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# taz.de -- Angegriffene Pressefreiheit in Ungarn: Kämpfer an Orbáns Medienfr…
> Eine österreichische Journalistin wird tagelang in Ungarns TV-Nachrichten
> diffamiert. Orbán-treue Medien sehen sich als Teil eines rechten
> Kulturkampfes.
Bild: Viktor Orbán während des Papstbesuchs am 30. April
Budapest taz | Es ist der Vormittag des 6. April 2021, ein Dienstag, als
die Journalistin [1][Franziska Tschinderle eine Mail aus den
Redaktionsräumen des Magazins profil] im 19. Wiener Bezirk nach Brüssel
schickt. Sie geht an mehrere EU-Abgeordnete der ungarischen
Regierungspartei Fidesz. Tschinderle stellt ihnen drei, wie sie sagt „total
routinemäßige“ Fragen.
Doch schon ab dem folgenden Tag wird Tschinderle wegen dieser Mail in der
Hauptnachrichtensendung des ungarischen staatlichen TV-Senders M1
angegriffen – mit Foto, unter Nennung ihres Namens. Fünf Abende in Folge
wird Tschinderle attackiert, ohne dass sie vorgewarnt wird oder die
Möglichkeit einer Stellungnahme bekommt. „Sie haben mich schwerst
diffamiert und versucht, mich so als so naiv und lächerlich darzustellen
wie möglich,“ sagt Tschinderle. Sogar Österreichs ÖVP-Außenminister
Alexander Schallenberg schaltet sich ein und protestiert scharf.
Angriffe auf Journalist:innen durch die Fidesz-Regierung sind in Ungarn
keine Seltenheit. In den dreizehn Jahren, seit Ministerpräsident Viktor
Orbán im Amt ist, hat er die Medien – staatliche wie private – weitgehend
unter seine Kontrolle gebracht.
Doch der Fall Tschinderle ist auch für ungarische Verhältnisse
außergewöhnlich. Dass in Deutschland eine vergleichbare Anfrage einer
ausländischen Journalistin, etwa an die CDU, zum Thema der „Tagesthemen“
gemacht würde, sei „unvorstellbar“, sagt Franziska Tschinderle. „Aber in
Ungarn ist es passiert. Und da muss man sich die Frage stellen: Wieso
berichten die das? Wie unabhängig sind die überhaupt? Wer bereitet so einen
Beitrag vor?“
Die taz ist diesen Fragen in einer mehrmonatigen Recherche nachgegangen.
Sie hat mit hohen ehemaligen Mitarbeitern des staatlichen Mediensystems in
Ungarn gesprochen, mit Wissenschaftler:innen, Aktivist:innen,
Politiker:innen und konnte interne Dokumente einsehen. Die Recherche
zeigt, wie sich in dem Land ein Konglomerat aus privaten und staatlichen
Medien gebildet hat, für das es völlig selbstverständlich ist, mit der
Fidesz-Regierung Hand in Hand zu arbeiten.
## Regierungstreue Medien gegen „Globalisten“ und „Woke“
Die Mechanismen, die Franziska Tschinderle in die Nachrichten brachten,
zeigen, wie Ungarns staatsnahe Medien sich heute sehen: Als Akteure in
einem Kulturkampf von rechts, in dem die Nation gegen „Globalisten“, „Wok…
und Liberale verteidigt werden muss. Und weil die freie Presse diesen
Gruppen zugerechnet wird, wird auch sie nach Kräften bekämpft. So wie
Tschinderle.
Sie hatte sich in ihrer Mail an die Fidesz-Abgeordneten nach einem Treffen
erkundigt, das da gerade eine Woche zurückliegt: Ungarns Ministerpräsident
Viktor Orbán hatte den damaligen italienischen Innenminister Matteo Salvini
und Polens Ministerpräsidenten Mateusz Morawiecki nach Budapest eingeladen.
Die drei kündigten die Gründung einer neuen Parteienallianz an – für eine
„Wiedergeburt Europas auf Grundlage christlicher Werte“, wie Orbán es
formulierte.
„Was ist das Ziel dieser Allianz?“, fragte Tschinderle in ihrer Mail an die
Abgeordneten. Und: Weder die FPÖ noch die AfD oder das französische
Rassemblement National von Marine Le Pen waren bei dem Treffen dabei.
