# taz.de -- Meinungsunfreiheit in Serbien: „Kriminelle, Trottel, Arschlöcher… | |
> Der Autor Marko Vidojković musste nach Morddrohungen aus Belgrad ins | |
> Ausland fliehen. Er sieht das Land auf dem Weg in eine totalitäre | |
> Gesellschaft. | |
Bild: In Serbien ist so lange Meinungs- und Pressefreiheit, wie dem Präsidente… | |
taz: Herr Vidojković, Sie sind einer der bekanntesten Kolumnisten und ein | |
mit zig Preisen ausgezeichneter Autor [1][Serbiens]. Vor einem Jahr mussten | |
Sie aus Belgrad fliehen, warum? | |
Marko Vidojković: [2][Die serbische Regierung] besteht aus Amateuren, | |
Kriminellen, Trotteln und Arschlöchern, die komplett unfähig sind, ihren | |
Job zu machen. Sie alle wissen das. Wir alle wissen das. Wer diese Wahrheit | |
aber ausspricht, den machen sie fertig. | |
Wie geht fertigmachen auf Serbisch? | |
In den letzten zehn Jahren fuhr [3][die Regierung] gemeinsam mit den von | |
ihnen kontrollierten Medien in Fernsehen, Zeitungen und Social Media | |
Kampagnen gegen mich und baute mich zum Landesfeind auf. Es begann damit, | |
dass Veranstalter eingeschüchtert und daran gehindert wurden, | |
Buchvorstellungen mit mir zu organisieren. Dann wurde ich aus allen | |
staatlich kontrollierten Medien verbannt. Und dann kamen die Morddrohungen. | |
Ernst zu nehmende? | |
Nun, wir wissen alle, dass das serbische Regime mit dem organisierten | |
Verbrechen eng verbunden ist. Man kann also nie wissen. Als der Journalist, | |
mit dem ich meinen wöchentlichen satirischen [4][Podcast „Dobar, loš, zao�… | |
(„Gut, schlecht, böse“) mache, vor fünf Jahren die erste Morddrohung | |
erhielt, war das eine neue Qualität. An Schmier-, Hass und Drohkampagnen | |
waren wir längst gewohnt, gegen mich laufen dutzende Slapp-Klagen, also | |
Einschüchterungsklagen seitens der höchsten Repräsentanten des Landes: von | |
Premier Aleksandar Vučić über den Chef des Geheimdienstes, vom Minister für | |
Polizei und Militär bis zum Bürgermeister von Belgrad. Inzwischen aber habe | |
ich eben auch Hunderte Todesdrohungen, die reichen von Zunge rausschneiden, | |
Hände abhacken bis erschießen. | |
Sie sind mittlerweile mehrfach innerhalb Europas umgezogen und leben an | |
einem unbekannten Ort. | |
Der [5][Pen International hat 2023 meinen Fall untersucht] und kam zu dem | |
Ergebnis, dass ich und meine Ehefrau auf verschiedenen Ebenen in einer | |
lebensbedrohlichen Lage sind. Insbesondere wegen der aufgeheizten | |
öffentlichen Stimmung: Wäre mir etwas passiert, hätte das in Serbien nicht | |
für einen Skandal gesorgt. Ich wäre ein erwartbares Opfer gewesen. | |
Warum hat das Regime ausgerechnet Sie ausgesucht? | |
Ich bin zwar nicht ganz unbekannt, aber auch bei Weitem nicht so | |
einflussreich, dass ich eine Bedrohung für das Regime wäre. Sie statuieren | |
an mir nur ein Exempel: Er macht sich über uns lustig, also werden wir sein | |
Leben zerstören. Damit die anderen sehen, wo es hinführt, wenn man die | |
Regierung kritisiert. | |
Ihr Humor ist das Problem? | |
Auch. In Autokratien werden alle bestraft, die die Autorität angreifen. | |
Aber meine Rolle als öffentliche Person ist es nun mal, alles und jeden zu | |
kritisieren, der es verdient hat. Egal, wie gefährlich es ist. Jetzt | |
stellte sich aber heraus, dass es doch ziemlich gefährlich ist. | |
Sie machen aber trotzdem weiter. | |
Ja. Vor zwei Wochen war ich mal wieder auf dem Titel des größten | |
Boulevardblatts [6][informer ] und wurde als „menschlicher Abfall“ und | |
„Landesverräter“ bezeichnet. In meiner Kolumne hatte ich über die | |
[7][kroatischen und albanischen Fußballfans geschrieben], die bei der EM im | |
Hamburger Volksparkstadion „Tötet alle Serben“ gebrüllt hatten. Ich fand | |
das zwar auch schwer verstörend, gleichzeitig plädierte ich aber auch für | |
Nachsicht. Man stelle sich vor, die Botschaften aus Belgrad während der | |
letzten 35 Jahre wären in Richtung der Nachbarstaaten friedlich und | |
