# taz.de -- 24 Todesfälle in Gewahrsam: Wie fahrlässig handelte die Polizei? | |
> Die taz hat 24 Fälle untersucht, bei denen Menschen, die von Rassismus | |
> betroffen waren, in Gewahrsam ums Leben kamen. Eine Dokumentation. | |
Bild: Ist man besonders fahrlässig mit den Opfern umgegangen? | |
Die Ermordung von [1][George Floyd] in Minneapolis durch vier Polizisten | |
hat in Erinnerung gerufen, dass in mehrheitlich weißen Gesellschaften | |
Rassismus in der Polizei ein Problem ist. Und Deutschland ist da keine | |
Ausnahme. | |
Rassismus ist alltäglich und durchzieht die gesamte Gesellschaft – | |
natürlich betrifft er auch die Polizei. Weil diese durch das Gewaltmonopol | |
eine herausgehobene Machtposition hat, sollte besonders genau hingesehen | |
werden, wenn Menschen in ihrer Obhut sterben. Diese Fälle müssen penibel | |
aufgeklärt werden. Das dient letztlich auch der Polizei – und dem Vertrauen | |
der Bevölkerung in die Institution. | |
Racial Profiling ist Alltag. Selbst nichtweiße Polizeibeamte wie der | |
Pressesprecher der Berliner Polizei, Thilo Cablitz, erfahren am eigenen | |
Leib, dass sie aufgrund ihrer Hautfarbe als verdächtig eingestuft werden, | |
wenn sie in Zivil unterwegs sind. Cablitz hat vor zwei Wochen [2][in einem | |
taz-Interview] im Berlinteil davon erzählt. Bundesinnenminister Horst | |
Seehofer möchte dennoch keine Studie zu Racial Profiling in Auftrag geben, | |
obwohl das Gremium des Europarats gegen Rassismus und Intoleranz (Ecri) | |
genau das empfohlen hatte. Seehofer sieht aber keinen Bedarf. Dabei | |
verstößt Racial Profiling gegen den Gleichheitsgrundsatz im Grundgesetz. | |
Laut [3][einer 2017 veröffentlichten Erhebung der europäischen | |
Grundrechteagentur] wurde ein Drittel der Schwarzen Menschen in Deutschland | |
in den vergangenen fünf Jahren von der Polizei kontrolliert. 42 Prozent von | |
ihnen glauben, dass sie nur aufgrund ihrer Herkunft angehalten wurden. Das | |
ist der fünfthöchste Wert in der Europäischen Union. | |
In der Erhebung der Europäischen Grundrechteagentur wurde deutlich, dass | |
besonders häufig Menschen mit einem nordafrikanischen oder subsaharischen | |
Migrationshintergrund angaben, von der Polizei wegen ihrer Herkunft | |
kontrolliert worden zu sein. Minderheiten mit einem russischen | |
Migrationshintergrund glaubten in der Regel nicht, dass sie wegen ihrer | |
Herkunft kontrolliert wurden. Das zeigt, dass Hautfarbe eine Rolle spielt. | |
Seit vielen Jahren arbeiten zivilgesellschaftliche Initiativen daran, | |
dieses Problem in Deutschland öffentlich zu thematisieren. Zu diesen | |
Gruppen zählt etwa [4][die Antirassistische Initiative (ARI) aus Berlin], | |
die in der vergangenen Woche die nunmehr 27. Aktualisierung ihrer Chronik | |
„Bundesrepublikanische Flüchtlingspolitik und ihre tödlichen Folgen“ | |
vorlegte. | |
Geflüchtete, so schreibt die ARI, seien polizeilichen Aktionen in | |
besonderem Maße ausgesetzt, sei es durch sprachliche Barrieren oder an | |
„Orten der Isolation – Haftzellen, Flüchtlingslager oder Abschiebeflugzeuge | |
–, in denen Gewalt ausgeübt wird“. Tötungen oder schwere Verletzungen | |
würden mit „Notwehr“ gerechtfertigt, Ermittlungen gegen PolizistInnen | |
schnell eingestellt. Das liegt auch daran, dass es keine unabhängige Stelle | |
für Ermittlungen gibt – gibt es Vorwürfe gegen die Polizei, ermittelt sie | |
gegen sich selbst. Das ist ein strukturelles Problem. | |
Wir möchten dieser Debatte mit journalistischen Mitteln begegnen und sie | |
mit Fakten unterfüttern. Deshalb haben wir etwa 40 Fälle aus den | |
vergangenen fünf Jahren genauer untersucht, bei denen Menschen, die von | |
Rassismus betroffen waren, in Polizeigewahrsam umgekommen sind. | |
24 Fälle dokumentieren wir hier ausführlicher. Sie zeigen, wie schnell ein | |