„Warum fehlten sie?“, wollte Tschinderle wissen. Denn Versuche, solche
Allianzen zu bilden, scheiterten in der Vergangenheit an politischen
Differenzen. „Wie lässt sich eine Spaltung dieses Mal vermeiden?“, war ihre
dritte Frage.
Tschinderle zielte auf eines der größten strategischen Probleme der Rechten
in Europa. Schon vor der EU-Wahl 2019 hatten sie versucht, eine gemeinsame
Liste aufzustellen, am liebsten mit einem gemeinsamen Wahlprogramm und
womöglich einem Spitzenkandidaten. Doch die Gräben bei der
Wirtschaftspolitik, beim Antisemitismus und vor allem beim Thema Russland
sind kaum überbrückbar. Die nach der Wahl 2019 neu gebildete „Identität und
Demokratie“-Fraktion ist deshalb bis heute nur die sechstgrößte im
EU-Parlament, obwohl extrem rechte Parteien in vielen Ländern erhebliche
Stimmenanteile haben.
## Auf die Presseanfrage folgt die Diffamierung
Tschinderle stellte legitime Fragen zu einem relevanten Thema. Eine Antwort
bekommt sie nie. Am folgenden Tag, dem 7. April, schreibt ihr die
Fidesz-Fraktionsmitarbeiterin Petra Paulik: Nach Rücksprache mit dem
Fraktionsvorsitzenden Tamás Deutsch habe man entschieden, sich nicht zu
äußern, weil Tschinderle „keine eigentliche Frage“ gestellt, sondern
„Sticheleien“ geäußert habe.
Dabei hätte man es bewenden lassen können.
Doch zu dieser Zeit waren Redakteure der ungarischen Staatsmedien-Holding
MTVA längst dabei, einen Beitrag zu verfassen, in dem Tschinderle die
Hauptfigur war.
Zur MTVA gehört der Sender M1. Jeden Tag um 19:30 Uhr sendet er „Híradó“,
die wichtigste Nachrichtensendung des Landes, vergleichbar mit den
„Tagesthemen“. [2][Am 7. April, in Minute 35, spricht die
„Híradó“-Moderatorin davon,] dass sich eine „österreichische liberale
Journalistin“ mit „provokativen Fragen“ an Fidesz-Abgeordnete gewandt hab…
Ihr Foto wird gezeigt und ein Screenshot von ihrer Mail.
Tschinderle habe „lächerliche“ und „amateurhafte“ Fragen gestellt, um
„vorgefasste, voreingenommene Aussagen“ zu tarnen, heißt es. Es gehe darum,
„die entstehende, starke, europäische christlich-demokratische Allianz im
Vorfeld anzugreifen“ – ein „beispielloser Angriff der liberalen
europäischen Presse“. Der Zweck des Ganzen sei klar: Die Journalistin wolle
die „neue Bewegung“ als rechtsextrem brandmarken. Der M1-Beitrag dauert 4
Minuten, bevor es mit Fußball weitergeht.
Viktória Serdült, eine mit Tschinderle befreundete Journalistin aus
Budapest, sieht den Beitrag. Sie schickt Tschinderle eine
Messenger-Nachricht. Die ist an dem Abend in ihrer Wiener Wohnung. Sie
schaut sich die M1-Sendung im Netz an, versteht aber kein Ungarisch.
Serdült übersetzt ihr, was gesagt wurde.
## Tagelange Attacken mit Namen und Foto
M1 ist noch nicht fertig mit Tschinderle. [3][Bis zum 10. April wird sie in
fünf Ausgaben der „Híradó“-Nachrichten wieder], namentlich, mit Foto,
attackiert. Die Vorwürfe sind stets dieselben.
Ab dem 8. April greifen auch große staatsnahe Medien die Sache auf,
darunter die Onlineportale Origo und 888, die Mandiner-Gruppe und Magyar
Nemzet. Für schnellen Ruhm habe Tschinderle zeigen wollen, was für eine
Nazidiktatur Ungarn sei, schreiben sie.
