# taz.de -- Proteste gegen Orbán: Blockbildung in Ungarn | |
> Schlechte Versorgung und massive Einflussnahme durch Orbáns autoritäre | |
> Regierung treibt Schüler:innen und Lehrer:innen gemeinsam auf die | |
> Straße. | |
Bild: Seite wechseln: Schüler:innen und Lehrer:innen protestieren auf dem Fran… | |
BUDAPEST/SZEGED taz | Es ist Frühling 2023 und im Bohemien-Lokal Kelesztő | |
in Szeged im Süden Ungarns dringt HipHop aus den Boxen. An einem der Tische | |
sitzt die Spanisch- und Englischlehrerin Agnes Batc mit zwei | |
Schüler:innen ihres Gymnasiums. Im gemütlichen Restaurant lassen sie die | |
hektischen letzten Wochen ihres Schulalltags Revue passieren. Es scheint, | |
als ob die Hierarchien aufgehoben sind. Denn die Art und Weise, wie sich | |
Agnes Batc und ihre Schüler:innen begegnen, erinnert eher an ein | |
familiäres Zusammentreffen denn an ein formelles Verhältnis. | |
Der Grund für die Harmonie liegt darin, dass Schüler:innen und | |
Lehrer:innen in Ungarn gemeinsam die Bildungsinstitutionen des Landes | |
herausfordern – und zu den neuen größten Feind:innen der Orbán-Regierung | |
auserkoren wurden. Seit über einem Jahr protestieren sie für eine bessere | |
Bildungspolitik in Schulhöfen und auf der Straße. Sie legen die Arbeit | |
nieder, schwänzen den Unterricht und mobilisieren Tausende im ganzen Land. | |
Seit dem Amtsantritt von Viktor Orbán im Jahr 2010 erfährt die | |
Bildungspolitik eine stetige Zentralisierung. Ziel ist es, die Kontrolle | |
über die Bildungsinhalte zu erhöhen und die Ausgaben stärker zu regulieren. | |
„Damit hat sich für die Lehrer:innen vieles verschlechtert“, erzählt | |
Agnes Batc. Während die Regierung mehr in private Bildungsinstitutionen wie | |
dem Mathias-Corvinus-Collegium investiert, das von Kritiker:innen als | |
„rechte Kaderschmiede“ bezeichnet wird, wurden die öffentlichen | |
Bildungsausgaben laufend gesenkt. | |
Die Folgen: Personalmangel, unbezahlte Überstunden und ein Lohn, der trotz | |
einer Inflation von 21,5 Prozent – und damit der höchsten in der EU – bei | |
700 Euro, für Berufseinsteiger:innen gar bei 500 Euro stagniert. In | |
[1][Pisa-Tests] schneidet Ungarn seit 2010 kontinuierlich schlecht ab und | |
liegt mittlerweile deutlich [2][unter dem Durchschnitt der OECD]. | |
Im März 2023 kündete die ungarische Regierung nun ein neues Gesetz an, das | |
Lehrer:innen den Beamtenstatus absprechen und ein Punkte- und | |
Strafsystem für die Auszahlung der Gehälter einführen soll. „Eine neue | |
Situation für uns“, meint Batc, die sich in Fahrt redet. „Ein Gesetz – | |
extra für uns!“ Der Text – unter Kritiker:innen „Rache-Gesetz“ genannt | |
– sei vor allem dazu da, die Streikwellen der Lehrer:innen zu brechen. | |
In einer Petition der Gewerkschaft PDSZ erklärten sich bis zu 5.000 | |
Lehrer:innen bereit, ihrem Job den Rücken zu kehren, sollte das Gesetz | |
das Parlament passieren. Am heutigen Dienstag soll das Gesetz verabschiedet | |
und schrittweise umgesetzt werden, bis dann im Januar 2024 die neuen | |
Arbeitsverträge in Kraft treten würden. Die Bewegung der Lehrer:innen | |
und die Studierendenfront wollen den ganzen Tag vor dem Parlament | |
