand des Krieges an einem | |
bestimmten Punkt einfach nur eingefroren. Und so ist Bosnien bis heute ein | |
dysfunktionaler Staat geblieben, ja die politische, ethnische und | |
psychologische Spaltung des Landes wird sogar immer schlimmer. | |
Deutsche Minister sprechen von Bosnien nicht mehr als dem Hinterhof, | |
sondern dem „Innenhof“ Europas. Trotzdem ist Bosnien immer noch nicht | |
Mitglied der EU. Schöne Worte, denen keine Taten folgen? | |
Ich glaube nicht mehr daran, dass Europa die [3][Probleme in Bosnien] oder | |
auf dem Westbalkan lösen muss. Das müssen die Menschen dort schon selber – | |
und sie könnten es bestimmt auch. Ich glaube sogar, dass die externen | |
Akteure mit ihrem Überprotektionismus sehr viel Schaden angerichtet haben. | |
Das hat der politischen Klasse und der Bevölkerung vor Ort systematisch die | |
Fähigkeit abtrainiert, selbst Verantwortung zu übernehmen, Kompromisse und | |
Lösungsansätze zu entwickeln. Viele haben sich gut damit eingerichtet, dass | |
andere für die eigenen Probleme zuständig sind. | |
Wäre es besser, die EU und die UN zögen sich aus Bosnien ganz zurück? | |
Schauen Sie sich nur mal das kleine Beispiel an, dass mit öffentlichen | |
europäischen Geldern Übersetzungen aus dem Kroatischen ins Bosnische und | |
Serbische und andersherum bezahlt werden. Das ist völlig überflüssig. Diese | |
drei Nationen können sich problemlos untereinander verständigen. Man | |
zementiert so die von Politikern vor Ort gewollte ethnische Spaltung und | |
verfestigt Probleme, statt sie zu bekämpfen. | |
11 Jul 2020 | |
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## AUTOREN | |
Doris Akrap | |
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