Es liegt auf der Hand, dass die Fidesz-Fraktion im EU-Parlament daran
beteiligt war, dass Tschinderles Anfrage bei der MTVA landete. Die Fraktion
schweigt dazu. Weder die Fraktionsmitarbeiterin Paulik noch Tamás Deutsch
antworten auf eine Anfrage der taz.
Der Hauptautor der Berichte über Franziska Tschinderle heißt Balázs Bende.
Über 20 Jahre arbeitete er fürs öffentliche Fernsehen, zuletzt als Leiter
des Auslandsressorts von MTVA. Bende hatte ein eigenes Magazin,
kommentierte das Weltgeschehen und schimpfte oft. Ein ungarischer Tucker
Carlson. 2022 steigt er plötzlich aus – offiziell aus gesundheitlichen
Gründen. Bende war streitbar, eine Fernsehpersönlichkeit. So einer schmeißt
nicht einfach hin, dachten viele und fragten sich, ob es noch andere Gründe
gab.
## Besuch bei Balázs Bende
Bende hat sich seit seinem Rückzug nicht mehr öffentlich geäußert, lehnte
alle Interviewanfragen ab. Die taz suchte ihn auf. Er lebt heute
zurückgezogen auf dem Land. Der Weg dorthin führt von Budapest nach Süden,
etwa eine Autostunde Richtung Serbien. Die Navigation führt zunächst zu
einer verlassenen Verteilerstation, bei der die Zufahrt zugewachsen ist.
Rundum kleine, einfache Höfe mit kalkverputzten Wänden und Holzscheunen,
die nur über unbefestigte Stichwege zu erreichen sind. Schafe grasen auf
der Wiese. Nirgends ist jemand zu sehen.
Auf einer Weide neben einem Pickup-Truck steht ein Mann mit praktischer
dunkelgrüner Weste, lockerer Hose und Gummistiefeln. Balázs Bende? „Das bin
ich“, sagt der Mann und hebt den Arm. Ein Bulle sei ihm ausgebüchst, den
habe er eben erst eingefangen und nun müsse er den Zaun reparieren. Daher
könne er gerade nicht sprechen. Er schlägt ein Treffen in einer Stunde vor
und empfiehlt ein Bistro mit ungarischer und internationaler Küche in der
Nähe des Ortskerns.
In einem Hinterzimmer des Bistros sind die Wände bis zur Decke mit Büchern
vollgestellt. Aufkleber auf den Buchrücken verraten, dass sie aus einer
Bibliothek stammen. Es sei Literatur aus der Sowjetzeit, die keiner mehr
lesen wolle, in der man aber manchmal sehr Interessantes entdecken könne,
sagt Bende. Er kommt wie verabredet und scheint fast darauf gewartet zu
haben, endlich wieder gefragt zu werden. Er nimmt sich Zeit.
Bende sagt, er sei nicht der Meinung, dass Journalisten untereinander
Feinde sein sollten. Er könne sich denken, dass er für linksliberale
Journalisten nicht der Held der Geschichte sei. Das sei in Ordnung für ihn.
Drei Dinge seien ihm wichtig: Dass ihm nicht das Wort im Mund herumgedreht
werde, dass er heute kein Journalist mehr sei und dass er aus freien
Stücken aufgehört habe, um mehr Zeit mit der Familie zu verbringen.
Warum hat er den Beitrag über Franziska Tschinderle damals gemacht? Bende
erinnert sich, obgleich nicht an alles. Er sagt, er sei wohl nicht der
Autor des allerersten Beitrages gewesen. Aber es sind zwei Jahre vergangen.
Franziska Tschinderle kannte er vorher nicht und auch nicht das Magazin
profil, für das sie arbeitet.
Tschinderle sei es mit ihren Fragen nicht darum gegangen, etwas
herauszufinden, sagt Bende, sondern sie habe eine „politische Erklärung“
abgeben wollen, dass die ungarische Regierung enge Verbindungen zu
rechtsextremen Gruppen unterhalte.
Ihre Fragen seien „nicht fair“ gewesen. „Denn sie erweckten den Eindruck,
dass die ungarischen Wähler nichts von Demokratie, nichts von der Welt
verstünden. Sie hätten ihre Stimme unüberlegt abgegeben und das Ergebnis
sei eine unterdrückerische, rechtsextreme und fremdenfeindliche Regierung,
die den Menschen im Nacken sitzt und sie in den Schmutz zieht“, sagt Bende.