demonstrieren. | |
## Zebraproteste | |
„Zu Beginn der [3][Proteste]“, erzählt Batc, „ging es um die Gehälter d… | |
Lehrer:innen. Mittlerweile sprechen wir nur noch über Sanktionierungen.“ | |
Seit 13 Jahren unterrichtet sie in Szeged. „Nun weiß ich nicht, ob ich bald | |
noch einen Job habe.“ Als nichtverheiratete, alleinstehende Frau in Ungarn | |
wäre dies doppelt schwierig, denn: „Ich muss hier am meisten Steuern | |
zahlen.“ | |
Dies ist die Geschichte von ungarischen Lehrer:innen und Schüler:innen, | |
die endgültig gebrochen haben mit der Politik Viktor Orbáns. Wer sind die | |
Menschen, denen Verantwortungslosigkeit und Selbstgerechtigkeit vorgeworfen | |
werden, weil sie die Arbeit niederlegen oder nicht im Unterricht | |
erscheinen? Und welche Rolle spielt die Bildungspolitik für den autoritären | |
Wandel in Ungarn? | |
Budapest, Mittwochmorgen, 7.30 Uhr. Am Franziskanerplatz im Stadtzentrum | |
begeben sich fünfzig Menschen auf den Fußgängerstreifen. Ein bunter Haufen | |
von Schüler:innen, Lehrer:innen und Eltern pendelt hin und her, wenn die | |
Ampel auf Grün schaltet. Dem Morgenverkehr zeigen die Demonstrierenden ihre | |
Schilder: „Wir werden nicht aufgeben“, steht auf einem geschrieben. „Stre… | |
ist ein Grundrecht“ auf dem anderen. | |
Jeden Mittwoch finden die sogenannten Zebraproteste statt, sowohl in ganz | |
Budapest als auch im südlichen Pécs und in Szeged. Während bei den großen | |
Demonstrationen die Polizei mittlerweile immer öfters Gewalt anwendet, | |
bleiben die Zebraproteste meist friedlich. Spätestens nach der ersten | |
Diskussion mit Passant:innen am Straßenrand wachen die Menschen auf. Auf | |
der stark befahrenen Straße hupen die Autos, einige jubeln, winken aus dem | |
Fenster. Nach einer halben Stunde löst sich der familiär wirkende Schwarm | |
wieder auf, die Jugendlichen gehen in den Unterricht, viele der | |
Lehrer:innen ebenfalls. | |
## Streiks sind praktisch verboten | |
Eine, die nicht mehr unterrichten darf, ist Kata Törley. Drei Kilometer | |
weiter nördlich des Franziskanerplatzes sitzt sie in ihrer Bürowohnung bei | |
der Margaretenbrücke. Es riecht nach Gemüseauflauf, der Backofen in der | |
Küche läuft. „Ich erwarte Besuch später“, sagt die Gründerin von | |
„Tanítanék“ (Ich will unterrichten), der größten Organisation, die hint… | |
den Protesten steht. | |
Das Logo der Bewegung prangt an der Wand – ein karierter Regenschirm in der | |
Farbe der grünen Wandtafeln der Schule. „Bei der ersten Demonstration 2016 | |
hatten alle Regenschirme dabei. Die Karierung symbolisiert das Vorurteil | |
der Regierung, dass wir Lehrer:innen schlampig seien und alle in langen | |
Karohemden herumlaufen würden.“ Seit einigen Jahren versuche die Regierung, | |
die Lehrer:innen propagandistisch zu verunglimpfen und sie abwechselnd | |
als faul, von der Opposition gesteuert oder pädophil darzustellen. | |
Nach 23 Jahren Unterrichten erhielt die 53-jährige Törley im September 2022 | |
ein Kündigungsschreiben. „Darin stand, dass ich mich an illegalen Aktionen | |
beteiligt hätte“, sagt sie und lächelt ironisch. „Das stimmt auch. Unsere | |
Streiks waren rechtlich gesehen illegal.“ Seit Mai 2022 – kurz nach dem | |