Mensch sterben kann. Durch die Fälle zieht sich ein Muster aus | |
Überforderung, Schlampigkeit und Gleichgültigkeit der Behörden. Und leider | |
fehlt es auch viel zu oft an Aufklärungswillen. | |
In die Sammlung aufgenommen haben wir Fälle, bei denen Menschen in Haft, | |
Sicherheitsgewahrsam oder bei einem Polizeieinsatz umgekommen sind. Nicht | |
gelistet sind Menschen, die selbst eine Feuerwaffe hatten, Geiseln genommen | |
oder außenstehende Dritte auf andere Weise willentlich in Lebensgefahr | |
gebracht haben. Wenn die Menschen mit einem Messer bewaffnet waren, tauchen | |
sie jedoch in der Dokumentation auf. Oft ist die Existenz des Messers | |
zumindest zweifelhaft, und außerdem kann man davon ausgehen, dass die | |
Polizei in der Lage ist, Menschen mit einem Messer zu entwaffnen, ohne sie | |
zu töten. | |
In die Dokumentation aufgenommen wurden alle Todesfälle von Menschen, die | |
von Sicherheitsbehörden als fremd wahrgenommen werden – sei es aufgrund | |
ihrer Hautfarbe oder aufgrund dessen, dass sie kein Deutsch können. | |
Darunter fallen Menschen mit Migrationshintergrund, ausländische | |
Staatsbürger und People of Color. | |
Die Gruppe „Death in Custody“ hat uns ihre Vorrecherche zum Thema zur | |
Verfügung gestellt, wofür wir uns herzlich bedanken. Die 2019 gebildete | |
Gruppe hat sich zum Ziel gesetzt, alle Fälle in Deutschland zu | |
dokumentieren, in denen Menschen, die von Rassismus betroffen sind, seit | |
1990 in Gewahrsam gestorben sind. Bislang hat sie [5][161 Fälle in ihre | |
Chronologie] aufgenommen. | |
RedakteurInnen, KorrespondentInnen und AutorInnen der taz haben die Fälle | |
untersucht und weitere Informationen gesammelt. Wir hoffen, damit dazu | |
beizutragen, dass die Aufmerksamkeit, die der Tod George Floyds auf die | |
Probleme auch in unserem Land gerichtet hat, wach bleibt. Christian Jakob | |
und Steffi Unsleber | |
## Yaya Jabbi, 19. 2. 2016, Hamburg | |
Am 15. Januar wird der 21-jährige Yaya Jabbi aus Guinea-Bissau in einer | |
Seitenstraße der Hamburger Reeperbahn festgenommen. Die Polizei findet 1,65 | |
Gramm Marihuana bei ihm. Eine Kleinstmenge, die weit unter dem Eigenbedarf | |
liegt – jedenfalls bei weißen Menschen. Die Polizei geht davon aus, dass | |
Jabbi dealt, und steckt ihn in Untersuchungshaft. Wegen seiner Verbindungen | |
zum Ausland bestehe Fluchtgefahr, urteilen die Haftrichter*innen. Einen | |
Monat nach seiner Inhaftierung ist Jabbi tot. Am 19. Februar finden ihn | |
Mitarbeiter*innen der Justizvollzugsanstalt aufgehängt an der | |
Gardinenstange seiner Zelle. | |
Für die Behörden ist der Fall abgeschlossen: Yaya Jabbi hat sich in seiner | |
Zelle erhängt, ein Gutachten bestätigt den Suizid. Die Obduktion wird | |
damals von Klaus Püschel durchgeführt, dem Leiter des Instituts für | |
Rechtsmedizin am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf. Bei der | |
Untersuchung stellt der Gerichtsmediziner keine Anzeichen von | |
Fremdeinwirkung fest. | |
Püschel ist auch aus anderen Kontexten bekannt: Von 2001 bis 2006 | |
verantwortete er den Einsatz von Brechmitteln bei mutmaßlichen Dealern. | |
Während eines solchen Einsatzes stirbt der Nigerianer Achidi John. 2015 | |
lässt Püschel die Genitalien von Geflüchteten vermessen, um ihr Alter zu | |
bestimmen. | |
Nach Yaya Jabbis Tod will die Familie ihn so bald wie möglich beerdigen, so | |
kommt es zu keinem zweiten Gutachten. Aber seine Angehörigen und | |
Freund*innen glauben nicht an einen Suizid. Sie beschreiben Jabbi als | |
fröhlichen Menschen. Auch das Suizidscreening in der Untersuchungshaft habe | |
keine Anhaltspunkte für eine Suizidgefahr ergeben, schreibt die Initiative | |
Remember Yaya Jabbi unter Berufung auf die Justizbehörde auf ihrer Website. | |