„Es war eine Beleidigung. Gegenüber einem Ungarn.“
## Keine Reue wegen des Bericht über Tschinderle
Dass er die Berichte über die junge Kollegin produziert habe, bereue er
nicht, sagt Bende. Und setzt doch nach: „Ich denke, dass es eine Episode in
der Geschichte des europäischen Journalismus war, die nicht nötig war.“ Er
selbst sei danach von internationalen Medien kritisiert worden.
Doch wie ist die E-Mail bei ihm gelandet, die Tschinderle an die
Fidesz-Fraktion im EU-Parlament schickte? Soweit er sich erinnere, sei es
die Regierung gewesen, die die Information an die Medien verschickt habe.
„Ein Pressesprecher oder so“, sagt Bende. „Alles kam per E-Mail.“ Zuerst
eine englische Version, Stunden später auch eine ungarische Version.
In Ungarn würden „zwei Welten aufeinanderprallen“, sagt Bende: eine
linksliberale und eine konservativ-nationale. „Wenn man sich die Medien
anschaut, nicht nur in Ungarn, wenn man sich Europa anschaut, die USA,
besonders im Wahljahr, dann ist das ein Krieg, ein schmutziger, blutiger
Krieg.“
Dass die Regierung die Medien „besitzt oder zentralisiert“, glaube er
nicht, sagt Bende. „Aber bestimmte Medien sind jetzt in den Händen von
Leuten, die dasselbe Verständnis der Dinge haben wie die Regierung.“
## Diplomatische Verstimmungen
Am Tag nach dem Tschinderle-Beitrag auf M1 ruft Österreichs Außenminister
Alexander Schallenberg (ÖVP) seinen ungarischen Amtskollegen Péter
Szijjártó an. Er habe seine „deutliche Ablehnung über die Attacke“ zum
Ausdruck gebracht, sagt das Ministerium auf Nachfrage der taz. Offenbar
erfolglos: Kurz nach dem Telefonat schreibt Szijjártó auf Facebook von
einer „Heuchelei“: Eine liberale Journalistin dürfe aufgrund der
Pressefreiheit Fake News über ein Land verbreiten, aber wenn ein anderer
Journalist wage, Kritik daran zu üben, sei dies ein Angriff auf die
Pressefreiheit.
Viele solidarisieren sich mit Tschinderle: Die ungarische Oppositionspartei
Momentum Mozgalom etwa oder Reporter ohne Grenzen (ROG): Der Versuch,
kritischen Journalismus „über den verlängerten Arm der ungarischen
Regierung – das Staatsfernsehen – zu unterbinden und ins Lächerliche zu
ziehen, ist untragbar“, so ROG. Das Statement wird – ebenso wie andere
Solidaritätsbekundungen – am nächsten Tag auf M1 zitiert und gegen
Tschinderle verwendet: Liberale Medien und NGOs hätten sich zusammengetan,
um die österreichische Journalistin zu verteidigen und Ungarns Medien
anzugreifen.
William Horsley, der Direktor des Zentrums für Medienfreiheit der Uni
Sheffield und Vorstand der Vereinigung Europäischer Journalisten AEJ hat
wegen des Vorfalls Beschwerde beim Europarat eingereicht. „Die
herabwürdigenden Kommentare und Beleidigungen gegen Tschinderle verstießen
gegen die in Europa für öffentlich-rechtliche Sender üblichen Standards der
Unparteilichkeit und Toleranz“, sagt Horsley der taz. Die ungarische
Regierung ist gegenüber dem Europarat zu einer Stellungnahme verpflichtet.
Doch sie hat sich nicht geäußert.
Seitdem Orbán 2010 an die Macht kam, arbeitet er daran, die Medien unter
seine Kontrolle zu bringen. Dabei verfolgt er von Beginn an zwei parallele
Strategien: Die öffentlich-rechtlichen Medien wurden ausgebaut und auf
Linie gebracht, die privaten diffamiert, unter Druck gesetzt – und von
seinen Getreuen aufgekauft. Seither wird die Weltsicht der Fidesz auf fast
allen Kanälen in Ungarn verbreitet. Kritische Medien finden sich heute nur
noch online.