Wahlerfolg von Fidesz – gilt in Ungarn ein neues Streikrecht, das die | |
Arbeitsniederlegung faktisch verbietet. Für Törley eine Reaktion auf die | |
zunehmend stärker gewordenen Proteste, die durch eine breite Allianz | |
zwischen Eltern, Schüler:innen und Lehrer:innen die Opposition gegen | |
Orbán erstarken ließ. | |
„Die Schuldirektion argumentierte damals, dass wir mit unserem Verhalten | |
die Rechte der Schüler:innen auf Bildung missachtet hätten“, erzählt | |
Törley. „Wir sagten hingegen, dass es moralisch inakzeptabel ist, so zu | |
unterrichten.“ Mit ihrem Lohn konnte sie die anfallenden Kosten nicht | |
bezahlen, erzählt Törley, die Mutter zweier erwachsener Kinder ist. Zudem | |
sei die Arbeitsbelastung mit 60 Stunden pro Woche sehr hoch. | |
Seit Törley mit vier anderen Kolleginnen entlassen wurde, ist sie in Ungarn | |
eine Persönlichkeit. Ihr Fall sorgte für landesweite Empörung und setze | |
Großdemonstrationen in Gang. Kurz nach Törley wurde mehr als einem Dutzend | |
Lehrer:innen in Budapest ebenfalls gekündigt. | |
Wann immer von den Bildungsprotesten gesprochen wird, fällt auch Törleys | |
Name. [4][Regierungsnahe Medien] ziehen ihre Auftritte gerne in Ungnade. | |
Jüngstes Beispiel: Nachdem sie im Mai mit einer Mütterorganisation gegen | |
Polizeigewalt an Schüler:innen demonstrierte, veröffentlichte die | |
regierungsnahe Zeitung Magyar Nemzet ein Bild von Törley aus dem Jahr 2013, | |
auf dem sie mit einem Plakat für die Abschaffung der Monogamie wirbt. Im | |
Namen christlicher Werte versuchte die Zeitung, Törleys Zusammenarbeit mit | |
Müttern als verlogen darzustellen. | |
## Indoktrination in der Schule | |
Solche Vorwürfe sind mittlerweile viele Lehrer:innen gewohnt, die sich | |
kritisch zur Bildungssituation und den Lehrinhalten äußern. 2012 ließ Orbán | |
das Klebelsberg-Institut ins Leben rufen. Eine Behörde, die über alle | |
staatlichen Schulen, die 120.000 Lehrer:innen und die Bildungspläne | |
verfügt. Seither spielen Patriotismus, traditionelle Familien- und | |
Geschlechtsvorstellungen und antiwestliche Propaganda eine immer größere | |
Rolle in den Lehrbüchern. „Vor allem in der Literatur, der ungarischen | |
Sprache und Geschichte ist das stark zu spüren“, meint Törley. | |
Da die Schüler:innen den Stoff aus den offiziellen Büchern für die | |
Abschlussprüfungen lernen müssen, hätten viele Lehrer:innen Mühe, | |
trotzdem professionell zu arbeiten. Natürlich könne man Impulse setzen, | |
sagt Törley: „Ich unterrichtete ein Fach mit dem Namen,Französische | |
Zivilisation'. Dort konnte ich das politische System behandeln mit der | |
Gewaltenteilung, konnte Vergleiche ziehen zu Ungarn. In diesem Fach sprach | |
ich über Demokratie und versuchte, kritische Reflexionen in Gang zu | |
setzen.“ | |
Seit 2014 und der Ausrufung der „illiberalen Demokratie“ – die Abgrenzung | |
zum schwachen und dekadenten Liberalismus des Westens – spricht Orbán | |
davon, eine arbeitsbasierte Gesellschaft aufbauen zu wollen. Damit einher | |
geht einerseits die Schaffung einer neuen Elite, andererseits der Gedanke, | |
nicht allzu viele gebildete Menschen zu brauchen. Ist dies der Hauptgrund | |