Mit der Initiative kämpft der Bruder des Verstorbenen, Abou Jabbi, gegen | |
dessen Vergessen. Katharina Schipkowski | |
## Amos Thomas, 13. 7. 2016, Erharting bei Mühldorf am Inn | |
Der 62-jährige Amos Thomas soll aus einem Altenpflegeheim in Erharting, | |
Oberbayern, in die Psychiatrie gebracht werden. Er leidet an einer | |
chronischen Schizophrenie und hat die Wahnvorstellung, er sei Gott. | |
Thomas stammt ursprünglich aus Liberia und ist 1993 nach Deutschland | |
gekommen, hier lebt er mit einer Duldung. An dem besagten Morgen soll er | |
sich aggressiv verhalten haben, deshalb werden für den Krankentransport | |
zwei Polizeibeamte hinzugezogen. Als es zu dem tödlichen Vorfall kommt, | |
befinden sich in dem kleinen Raum neben Thomas sein Mitbewohner, | |
DRK-Mitarbeiter, Heimpersonal und die Polizisten. Thomas geht mit einem | |
Messer auf einen Polizisten los und verletzt ihn am Bein. Daraufhin wird er | |
erschossen. | |
Der Fall kommt zur Staatsanwaltschaft Traunstein. Ein Jahr später teilt sie | |
in einer Pressemitteilung mit, dass „keine Ermittlungen gegen eine | |
bestimmte Person eingeleitet“ worden seien. Ihrer Auffassung nach sei der | |
Schusswaffengebrauch rechtmäßig gewesen, da einer der Beamten durch den | |
Messerstich so schwer verletzt worden sei, „dass konkrete Lebensgefahr | |
bestand“. Nach dem Messerangriff hätten beide Beamte ihre Dienstwaffe | |
gezogen „und gaben insgesamt vier Schüsse ab“. | |
Thomas war sofort tot. | |
Michael Gaertner war der rechtliche Betreuer von Amos Thomas. Er sagt: | |
„Amos konnte aggressiv werden, war aber letztlich harmlos. Wenn er | |
austickte, konnte ich ihn runterholen.“ Patrick Guyton | |
## Hussam Fadl, 27. 9. 2016, Berlin | |
Hussam Fadl lebt mit seiner Frau und seinen zwei Kindern in der | |
Geflüchtetenunterkunft in Berlin-Moabit, als es am Abend des 27. September | |
2016 zu einem Polizeieinsatz kommt. Die Polizist:innen sind angerückt, | |
um einen Mann festzunehmen, der Kinder in der Unterkunft sexuell | |
missbraucht haben soll – darunter auch die sechsjährige Tochter von Hussam | |
Fadl. | |
Der Verdächtige sitzt bereits im Polizeiwagen, als Fadl auf das Auto | |
zuläuft, er soll aufgebracht gewesen sein. Dann schießen drei Polizisten | |
insgesamt viermal von hinten auf ihn. Wenige Zeit später stirbt er im | |
Krankenhaus. | |
Die Staatsanwaltschaft ermittelt: Warum haben die Polizisten geschossen? | |
Die Polizei gibt an, Fadl habe ein Messer bei sich gehabt. Doch es gibt | |
Zeug:innen, die dem widersprechen. Auf einem später sichergestellten Messer | |
sind keine Fingerabdrücke des Mannes zu finden. | |
Der Hauptzeuge und Verdächtige im Missbrauchsfall wird nach Pakistan | |
abgeschoben, bevor er von Ermittler:innen befragt werden kann. Trotz | |
der Widersprüche stellt die Staatsanwaltschaft das Verfahren im Mai 2017 | |
ein. Es heißt, die Polizist:innen hätten aus Notwehr gehandelt. | |
Im Mai 2018 weist das Kammergericht Berlin die Staatsanwaltschaft an, die | |
Ermittlungen wieder aufzunehmen. In einer Begründung heißt es, die Umstände | |
seien „unzureichend aufgeklärt“. Das Gericht zweifle an einer „sorgfält… | |
Ermittlungstätigkeit“. Die Witwe Fadls und ihr Anwalt hoffen auf eine | |
öffentliche Hauptverhandlung. [6][Doch die Ermittlungen laufen bis heute | |
nur schleppend]. Die Staatsanwaltschaft Berlin wollte sich gegenüber der | |
taz bis Redaktionsschluss nicht äußern. Sarah Ulrich | |
## Dschaber al-Bakr, 12. 10. 2016, Leipzig | |
Am 12. Oktober wird Dschaber al-Bakr tot in seiner Zelle in der | |
Justizvollzugsanstalt Leipzig gefunden. Er hat sich erhängt. Nur wenige | |
Tage zuvor war der 22-jährige Syrer verhaftet worden, Dschabar al-Bakr soll | |
einen islamistischen Sprengstoffanschlag auf einen Berliner Flughafen | |