## Orbán-Freunde kaufen Medien auf
Einst regierungskritische Medien wie Origo, das Korruption im Umfeld Orbáns
aufdeckte, wird von der ungarischen Telekom, einer 100-prozentigen Tochter
des deutschen Unternehmens, 2015 an das fidesz-nahe Unternehmen New Wave
Media verkauft. Die Deutsche Telekom bekommt kurz darauf
Mobilfunkfrequenzen und einen milliardenschweren staatlichen Auftrag zum
Ausbau des Breitbandnetzes. Und der neue Origo-Inhaber, ein enger Freund
Orbáns, bringt das Medium auf Regierungslinie.
So oder ähnlich ergeht es zahlreichen Medienunternehmen. 2018 schließt die
konservative Magyar Nemzet, die zuvor in den Ruin getrieben wurde. Es war
die letzte überregionale Tageszeitung, die sich der Regierungskontrolle
entzogen hatte. 2019 dann wird eine regierungsfreundliche Tageszeitung in
Magyar Nemzet umbenannt.
Mit einem Mediengesetz handelt Orbán sich international Kritik ein. Es
krempelte die Medienlandschaft um. Der wichtigste Akteur dabei ist der
Media Services and Support Trust Fund (MTVA), eine Art Zentralredaktion der
Staatsmedien. Das Jahresbudget der MTVA beträgt über 250 Millionen Euro. An
der Spitze der MTVA steht seit 2018 Dániel Papp, ein Ex-Funktionär der
rechtsextremen Jobbik-Partei. Der MTVA ist der ungarischen Medienbehörde
unterstellt, die vom Parlament nach dem Vorschlag des Ministerpräsidenten
gewählt wird. Über der Regierungskommunikation steht Antal Rogán, der
Leiter von Orbáns Kabinettsbüro, der seit Kurzem auch die zivilen
Geheimdienste koordiniert.
Die NGO Mérték hat zuletzt 2019 die Umsätze im ungarischen Mediensektor
untersucht und festgestellt, dass auf die Regierungsmedien 78 Prozent
entfallen. Es ist ein schlagkräftiges Instrument, um jene anzugreifen, die
als Feinde des Fidesz-Projekts gesehen werden.
## Fidesz-freundlicher Sender verweist auf Ethikkodex
Im Februar 2023 ist eine Delegation der EU-Kommission für eine Untersuchung
zur Rechtsstaatlichkeit in Budapest. Der MTVA-Chef Dániel Papp spricht
ihnen gegenüber von „Garantien für Ausgewogenheit und Unparteilichkeit“,
die im MTVA-Ethikkodex, im Mediengesetz und im Ethikkodex des
öffentlich-rechtlichen Rundfunks enthalten seien. Oppositionsparteien
würden zu Unrecht versuchen, die öffentlich-rechtlichen Medien mit „Lügen
auf die politische Bühne zu zerren“. „Eine Grundregel für die Arbeit der
ungarischen öffentlich-rechtlichen Medien ist, dass die Politik keinen
Einfluss auf die Produktion von Inhalten haben darf.“
Der Tschinderle-Fall zeigt, dass das getrost bezweifelt werden darf.
Was ihr widerfuhr, ist symptomatisch für den Umgang mit Orbán-Gegnern und
missliebigen Journalist:innen: Sie werden diffamiert und eingeschüchtert.
„Hätten wir die absolute Mehrheit, könnten wir’s wie der Orbán machen“,
schwärmte der damalige FPÖ-Vizekanzler Heinz-Christian Strache 2018 über
Ungarns Medienpolitik. „Zack, Zack, Zack“, Journalisten auswechseln zum
Beispiel.
2017 veröffentlichte das regierungsnahe Onlineportal 888 eine Liste mit
acht in Ungarn tätigen Korrespondent*innen. Der Titel „Wir stellen die
ausländischen Propagandisten von Soros vor.“ Den Korrespondent:innen
läge alles daran, Ungarn vor der internationalen Öffentlichkeit zu
diskreditieren, heißt es.
Unabhängige Journalist:innen in Budapest vermuten, dass die Regierung
Listen über regierungskritische Journalist:innen führt und diesen
Interviews und den Zugang zu Regierungspressekonferenzen verweigert.