für die schlechten Bedingungen? Törley überlegt kurz und kommt zu einem | |
anderen Schluss: „Man kann sagen, dass Orbán ungebildete Leute will, da | |
diese sich leichter für ihn gewinnen lassen. Denn für ihn zählt nur der | |
Machterhalt.“ | |
Törley zündet sich eine Zigarette an. Sie steht vom Tisch in ihrem Büro auf | |
und öffnet die Tür zum Innenhof für den Durchzug. Im Hof zu rauchen sei | |
verboten. „Und hier, wo ich jetzt für die Bewegung arbeite, möchte ich | |
keinen zivilen Ungehorsam leisten. Das mache ich nur draußen“, sagt sie und | |
beginnt laut zu lachen. | |
Die Straße draußen vor Törleys Büro führt in Richtung Westen zur | |
Andrássy-Straße, einem der schönsten Boulevards Budapests, wo sich das Haus | |
des Terrors befindet. 2002 wurde das Museum als Gedenkstätte für die | |
Nazi-Zeit und die kommunistische Ära initiiert und steht seit Orbáns | |
Machtübernahme exemplarisch für dessen Bildungs- und Geschichtspolitik. | |
Im ersten Saal der Dauerausstellung des Museums dringt laute Rockmusik aus | |
den Boxen. In der Mitte des dunklen Raumes steht eine dicke Wand. In weißen | |
Lettern auf schwarzem Grund steht auf der einen Seite „Nazi-Okkupation“, | |
darüber laufen Videosequenzen mit Leichenbergen aus Konzentrationslagern. | |
Auf der anderen Seite dasselbe in Rot: „Sowjetische Okkupation“, darüber | |
Videos von Soldaten der Roten Armee in Budapest. | |
Die Besucher:innen spazieren umher, die Aufsicht beäugt die Szenerie. | |
Eine groteske Situation: Im Dauerloop unterlegt ein Rocksong die | |
Gleichsetzung von Holocaust und Stalinismus, während der Audioguide die Ära | |
des ehemaligen Staatsoberhaupts und Hitler-Kollaborateurs Miklós Horthy bis | |
1944 glorifiziert, der für die Deportation Hunderttausender Juden | |
mitverantwortlich war. | |
Die folgenden Räume machen klar, dass die faschistische Ära als weitaus | |
geringere Gefahr eingestuft wird: Nur zwei der zwanzig Räume setzen sich | |
mit ihr auseinander, während die Verbrechen der sozialistischen Zeit den | |
Rest der Ausstellung füllen. Dabei wiederholt sich immer dasselbe Narrativ: | |
Ungarn als Opfer äußerer Mächte. | |
## Schuld sind immer die Anderen | |
Die Vermischung von Opfermythos und der Heroisierung von mächtigen Figuren | |
aus der ungarischen Geschichte sei vor allem mit außenpolitischen Motiven | |
zu erklären, wie die Politologin Ellen Bos im Interview sagt. Seit 2004 ist | |
sie Professorin an der Andrássy-Universität in Budapest. „Es wird versucht, | |
ein großes Ungarn zu beschwören wie vor dem Vertrag von Trianon 1920.“ | |
Damals musste das einst mächtige Königreich Ungarn bedeutende Gebiete | |
abtreten und verlor an geopolitischem Einfluss. | |
„Man will heute als Brücke zwischen Russland und dem Westen agieren und | |
begreift sich zudem als Verteidiger der christlichen Werte.“ Dadurch | |
versuche man, die eigene Souveränität zu behaupten. Zur Vermittlung dieses | |
Selbstbildes sei es Orbáns erklärtes Ziel, die geistige Hegemonie zu | |
erlangen. Dafür werde viel getan in der Kulturpolitik, aber auch in der | |
Bildung, so Bos. | |
Die Gleichzeitigkeit von nationaler Souveränität und dem Beschwören eines | |