geplant haben. Er war einer Verhaftung zunächst entgangen, drei Syrer | |
übergaben ihn schließlich der Polizei. In al-Bakrs Wohnung fanden sich 1,5 | |
Kilogramm hochexplosiver Sprengstoff. | |
Da al-Bakr jede Nahrungs- und Flüssigkeitsaufnahme verweigerte, hatte die | |
Haftrichterin auf eine erhöhte Suizidgefahr hingewiesen. Die | |
Anstaltspsychologin hingegen stufte al-Bakr nur als „mäßig suizidgefährdet… | |
ein, was eine später eingesetzte Expert*innenkommission in einer | |
Pressemitteilung als „sehr nachvollziehbar“ bezeichnete. | |
[7][Die Expert*innen sahen keine Mängel in der Kontrolle] – wohl aber in | |
der Betreuung des Gefangenen, dem etwa kein Hofgang gewährt wurde. Auch | |
habe die Justizvollzugsanstalt wichtige Informationen zum Inhaftierten | |
„nicht oder zu spät“ erhalten. Welche das gewesen seien, spezifiziert die | |
Kommission in ihrer Pressemitteilung nicht. | |
Der 184 Seiten lange Bericht der Kommission ist nicht öffentlich, aber die | |
Leipziger Volkszeitung zitiert daraus: „Der Untersuchungsgefangene hätte zu | |
keinem Zeitpunkt allein gelassen werden dürfen.“ | |
Es sei „wiederholt gegen gesetzliche Vorgaben, allgemeine Richtlinien sowie | |
Weisungen verstoßen“ worden. „Der Gefangene wurde unangemessen betreut, und | |
es wurde Sachverhalten nicht nachgegeben, die als Anzeichen für die | |
Entwicklung einer Suizidgefahr hätten wahrgenommen werden können.“ | |
Die Familie al-Bakrs erstattete Strafanzeige wegen fahrlässiger Tötung. Im | |
Juni 2017 stellte die Staatsanwaltschaft die Ermittlungen ein. Dinah Riese | |
## Name unbekannt, 17. 10. 2016, Bielefeld | |
Es ist bereits Mitternacht, als die Polizei Bielefeld am 15. Oktober zu | |
einem Einsatz im Stadtteil Brake gerufen wird. Nachbar:innen haben sich | |
über Lärm beschwert, ein türkischer Mann, zu diesem Zeitpunkt 39 Jahre alt, | |
schreie auf der Straße. Die Polizei findet ihn vor der Haustür seiner | |
Ehefrau, später heißt es, sie habe ihn rausgeworfen. | |
Die Beamten nehmen den Mann fest, fixieren ihn mit Kabelbindern, drücken | |
ihn mit dem Bauch nach vorne auf den Rasen. Zeug:innen berichten, der | |
Festgenommene habe nach Allah geschrien, gerufen: „Die wollen mich | |
umbringen.“ Sie sagen auch, ein Beamter habe sich daraufhin auf ihn | |
gesetzt und sein Gesicht in den Rasen gedrückt. Ein Zeuge will gehört | |
haben, wie ein Beamter sagt: „Ruf du nur weiter nach deinem Gott.“ | |
Da der Mann unter Substanzeinfluss steht und, wie die Staatsanwaltschaft | |
später sagt, „drogenpsychotisches Verhalten“ an den Tag legt, wird ein | |
Krankenwagen gerufen. Während des Abtransports kollabiert der Mann, wird | |
mehrfach wiederbelebt. Am zweiten Tag nach der Festnahme stirbt er im | |
Krankenhaus an einem Herzinfarkt. | |
Die Staatsanwaltschaft beantragt eine Obduktion, bei der zahlreiche | |
Hämatome im Gesicht sowie Abschürfungen und Schnittwunden durch die | |
Kabelbinder festgestellt werden. Die Witwe schaltet einen Anwalt ein. Sie | |
wirft der Polizei unverhältnismäßige Härte vor und will prüfen lassen, ob | |
die Festnahme mit dem Tod ihres Mannes zu tun hatte. Gegen den Beamten wird | |
zunächst wegen fahrlässiger Tötung ermittelt, die Ermittlungen werden aber | |
wenige Monate später eingestellt. | |
Ein Sprecher der Staatsanwaltschaft Bielefeld sagt gegenüber der taz, die | |
rechtsmedizinische Untersuchung habe eindeutig ergeben, dass es „keine | |
Hinweise auf eine Kausalität zwischen der Gewalteinwirkung und dem | |
Herzinfarkt“ gebe. Die Gewalteinwirkungen seien „gerechtfertigt“ gewesen, | |
da der Mann „massive Gegenwehr gegen rechtmäßige polizeiliche Maßnahmen | |
geleistet“ habe. Sarah Ulrich | |
## Name unbekannt, 19. 2. 2017, Herten | |
Ein 30-jähriger Tunesier, der in einer Psychiatrie der | |