freundlich gewesen und nicht ewig hasserfüllt. Würden die Kroaten und | |
Albaner dann immer noch dazu aufrufen, alle Serben zu töten, wäre die Sache | |
klar. So aber hat auch Serbien eine Verantwortung für das Benehmen der | |
Nachbarn. Das gefiel der serbischen Regierung natürlich nicht. | |
Ihr Fall ist nicht unbekannt, dennoch bleibt ein großer Aufschrei seitens | |
der EU aus. Empfinden Sie das relative Schweigen des Westens zur | |
politischen Entwicklung Serbiens als Hohn? | |
Serbien ist nicht die Türkei, wo Zehntausende im Knast sitzen. Bei uns | |
reicht es, 50 oder 100 Kritiker mundtot zu machen, um das ganze Land zum | |
Schweigen zu bringen. Außerdem ist Serbien voll mit russischem, | |
chinesischem und europäischem Kapital. Wen interessiert da irgendein | |
serbischer Marko? | |
Aus strategischen Gründen? | |
Obwohl alle wissen, dass Serbien eine putingleiche Autokratie geworden ist | |
und sich auf dem Weg in eine totalitäre Gesellschaft befindet, macht der | |
Westen immer noch große Augen, wenn er hört, was hier wirklich los ist. | |
Aber so wie damals unter dem Kriegsverbrecher Slobodan Milošević glaubt der | |
Westen auch heute, dass Serbien für die Stabilität der Region wichtig ist. | |
Dabei geht von ihm die größte Instabilität aus. | |
Sie können aber ja immerhin doch noch publizieren? | |
Nicht in den von regimetreuen Kriminellen kontrollierten staatlichen | |
Medien, die 95 Prozent ausmachen. Der Rest, zwei TV-Sender, zwei Zeitungen | |
und eine Wochenzeitung gehören United Media, einem Luxemburger Unternehmen, | |
zu dem auch die Zeitung Danas gehört, in der [8][meine tägliche Kolumne] | |
publiziert wird. Die Zeitung lässt mir alle Freiheiten, aber trotzdem stehe | |
ich unter Autozensur. Die Zeitung hat berechtigte Angst, dass meine | |
Aussagen aus dem Kontext gerissen werden und gegen das gesamte Unternehmen | |
und meine Kollegen gewendet werden, was in der Tat auch passiert. | |
Gibt es eine Chance, dass ein neues Otpor entsteht, die Bewegung, die am | |
Sturz von Slobodan Milošević beteiligt war? | |
Nein. Im Gegenteil. Die Mehrheit in Serbien ist schwer religiös, schwer | |
konservativ bis rechtsextrem, voller Hass gegen Kroaten, Albaner, Bosniaken | |
und die EU. Wer das nicht ist, verlässt das Land. Es gibt auch unter den | |
Jugendlichen keine kritische Masse mehr. | |
Sie gehörten in den 1990ern zu den Jugendlichen, die gegen Milošević | |
protestierten. | |
Ja, wobei auch wir erst, als der Krieg 1995 beendet war, langsam | |
verstanden, dass wir von Lügnern und Dieben betrogen wurden, und auf die | |
Straße gingen. Serbiens größtes Problem heute ist immer noch, dass niemand | |
die Verantwortung für die Verbrechen in den 1990er Jahren übernimmt. Eher | |
stirbt der letzte Serbe auf diesem Planeten, bevor sich einer von ihnen | |
öffentlich entschuldigt. | |
Was würde ein EU-Beitritt ändern? | |
Demokratie, Menschenrechte, eine funktionierende Ökonomie und eine wirklich | |
zivile Gesellschaft zurückzubringen. Das ginge nur mit riesigen | |
finanziellen Hilfen, die den Chinesen und Russen das Wasser abgraben. | |
Ansonsten ist Serbien unreparierbar zerstört. | |
Aber auch innerhalb der EU bewegt sich die Gesellschaft zurzeit nach | |
rechts. | |
Ich halte mich für einen vernünftigen, realistischen, nicht idealistischen | |
Typen. Aus dieser Haltung heraus sage ich: Die EU ist die bestmögliche Idee | |
von Gesellschaft, die wir haben, und um die müssen wir kämpfen | |
10 Jul 2024 | |
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[5] https://www.pen-international.org/news/serbia-investigate-death-threats-aga… | |
[6] https://informer.rs/tags/41789/marko-vidojkovic | |
[7] https://www.danas.rs/kolumna/marko-vidojkovic/ubij-srbina/ | |
[8] https://www.danas.rs/kolumnista/marko-vidojkovic/ | |
## AUTOREN | |
Doris Akrap | |
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