Opferkults drücke sich auch in den politischen Argumenten zur | |
Bildungsdebatte aus. „Im Narrativ der Regierung liegt die Schuld für die | |
tiefen Lehrergehälter bei der EU.“ Diese hält momentan [5][wegen | |
Korruptionsverdacht] Fördergelder in Wert von bis zu 22 Milliarden Euro | |
zurück und unterbrach das Erasmus-Programm für 21 ungarische Universitäten. | |
„Die Regierung argumentiert daraus, die Gehälter nicht erhöhen zu können�… | |
so Bos. „Merkwürdig daran ist, dass es ja nicht in erster Linie die EU ist, | |
die für die Finanzierung des ungarischen Bildungssystems verantwortlich | |
ist. Aber offensichtlich funktioniert diese Schuldabschiebung nach außen.“ | |
Dem Rückhalt in der Bevölkerung kann sich Orbán sicher sein. Die erneute | |
Parlamentsmehrheit und die stabilen Umfragewerte für die Fidesz-Partei | |
lassen ihn fest im Sattel sitzen. So sei auch das neue Status-Gesetz als | |
„Machtdemonstration“ der Regierung einzuordnen, wie Bos meint. „Man zeigt | |
damit, dass man auch über ein Jahr anhaltende Proteste aussitzen kann. | |
Offensichtlich sah sich die Regierung nicht gezwungen, dem Ganzen | |
nachzugeben.“ Trotz seiner Relevanz für alle Menschen und Schichten im Land | |
funktioniere die Bildungspolitik noch nicht als Thema, um die Opposition | |
entscheidend zu mobilisieren, so Bos. Obschon die Entwicklungen im Land | |
eher in eine autokratische Richtung weisen. | |
## Desillusionierte Jugend | |
170 Kilometer weit von der Andrássy-Strasse und dem Haus des Terrors | |
entfernt in der südlich gelegenen Stadt Szeged sitzen die Lehrerin Agnes | |
Batc und die Schüler:innen Zsofia Fodor und Akos Süli am Tisch. Auch | |
hier im Kelesztő-Lokal sind die ungarische Geschichte und das kontroverse | |
ehemalige Staatsoberhaupt Miklós Horthy ein Thema. Als der Name Horthys am | |
Tisch fällt, wachen die beiden Schüler:innen auf. Kurz entbrennt eine | |
Diskussion über das ehemalige Staatsoberhaupt. | |
Als der Schüler Akos Süli meint, dass Horthy nicht nur schlecht war, | |
sondern auch gute Dinge gemacht hätte, fragt man sich, ob das nun schon der | |
auswendig gelernte Prüfungsstoff oder seine durch den Unterricht gewonnene | |
Überzeugung ist. Doch als ihm entgegnet wird, dass man in diesem Sinne auch | |
Orbán einen guten oder schlauen Politiker nennen könnte, da er es versteht, | |
wie man die Leute manipulieren kann, nimmt Süli seine Einordnung zurück. | |
„Wir müssten den Stoff für die Abschlussprüfungen lernen“, sagt die | |
Schülerin Zsofia Fodor in aufrechtem Ton, jedoch mit einem leichten | |
Entsetzen in den Augen. „Aber in Geschichte sind wir ein Jahr im | |
Rückstand. Unsere Lehrer:innen kümmern sich nicht darum, dass wir diese | |
Prüfungen bestehen.“ Viele seien müde, überlastet. Und auch sie als | |
Schüler:innen hätten bei einer 40-Stunden-Woche und den Protesten Mühe | |
mitzukommen. | |
„Wir haben Sit-in-Streiks organisiert, während wir im Unterricht hätten | |
sein sollen“, erzählt Fodor. „200 Schüler:innen setzten sich in die | |
Schule, um gegen unsere Schulleitung zu protestieren, die uns bestrafen | |
wollte, weil wir an den Protesten teilgenommen hatten.“ Außerdem | |
