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# taz.de -- Medien über Genozid in Srebrenica: Das Mindeste
> Die deutsche Berichterstattung zeigt mangelhaftes Wissen über den
> Völkermord an den Bosniaken. Überall fehlt die Präzision und es wird
> verharmlost.
Bild: Srebrenica-Gedenkstätte in Potočari, Bosnien und Herzegowina, Aufnahme …
Es gibt diese eine Phrase, die in fast jedem Beitrag über den [1][Genozid
in Srebrenica] irgendwann auftaucht: „8.000 muslimische Männer und Jungen“.
Nachdem sich vergangenen Samstag der Völkermord in Srebrenica zum 25. Mal
gejährt hat, war der Satz tagelang immer wieder zu lesen und zu hören – in
der [2][Süddeutschen], bei [3][Arte], [4][Deutschlandfunk], dpa, einmal
auch in der taz. Doch jedes Wort hier weist auf gravierende Fehler hin. Und
auf etwas noch Größeres: ein medial weit verbreitetes Fehlverständnis des
Genozids gegen Bosniaken.
Fangen wir an mit „8.000“. Die Srebrenica-Gedenkstätte nennt derzeit die
Zahl von 8.372 Opfern – nicht ohne den Zusatz „über“. Denn von einer
Dunkelziffer muss ausgegangen werden. Wenn ganze Familien ermordet wurden,
war nämlich niemand mehr übrig, die Toten registrieren zu lassen. Es wäre
also richtig, zumindest „mehr als 8.300“ zu schreiben, statt bloß “8000�…
oder sogar „7.000“, wie es manche ohne jegliche Basis in Fakten tun. In
jedem Fall erstaunt das Bedürfnis im sonst so präzisen Journalismus, hier
so massiv abzurunden.
8.372 ist dabei die Zahl der bisher identifizierten Opfer, die in mehreren
Massakern in nur fünf Tagen im Juli 1995 ermordet wurden – also wohlgemerkt
nicht die Zahl der zwischen 1992 und 1995 insgesamt in Srebrenica, im
Genozid oder im Krieg getöteten Menschen. Im gesamten Bosnienkrieg starben
über 100.000 Menschen – in einem Land, das weniger Einwohner hat als
Berlin.
Kommen wir nun zum Wort „muslimisch“. Bosniaken, also bosnische Muslime,
durften sich im ehemaligen Jugoslawien nicht als Bosniaken bezeichnen. Erst
1971 wurden sie zur „konstitutiven Volksgruppe“ – und selbst dann bloß a…
„Muslime im ethnischen Sinn“, was ihre historische und kulturelle Identität
als Bosniaken leugnete. Das Recht, sich Bosniaken zu nennen, erkämpften sie
erst mit Bosniens Unabhängigkeit 1992.
## Katharsis für Europa
Es ist natürlich wichtig und richtig, die Opfer auch als Muslime zu
benennen. Antimuslimischer Rassismus spielte eine große Rolle im Genozid.
Der Fehler liegt darin, die Opfer ausschließlich „Muslime“ zu nennen,
während die Täter im gleichen Text nie nach Religion, sondern nach Ethnie
(„serbisch“) benannt werden. Wenn man die Opfer seit Jahren als Muslime
identifiziert, dann kann man die Täter auch „Christen“ nennen. Es wäre
nicht nur korrekt, sondern auch kathartisch für Europa, die Täter endlich
als weiße, europäische Christen zu markieren, statt einzig mit einer
Ethnie, die den meisten auf dem Kontinent fern und anders vorkommt.
Kommen wir schließlich zu „Männer und Jungen“. Dieser Teil der oft
wiederholten Phrase macht ermordete Frauen und Mädchen unsichtbar. [5][Von
ihnen sind über 570 bisher identifiziert]. Außerdem kann man ermordete
Neugeborene und Babys nicht unter „Jungen“ oder „Jugendliche“
zusammenfassen.
Genozid bedeutet nicht „viel töten“. Laut UN-Genozidkonvention ist es,
vereinfacht, die Ausführung einer von mehreren möglichen Taten, mit der
Absicht eine Menschengruppe zu vernichten. Massenmord ist dabei eine
Methode, andere sind Zwangssterilisationen, die erzwungene Überführung von
Kindern der Gruppe in eine andere und vieles mehr.