nordrhein-westfälischen Stadt Herten behandelt wird, läuft am Abend des 19. | |
Februar unerlaubt von dort weg. Er dringt in die Wohnung einer 72-jährigen | |
Frau ein, die zu ihrer Nachbarin flüchtet und die Polizei ruft. Nach dem | |
Eintreffen schießt ein Beamter auf den Eindringling. Der Obduktionsbericht | |
ergibt, dass der Mann an einer Kugel in der linken Brust starb. Am Tatort | |
wird ein Messer gefunden, mit dem der Mann die Polizeibeamten bedroht haben | |
soll. Lea Fauth | |
## Mikael Haile, 27. 4. 2017, Essen | |
In der Nacht zum 27. April werden Beamt*innen der Polizei Essen wegen | |
Ruhestörung gerufen. Der Nachbar, der die Polizei rief, hatte zuvor bei | |
Mikael Haile geklingelt. „Meine Wohnung, meine Wohnung“, soll Haile | |
geantwortet haben, bevor er die Tür schloss. In Medienberichten beschreibt | |
der Nachbar den 22-Jährigen als ruhig und freundlich. Einige Male soll er | |
abends „Krach“ gemacht haben. | |
Mikael Haile war aus Eritrea nach Deutschland geflüchtet und wohnte in | |
einer Sozialwohnung in Altenessen. Girmay Habtu, der sich seit 20 Jahren | |
ehrenamtlich um junge Geflüchtete kümmert, war mehrfach dort und beschreibt | |
die Wohnung als „sehr hellhörig“. Fernseher, Radio oder andere Geräte soll | |
Haile bis zu seinem Tod nicht gehabt haben. Deutsch habe Haile nur | |
gebrochen gesprochen. Doch „er war motiviert und wollte was erreichen“, | |
sagt Habtu. | |
Als die beiden Polizeibeamten bei Haile klingeln, sollen sie sich | |
„deutlich“ identifiziert haben, so steht es in einer Antwort der | |
Landesregierung von Nordrhein-Westfalen. Haile soll die Tür mit einem | |
Küchenmesser in der Hand geöffnet haben. Trotz „mehrfacher, eindrücklicher | |
und laut vernehmlicher Aufforderung“ habe Haile das Messer nicht fallen | |
gelassen. | |
Die beiden Beamten sind die einzigen Zeugen. Sie hätten ihre Pistolen auf | |
Haile gerichtet und sich „rückwärtsgehend durch den Flur zurückgezogen“. | |
Haile soll auf die beiden Männer mit den gezogenen Schusswaffen zugestürmt | |
sein und versucht haben, sie mit seinem 20-Zentimeter-Küchenmesser | |
anzugreifen. „Nur durch einen gezielten Schuss“ habe ein Beamter „den | |
unmittelbar lebensgefährdenden Angriff […] abwenden können“, so die | |
Staatsanwaltschaft Essen. Der Schuss traf Haile in die Brust. | |
Girmay Habtu bezweifelt die Darstellung der beiden Beamten und wirft ihnen | |
vor, über Notwehr hinaus gehandelt zu haben. „Warum haben sie ihm nicht ins | |
Bein geschossen?“ Die Staatsanwaltschaft Essen hat das Handeln der | |
Polizisten als Notwehr eingestuft und die Ermittlungen eingestellt. Anett | |
Selle | |
## Name unbekannt, 22. 1. 2018, Darmstadt | |
Die Darmstädter Polizei wird wegen eines nächtlichen Familienstreits | |
gerufen. Eine Frau gibt an, sie werde von ihrem Ehemann geschlagen. Als | |
die Polizeibeamten eintreffen, seien sie bereits an der Wohnungstür von | |
dem mit zwei Messern bewaffneten Ehemann erwartet worden, geben sie später | |
zu Protokoll. Es fallen mehrere Schüsse. | |
Der Mann, ein 40-jähriger kasachischer Staatsbürger, stirbt an seinen | |
Verletzungen. Seine Ehefrau und die beiden Kinder, 16 und 18 Jahre alt, | |
bleiben unverletzt. Die Kinder erleiden allerdings einen Schock und müssen | |
im Krankenhaus behandelt werden. | |
Die Staatsanwaltschaft Darmstadt stellt das Ermittlungsverfahren ein. Zur | |
Begründung erklärt sie der taz: „Aufgrund der Nähe des Angreifers, der | |
Bewaffnung mit zwei Messern und dem begrenzten Raum im Treppenhaus war von | |
der Schusswaffe Gebrauch zu machen, auch wenn der Angreifer dadurch | |
tödliche Schussverletzungen erleidet. Für die Abgabe eines Warnschusses | |
blieb in dieser Situation keine Zeit mehr.“ Christoph Schmidt-Lunau | |