## Heimliche Tonaufnahmen belegen Regierungstreue
Andererseits wird in den Sendern auf Regierungstreue geachtet. Die taz
konnte eine E-Mail eines Vorgesetzten an einen MTVA-Reporter einsehen, die
genau auflistet, welche Teile einer Rede von Viktor Orbán der Reporter
erwähnen solle.
[4][Radio Free Europe hatte aufgedeckt, dass es bei MTVA Anweisungen gab,
vor der Wahl zum EU-Parlament 2019 regierungsfreundlich zu berichten]. Das
belegten heimlich aufgenommene Tonmitschnitte eines Treffens vom März 2019,
an dem alle Angestellten des Auslandsressorts von MTVA teilnehmen mussten.
Eingeladen hatte der Chef der Auslandsabteilung, Balázs Bende – der
Journalist, der die Berichte über Franziska Tschinderle verfasst hat. Auf
dem Mitschnitt ist Bende mit den Worten zu hören: Die „Opposition wird in
dieser Institution nicht unterstützt“. Wem das nicht passe, der könne
kündigen, sagt er.
Ebenfalls zu hören ist der Nachrichtenchef von MTVA, Zsolt Németh. Er
erklärt den Mitarbeiter:innen, wie sie Wertungen in ihre Berichterstattung
einfließen lassen können, indem sie etwa einen passenden Experten eines
regierungsnahen Instituts einladen. Diese Methode, formal korrekte
Nachrichtenberichte tendenziös zu gestalten, wurde der taz durch
Ex-Mitarbeiter von der MTVA bestätigt. Das Rezept: Eine Stimme aus der
Regierung darf Kritik aus der Opposition schon entkräften, bevor sie
überhaupt vorgebracht wird.
Auch der Journalist András Rostoványi berichtet der taz von dieser Art der
Meinungsmache im Sinne der Regierung Orbáns. Über mehrere Jahre hat er
unter Balázs Bende bei der MTVA gearbeitet. Wir treffen den Whistleblower
in einer angemieteten Altbau-Wohnung im alten jüdischen Viertel von
Budapest, in dem sich heute Restaurants und szenige Kneipen
aneinanderreihen.
Er habe sehr gut verdient bei MTVA, sagt uns Rostoványi, es aber irgendwann
nicht mehr ausgehalten. Regelmäßig seien Beiträge umgeschnitten worden,
wenn eine erste Version aus der Mittagssendung den Vorgesetzten nicht
gepasst hätte. Berichte würden „ideologisch geprüft und auf eine
regierungsfreundliche Linie gebracht“.
## Vorgesetzte achten auf Regierungslinie
Rostoványi berichtet in einem anderen Fall von einer Rede Orbáns im
EU-Parlament 2015. [5][Darin verteidigte er seine Migrationspolitik und die
von ihm aufgebrachte Diskussion um eine Wiedereinführung der Todesstrafe].
„Die erste Version des Berichts handelte noch von der Todesstrafe“, sagt
Rostoványi. „Aber dann gab es eine Stimme von außen, die sagte, dass wir
die Todesstrafe fallen lassen sollen.“ Der Bericht sei dann überarbeitet
worden, in der Abendsendung habe das Thema gefehlt.
Im Redaktionsalltag seien solche Anweisungen über die Vorgesetzten
gekommen, sagt Rostoványi. „Manchmal ging er hinaus, sprach mit jemandem am
Telefon und kam mit einer Anweisung zurück.“ Sogar ein Wort für diese
„Stimme von außen“ habe es gegeben: die sogenannten „Publikumsanfrage“.
Einmal sei aufgrund einer solchen „Publikumsanfrage“ der Ablauf einer
Nachrichtensendung fünf Minuten vor Ausstrahlung umgestellt worden, sagt
Rostoványi.
Rostoványi glaubt, dass die „Stimme von außen“ Antal Rogán ist, der Leit…
des Kabinettbüros des Ministerpräsidenten. Das sei ein offenes Geheimnis,
er hat dafür aber keine Belege.
## Ein „Ministerium für Propaganda“?
Die Opposition nennt den Orbán-Vertrauten Rogán „Propagandaminister“.