adressieren die Schüler:innen die schlechten Infrastrukturbedingungen an | |
Schulen. „Wir haben kein Papier zum Abtrocknen in den Toiletten“, schildert | |
Süli. „Im Winter hatten wir fast keine Heizung. Auf gewissen Stockwerken | |
haben wir keinen Strom.“ | |
Süli hält eine selbstgedrehte Zigarette in der Hand und blickt in sich | |
hinein. Neben ihm steht ein schwarz eingepacktes Geschenk, das ihm Fodor | |
zuvor feierlich übergeben hatte, woraufhin Süli sie umarmte. Einen Tag | |
später wird Süli seinen 18. Geburtstag feiern – und zwar richtig, so dass | |
er noch müder sein würde als jetzt, wie er sagt. | |
Ob er den 19. Geburtstag immer noch in Ungarn verbringen oder bis dann | |
schon in einem anderen Land studieren wird, weiß er aber noch nicht. Bei | |
Fodor sieht das anders aus: Wie viele Abiturient:innen ist sie | |
entschlossen, in einem anderen Land eine Uni zu besuchen. „Wir Jungen | |
sehen, dass im Westen das Leben für uns besser sein könnte.“ Akos Süli | |
nimmt seine Zigarette in die Hand und erhebt sich vom Tisch. „Schaut, wie | |
viel wir rauchen, so gestresst sind wir schon“, meint er spöttisch und | |
schreitet in Richtung Ausgang. Auch Zsofia Fodor geht mit und durch die | |
offene Tür hört man sie noch eine Weile plaudern – und den Abend und die | |
Zukunft planen. | |
## Agnes kämpft – noch | |
Die Zukunft planen, damit macht die Lehrerin Agnes Batc vorerst Pause. Nach | |
der verlorenen Wahl im April 2022 seien viele ihrer Hoffnungen | |
zusammengebrochen. Sie sitzt am Tisch im Kelesztő und redet sich nun die | |
Seele vom Leib. Sie sei eigentlich keine politische Person, meint Batc. | |
„Aber um in diesen Tagen in Ungarn eine gute Lehrerin sein zu können, muss | |
man kämpfen und das Gesetz brechen.“ | |
Für ihre Schüler:innen umgehe sie viele Regeln. So sieht sie | |
beispielsweise darüber hinweg, wenn sie ihre Absenzen nicht in der | |
festgelegten Frist vorlegen würden. „Wenn ich die Regeln strikt befolgen | |
würde, hätten sie viele Probleme, die Eltern auch. Sie könnten | |
Unterstützungsgelder verlieren.“ Auf Batcs Gesicht zeigt sich Verzweiflung | |
und Frust über ein Leben, das wenig Alternativen bietet. Da die | |
Familienpolitik der Regierung explizit verheiratete und kinderreiche Paare | |
fördert, muss sie als Single viel mehr Steuern zahlen. „Als alleinstehende | |
Person bin ich in diesem System die größte Rebellin.“ | |
Seit die Bedingungen im Bildungsbereich schlechter geworden sind, denkt | |
Batc daran, auszuwandern. „Nach Spanien am liebsten“, meint sie und man | |
merkt ihr die Wehmütigkeit an. „Doch meine Eltern leben hier, mein Vater | |
arbeitet an derselben Schule wie ich. Ich kann nicht einfach gehen.“ | |
Bevor sie sich verabschiedet, bleibt sie noch lange vor dem Lokal stehen | |
und erzählt von ihrer Situation. Hoffnung blitzt auf ihrem Gesicht auf, als | |
sie sagt, dass sie von vielen auch Unterstützung erfahre für ihren Kampf. | |
Immerhin etwas Gutes sei der Krise abzugewinnen: dass Schüler:innen und | |
Lehrer:innen zusammenrücken und sich gegenseitig unterstützen. | |
6 Jul 2023 | |
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