## Hamit P., 9. 2. 2018, Wuppertal | |
Am Mittag stürmen SEK-Beamte die Wohnung von Hamit P. Der 43-Jährige soll | |
der regionale Anführer der sogenannten Osmanen Germania BC sein, einer | |
Gruppe von türkischnationalen Rockern, die als gewaltbereit gilt und | |
inzwischen vom Innenministerium verboten wurde. Nach einem Hinweis eines | |
Aussteigers erlässt ein Richter einen Haftbefehl gegen Hamit P., | |
Spezialkräfte der Wuppertaler Polizei sollen die Festnahme durchführen. | |
Als die SEK-Beamten die Tür aufbrechen, werfen sie eine Blendgranate, die | |
im Flur detoniert. Ein Beamter stürmt ins Wohnzimmer, wo er Hamit P. | |
antrifft – laut Medienberichten nur mit Handtuch und Unterhemd bekleidet. | |
Der Beamte schießt auf Hamit P., dieser erliegt noch vor Ort seinen | |
Verletzungen. | |
Der Beamte sagt später aus, Hamit P. habe einen dunklen Gegenstand in der | |
Hand gehabt, außerdem sei er von dem Druck und Knall einer weiteren von | |
Kolleg:innen gezündeten Blendgranate irritiert worden. Er habe geglaubt, | |
Hamit P. hätte auf ihn geschossen. | |
Gegen den SEK-Beamten wird wegen fahrlässiger Tötung ermittelt. Aus | |
Neutralitätsgründen übernimmt die Polizei Essen die Ermittlungen. Dabei | |
stellt sich heraus, dass der dunkle Gegenstand in Hamit P.s Hand ein Handy | |
gewesen sein soll. Später heißt es jedoch, sein Handy sei an einem | |
Ladegerät gefunden worden. Unklar bleibt, warum eine zweite Blendgranate | |
gezündet wurde. Im Januar 2019 stellt die Staatsanwaltschaft mangels | |
Tatverdacht die Ermittlungen ein. Es habe sich um ein „tragisches | |
Missverständnis“ gehandelt. | |
Die Familie von Hamit P. legt Einspruch gegen die Einstellung ein. Seit | |
Anfang 2020 hat die Polizei Essen die Ermittlungen wieder aufgenommen. Ein | |
Sprecher bestätigt das gegenüber der taz. Von der Staatsanwaltschaft heißt | |
es, der Sachverhalt werde nun noch einmal „detaillierter aufgeklärt“. Sarah | |
Ulrich | |
## Bekir B., 1. 3. 2018, Neubrandenburg | |
In der Nacht beobachtet eine Frau, wie drei Männer in ein Döner-Bistro am | |
Juri-Gagarin-Ring in Neubrandenburg einbrechen, und alarmiert die Polizei. | |
Die beiden Beamten, die zuerst am Tatort sind, fordern die Einbrecher mit | |
gezogener Waffe zum Verlassen des Objekts auf. Mit erhobenen Händen kommen | |
die Männer in dem dunklen Raum auf sie zu, ehe der 27-jährige Bekir B. | |
ihnen den Rücken zuwendet. Laut Staatsanwaltschaft ignoriert er die | |
Aufforderung, sich hinzulegen. Stattdessen dreht er sich um und sprüht | |
einem Beamten Reizgas ins Gesicht. Aus zwei bis drei Metern Entfernung | |
feuert dieser einen Schuss ab, der B. in den Oberkörper trifft. Der | |
Verletzte wird in ein Krankenhaus eingeliefert, in dem er noch in der Nacht | |
stirbt. | |
Die beiden anderen Tatverdächtigen werden mit ihrer Beute in Höhe von | |
30.000 Euro festgenommen. Der Tote und ein Komplize, beide mit deutscher | |
Staatsbürgerschaft, sollen der aus dem Libanon stammenden Familie Miri | |
angehören, deren Mitglieder zum Teil mit organisierter Kriminalität in | |
Verbindung gebracht werden. | |
Noch am selben Tag sagt der Kreisgruppenvorsitzende der Gewerkschaft der | |
Polizei in Neubrandenburg, Andreas Wegner, dem Nordkurier, dass sich der | |
Beamte richtig verhalten habe. Ende April schließt die Staatsanwaltschaft | |
den Fall ab. Der Einsatz der Schusswaffe sei im Rahmen des Notwehrrechts | |
erfolgt und damit gerechtfertigt, so Oberstaatsanwalt Gerd Zeisler; ein | |
„milderes Mittel“ habe dem Beamten „nicht zur Verfügung“ gestanden. Er… | |
Peter | |
## Name unbekannt, 10. 4. 2018, Bremervörde | |
Im Gefängnis Bremervörde im niedersächsischen Landkreis Rotenburg (Wümme) | |
begeht ein aus dem Irak stammender Häftling Suizid, obwohl der | |