[6][Er vergibt Werbeaufträge an Medien, die fidesz-nahe Oligarchen gekauft
haben] und dann an die von der Fidesz kontrollierte „Mitteleuropäische
Presse- und Medienstiftung“ (KESMA) weitergegeben haben. Täglich berichten
diese Publikationen heute über die gleichen Themen, oft mit fast
gleichlautenden Überschriften – und mittlerweile regelmäßig mit Bezug zu
russischer Propaganda. Rogán gilt als einer der führenden Köpfe der
[7][ungarischen Kreml-Connection].
Kamen die diffamierenden Berichte über Franziska Tschinderle über das Büro
von Antal Rogán zustande? Belege dafür, dass Rogán Berichterstattung selbst
in Auftrag gibt, gibt es nicht. Rogán lässt eine Anfrage der taz dazu bis
Redaktionsschluss unbeantwortet.
Wieso Franziska Tschinderle zu diesem Zeitpunkt und in dieser Intensität im
ungarischen Fernsehen angegriffen worden ist, kann uns niemand sagen.
Journalist:innen und Expert:innen äußern uns gegenüber verschiedenen
Vermutungen für die Hintergründe: Ein Manöver, um vom mangelhaften Umgang
der Regierung mit der Coronapandemie abzulenken, oder ein Austesten der
Grenzen, was die Einschüchterung und Diffamierung von Journalist:innen
angeht.
## Rechtes Framing in der Redaktion
Die taz konnte keine schriftlichen Belege für direkte Eingriffe der
Regierung in die Redaktionsarbeit von MTVA finden. Klar ist: Die politische
Linie in der Berichterstattung der Sender wird von leitenden Redakteuren
vorgegeben und mit Themensetzung und Begriffen ein rechtes Framing
betrieben, etwa im Bezug auf Migration. Und: [8][Russland beeinflusst mit
seiner Propaganda den Diskurs]. Eine der Quellen, auf die nach
taz-Recherchen als Anregung für eigene Berichte regelmäßig verwiesen wird:
der russische Propaganda-Sender Russia Today.
Klar, die Regierung habe einen Kanal zu den Chefs der Sender und erkläre,
welche Themen interessant seien und welche nicht, sagt Balázs Bende,
Rostoványis ehemaliger Chef, beim Treffen in dem Gasthof in seinem
Heimatdorf. „Ich wäre enttäuscht, wenn das nicht überall auf der Welt der
Fall wäre.“ Bende sieht das als eine normale Art von Zusammenarbeit, eine
„Informationsweitergabe“ durch Pressesprecher der Ministerien, die die
Arbeit einfacher mache. „Aber es ist keine Zensur. Die Regierung hat keine
Macht über die Leitung der MTVA“, also die zentrale Institution, die
Inhalte produziert.
Und Anrufe, tägliche „Stimmen von außen“?
„Nein, nein, nein“, sagt Bende dazu.
Bende spricht von einer „Konfrontation“ in Ungarn, an der auch die Medien
beteiligt seien. Er bedauere das, sagt er. Bis 2010 sei in Ungarn die
Medienlandschaft eher links gewesen, das habe sich danach eben geändert.
2010 trat Orbán sein Amt als Ministerpräsident an.
Die Regierung sei der Meinung gewesen, „dass nationale oder konservative
Medien einen Platz in der ungarischen Gesellschaft haben“. Journalisten
würden seitdem gut bezahlt – das sei die echte Befreiung. Und auch für die
Opposition sei selbstverständlich Platz in der Berichterstattung, auch wenn
deren Vertreter das oft selbst nicht wollten.
## Gemeinsam gegen „Political Correctness“
Dann spricht er von „Political Correctness“, davon, dass Medien Angst
hätten, nicht „woke“ genug zu sein, und dass die Regierung Orbán sich eben
entschieden hätte, da nicht mitzumachen. „Wir hörten von unseren
Korrespondenten in Deutschland, Frankreich und Italien, dass die Leute in
der Migration ein Problem sahen, in der Kriminalität und so weiter. Wir
hörten von dem Problem in der Kölner Silvesternacht. 100.000 Migranten, die
von Serbien nach Österreich marschieren – natürlich war das ein Thema.“
Vor allem die Europäische Rundfunkunion habe nicht das Material geliefert,
das er angefordert habe. Dann habe er jemanden geschickt oder sei selbst
hingefahren – an die polnisch-belarussische Grenze, nach Nordmazedonien,
nach Sizilien.