Zum Unwissen über Genozide generell kommt Unwissen zum Genozid gegen
Bosniaken. Biljana Plavšić, die Vizepräsidentin von [6][Radovan Karadžić],
sah Bosniaken als „genetisch entstelltes Material“ und vertrat einen
extremen biologistischen Rassismus. In einem Interview mit der serbischen
Zeitung Svet erklärte sie 1993: „Es war genetisch entstelltes Material, das
den Islam annahm“ –und sprach davon, dass dieses Gen sich mit jeder
nachfolgenden Generation stärker konzentriere. „Es ist ausdrucksstark und
diktiert ihre Art zu denken und sich zu benehmen, die in ihren Genen
verwurzelt ist. Und im Laufe der Jahrhunderte sind die Gene weiter
verfallen.“
## Die Leugner suchen sich Gründe
Systematische Vergewaltigungen wurden gezielt als Genozidmethode genutzt,
Bosniakinnen psychisch und körperlich zu brechen und zu zwingen, Kinder mit
„serbischem Blut“ zu gebären. [7][Dass während des Bosnienkrieges 50.000
Frauen vergewaltigt wurden], war keine Nebenwirkung des Genozids, sondern
Teil davon.
Leugner sagen oft, Srebrenica sei kein Genozid, da ja „nur“
oder„überwiegend“ männliche Personen ermordet wurden. Oft fügen sie hinz…
dass die Männer bewaffnet gewesen seien und die Gewalt gegen sie bloß
Notwehr. Auch darum ist „Männer und Jungs“ ohne Kontextualisierung so
gefährlich.
All diese Fehler stecken in der kurzen Phrase „8.000 muslimische Jungen und
Männer“. Doch es gibt noch viele mehr. Die Berichterstattung zu Srebrenica
offenbart schockierende Wissenslücken, mangelndes Kontextverständnis und
womöglich einfach großes Desinteresse.
Das zeigt auch die immer wieder auftauchende Phrase von den
Kriegsverbrechen auf „allen Seiten“. Laut Untersuchungen der UN sind über
90 Prozent aller Kriegsverbrechen im gesamten Bosnienkrieg von der
serbischen Seite verübt worden, der Rest teilt sich auf mehrere andere
Parteien auf.
## Falsches Ausgleichen
Mit „Verbrechen auf allen Seiten“ bemüht sich der Journalist um eine
scheinbar neutrale, haltungsbefreite Formulierung – macht sich aber der
Genozidverharmlosung schuldig. Dies gilt nicht nur für die ausdrückliche
Nutzung der Phrase „alle Seiten“, sondern auch für Framing oder ungenaue
Beiträge, in denen der Eindruck entsteht, es hätte sich um einen
ausgeglichenen Krieg gehandelt, bei dem alle eine gleich große
Verantwortung tragen. Dass dieses falsche Ausgleichen Genozidleugnung ist,
sollte in Deutschland spätestens bekannt sein, seitdem Neonazis anfingen,
mit der Bombardierung Dresdens zu „argumentieren“.
Mal abgesehen davon, dass über all das ohnehin nicht oft genug berichtet
wird, fehlt dann offenbar in den Redaktionen das Wissen, um es richtig zu
machen. Zur Recherche werden Texte benutzt, deren Fehler man nicht erkennt
und in Dauerschleife reproduziert. Betroffene erleben meist, dass sie nicht
als Experten anerkannt werden, sondern als „unobjektiv“ gelten. Kritik wird
seit Jahren geäußert, sie kommt aber offenbar nicht an. So entsteht ein
Teufelskreis, in dem oft gelesene, vertraute Fehler nicht hinterfragt
werden, aber Fakten kontrovers scheinen – und am Ende wird lieber „Lager“
und „ethnische Säuberung“ geschrieben, statt Konzentrationslager und
Genozid.
Der Genozid gegen Bosniaken wird von der EU, den USA und zahlreichen
Parlamenten weltweit anerkannt, ist mehrfach gerichtlich festgestellt
worden, ist auf Hunderttausenden Seiten dokumentiert und mit dem größten
DNA-Identifikationsprojekt der Weltgeschichte belegt. Und doch müssen
Überlebende immer wieder Leugnung und Widerrede ertragen, auch in deutschen
Medien. Biljana Plavšić, die Bosniaken entstellte Gene zuschrieb, lebt
heute frei in Serbien, wo sie als Heldin gefeiert wird.
Währenddessen leben Zehntausende vergewaltigte Frauen mit psychischen und
körperlichen Folgen und trauern um geliebte Menschen, die nicht mehr leben.
Sensible und korrekte Berichterstattung ist da das Mindeste, was man
erwarten kann.
17 Jul 2020
## LINKS
[1] /25-Jahre-nach-dem-Genozid-von-Srebrenica/!5698987
[2] https://www.sueddeutsche.de/politik/srebrenica-voelermord-25-jahre-bilder-1…
[3] https://www.arte.tv/de/afp/neuigkeiten/gedenken-massaker-von-srebrenica-vor…
[4] https://www.deutschlandfunkkultur.de/der-tag-mit-gunter-gebauer-25-jahre-ma…
[5] https://www.gfbv.de/de/news/srebrenica-noch-fehlen-die-sterblichen-ueberres…
[6] /Kommentar-Finales-Urteil-gegen-Karadic/!5581388
[7] https://news.un.org/en/story/2011/11/394492
## AUTOREN
Melina Borčak
## TAGS
Srebrenica
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