psychologische Dienst der Anstalt zuvor eine Suizidabsicht verneint hatte. | |
Der Geflüchtete wird erst so spät in seiner Zelle entdeckt, dass bereits | |
die Leichenstarre eingesetzt hat. Der Gefangene hatte sich mit einem | |
Schnürsenkel im Nassbereich an der Tür stranguliert. Der Iraker hinterlässt | |
sieben Kinder. Reimar Paul | |
## Matiullah Jabarkhil, 13. 4. 2018, Fulda | |
Matiullah Jabarkhil wird am frühen Morgen von einem Polizisten im | |
hessischen Fulda erschossen. Der 19-jährige Afghane lebte unweit des | |
Tatorts in einer Unterkunft für Geflüchtete. Die Polizei gibt an, Jabarkhil | |
habe den Auslieferungsfahrer einer Bäckerei sowie einen Streifenbeamten mit | |
einem faustgroßen Stein verletzt und sei anschließend mit dem | |
Teleskopschlagstock des Polizisten geflohen. Bei der Verfolgung durch einen | |
Beamten habe dieser insgesamt zwölf Schüsse abgegeben, von denen zwei | |
tödlich waren. | |
[8][Die tödlichen Schüsse seien „durch Notwehr gerechtfertigt“], heißt es | |
in einer Pressemitteilung der Staatsanwaltschaft Fulda. Jabarkhil habe den | |
beschuldigten Beamten mit dem entwendeten Schlagstock angegriffen, der | |
daraufhin in schneller Folge acht Schüsse abgegeben habe. Zuvor hatte der | |
Beamte Jabarkhil bei der Verfolgung mehrfach verfehlt. | |
Das gegen den Polizeibeamten eingeleitete Ermittlungsverfahren war im | |
Januar 2019 zum ersten Mal eingestellt worden. Nach dem Fund eines | |
Handyvideos, auf dem Teile des Geschehens kurz vor den tödlichen Schüssen | |
zu sehen sind, wurden die Ermittlungen im März 2019 wieder aufgenommen und | |
im August 2019 zum zweiten Mal eingestellt. Die Anwältin der Angehörigen | |
des Getöteten hat Beschwerde gegen die Verfahrenseinstellung eingereicht. | |
Für die Gruppe Afghan Refugees Movement bleiben viele Fragen offen. Warum | |
konnten die vier bis fünf anwesenden bewaffneten Polizeibeamten den 1,70 | |
Meter großen Mann, der sich offensichtlich in einem psychischen | |
Ausnahmezustand befand, nicht festnehmen, ohne ihn zu erschießen? Warum | |
wurde Jabarkhil rund 200 Meter entfernt von der Bäckerei getötet, wenn es | |
sich um Notwehr gehandelt haben soll? In den frühen Morgenstunden waren | |
keine umstehenden Personen gefährdet – warum wartete man nicht auf | |
Verstärkung? Henrike Koch | |
## Mahmood J., 30. 5. 2018, Flensburg | |
Er wollte nach Kiel und hatte den Umstieg verpasst, sie half ihm dabei, | |
eine neue Zugverbindung zu finden. Warum der 24-jährige Mahmood J., der | |
2015 aus Eritrea nach Deutschland kam, bei der Fahrt im Intercity 2406 nach | |
Flensburg wenig später ein Küchenmesser zieht und auf die 22-jährige | |
Bundespolizistin einsticht, ist auch zwei Jahre danach nicht ganz klar. | |
Die Beamtin erschießt ihn. | |
Unklar waren zunächst auch die Abläufe: Die ersten Meldungen besagten, die | |
Beamtin, die in Bremen tätig war, habe einen Streit zwischen Mahmood J. und | |
einem Mann aus Köln schlichten wollen. Dann hieß es, sie sei angriffen | |
worden und habe im Reflex geschossen. Laut ihrer eigenen Aussage stand die | |
Beamtin an der Waggontür, um auszusteigen, als der Zug in den Flensburger | |
Bahnhof einfuhr. J. habe auf sie eingestochen, woraufhin der Kölner sich | |
einmischte. Die Beamtin sei ins Nachbarabteil gelaufen, um Alarm zu | |
schlagen, sei zu dem Kampf zurückgekehrt und habe geschossen, um den Kölner | |
zu schützen. | |
Der Landtag von Nordrhein-Westfalen widmet sich dem Fall, das | |
Innenministerium schreibt einen Bericht. Demnach soll der Eritreer, der in | |
Recklinghausen lebte und nach eigener Auskunft über Italien und Österreich | |
nach Deutschland kam, kriegstraumatisiert und aggressiv gewesen sein. Am 6. | |
April 2018 hatte er einen Nachbarn, ebenfalls geflüchtet, gebissen. Die | |