Auf eine Nachfrage zu Desinformation aus Russland, sagt Bende, er habe
Nachrichten von Russia Today bezogen. Nicht weil er denen alles glaubte,
aber weil sie oft die Ersten gewesen seien, die berichteten. „Es ist
einfacher, uns als parteiisch zu bezeichnen, als zu akzeptieren, dass jeder
auf der Welt auf die eine oder andere Weise parteiisch ist.“
Bende ist heute kein Journalist mehr, die Angriffe gegen unabhängige Medien
in Ungarn gehen indes weiter. Seit Beginn des Jahres werden die Portale
Átlátszó und Telex von regierungsnahen Journalisten als „Dollarmedien“
attackiert, Átlátszó wurde gar als „Risiko für die nationale Sicherheit“
bezeichnet. Der Vorwurf: Sie bekommen oder bekamen Geld aus den USA – was
als Versuch der Einflussnahme im Ukraine-Konflikt ausgelegt wird, weil die
USA Orbáns Pro-Putin-Kurs kritisch sehen.
## Kritiker beklagen Verleumdungskampagnen
Von einer „Verleumdungskampagne, die sich der Methoden von Putins Russland
bedient“, spricht Tamás Bodoky, der Chefredakteur von Átlátszó. Viele
Medien stellten in den vergangenen Jahren den Betrieb ein und viele
Journalist:innen geben ihren Beruf auf.
Angesichts der „Verwüstungen“ des politischen Systems habe Weitermachen
„keinen Sinn mehr“, schrieb etwa Roland Baksa, der Wirtschaftsressortchef
des Portals HVG, als er im April 2022 seinen Rückzug ankündigte.
Korruption, ignorierte Anfragen, öffentliche Diffamierungen,
Gerichtsverfahren gegen Journalisten – dass es so weitergehen werde, sei
„erschreckend.“ Und die Propaganda zeige Wirkung: Die [9][Wiederwahl Orbáns
im April 2022] habe gezeigt, dass „eine Mehrheit kein Problem mit der
Richtung hat, in die die Dinge in diesem Land gehen“.
Tschinderle selbst will indes weitermachen. „Die Fidesz-Abgeordneten in
Brüssel haben meine Fragen nie beantwortet“, sagt sie. „Ich frage mich:
Stehen Sie hinter dem Programm aus Budapest? Dürfen die nicht eigenständig
handeln?“ Sie wolle jetzt, zwei Jahre später, eine neue Anfrage stellen.
„Denn das Fragen-Stellen lasse ich mir nicht nehmen.“
Dieser Bericht ist Teil des Rechercheprojekts „[10][Decoding the
disinformation playbook of populism in Europe]“, das vom International
Press Institute in Wien geleitet und in Zusammenarbeit mit Faktograf und
taz durchgeführt wird. Das Projekt wird von dem European Media and
Information Fund finanziell unterstützt, der von der
Calouste-Gulbenkian-Stiftung verwaltet wird.
3 May 2023
## LINKS
[1] https://www.profil.at/author/franziska.tschinderle
[2] https://www.youtube.com/watch?v=qe-j8EfKI5A
[3] https://www.youtube.com/watch?v=WK4nUMPr5aI
[4] https://www.szabadeuropa.hu/a/szerkesztoi-utasitas-a-koztevenel-ebben-az-in…
[5] https://www.zeit.de/politik/ausland/2015-05/ungarn-viktor-orban-todesstrafe…
[6] https://www.politico.eu/article/viktor-orban-media-empire-hungary-election-…
[7] https://www.dw.com/de/wie-ungarn-russische-spionage-unterst%C3%BCtzt/a-6402…
[8] /Desinformation-in-Ungarn/!5907436
[9] /Ausgang-der-Parlamentswahl-in-Ungarn/!5845904
[10] https://ipi.media/decoding-disinformation-playbook/
## AUTOREN
Jean-Philipp Baeck
Christian Jakob
Luisa Kuhn
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