Flüchtlingshilfe der Caritas ordnete eine psychiatrische Untersuchung an – | |
dazu kommt es nicht mehr. Esther Geißlinger | |
## Amad Ahmad, 29. 9. 2018, Kleve | |
In Geldern am Niederrhein wird Amad Ahmad am 6. Juli 2018 verhaftet. Der | |
Kurde soll vier junge Frauen verbal „sexuell beleidigt“ haben. Der Vater | |
einer der Frauen ist Polizist – sie ruft ihn auf seinem Diensttelefon an. | |
Der damals 26-jährige Amad Ahmad wird festgenommen – und für einen | |
gesuchten Vergewaltiger gehalten. | |
Doch das ist er nicht. Die „vermeintlich Geschädigte“ gibt zu, „dass es | |
keine Vergewaltigung gegeben habe, sondern sie eine solche vorgetäuscht | |
habe“, heißt es in Unterlagen der Staatsanwaltschaft. | |
Der aus Nordsyrien Geflüchtete bleibt trotzdem in Haft. Denn schon zwei | |
Tage vor seiner Festnahme wurden seine in der NRW-Polizeidatenbank ViVA | |
gespeicherten Daten mit denen eines schwarzen Mannes aus Mali vermischt. | |
Der heißt Amedy G. und wird laut INPOL-Software der Bundespolizei von den | |
Staatsanwaltschaften Hamburg und Braunschweig wegen Diebstahls gesucht. | |
„Personenzusammenführung“ heißt diese Vermischung im Polizeijargon. | |
Zwar ist in ViVA ein Foto des „hellhäutigen“ Kurden und in INPOL ein Foto | |
des „schwarzhäutigen“ Amedy G. vorhanden – doch niemand der mehr als 20 | |
Beamt*innen, die allein in NRW den Fall bearbeiten, vergleicht sie. Bis zum | |
17. September sitzt Amad Ahmad in der Justizvollzugsanstalt Kleve. Dann | |
brennt seine Zelle. Er wird so schwer verletzt, dass er kaum noch zu | |
erkennen ist. Am 29. September stirbt er nach einer Lungentransplantation. | |
Seit Ende November 2018 kämpft ein auf Druck von Grünen und SPD | |
eingesetzter parlamentarischer Untersuchungsausschuss des NRW-Landtags um | |
Aufklärung. Sicher ist bisher: „Einige hätten helfen können, andere hätten | |
helfen sollen, und einige hätten helfen müssen, Amad Ahmad aus der Haft zu | |
befreien“, [9][hält SPD-Fraktionsvize Sven Wolf den ermittelnden | |
Polizist*innen vor]. „Er hätte noch leben können.“ | |
Denn schon nach Aktenlage hatte eine Staatsanwältin erkannt, dass der Kurde | |
aus Syrien nicht der Mann aus Mali ist. Amad Ahmad sei „nicht identisch“ | |
mit Amedy G., notierte sie mehr als zwei Monate vor dem tödlichen Brand – | |
und telefonierte mit dem Polizisten Frank G. „Was hat er danach gemacht? | |
Hat er trotzdem den Deckel der Akte zugeklappt?“, fragt der Obmann der | |
Grünen im Untersuchungsausschuss, Stefan Engstfeld. | |
Dazu kommt: „Bis heute wissen wir nicht, wer die Personenzusammenführung | |
veranlasst hat“, sagt Engstfeld. „Wer war dafür verantwortlich?“ Klar wi… | |
wenn man sich den Mailverkehr zwischen einer Mitarbeiterin des Ordnungsamts | |
und der Polizei Geldern anschaut: Die Behörden warteten nur auf einen | |
Anlass, den offenbar vom syrischen Assad-Regime gefolterten Kurden wegen | |
vermuteter „psychischer Probleme“ zwangseinweisen zu lassen. | |
Damit steht die Theorie eines Komplotts im Raum: Wurden die Daten von Amad | |
Ahmad und Amedy G. absichtlich vermischt, um Ahmad ohne jede | |
Rechtsgrundlage inhaftieren zu können? Völlig unklar ist auch der Verlauf | |
des tödlichen Zellenbrands. Mitgefangene wollen Ahmad lange um Hilfe | |
schreiend am Fenster der Haftanstalt gesehen haben. Andreas Wyputta | |
## Aristeidis L., 12. 1. 2019, Berlin | |
Der 36-jährige Grieche Aristeidis L. ist an Händen und Füßen gefesselt, als | |
er im Dezember 2018 im Polizeigewahrsam kollabiert. Ein Dutzend | |
Polizist:innen wollen ihn in eine Zelle der Berliner | |
Gefangenensammelstelle in Tempelhof bringen. Sie hatten ihn halb nackt und | |
außer sich in einer Bäckerei aufgegriffen, sofort eskalierte die Situation | |
– ein sozialpsychiatrischer Dienst wurde nicht alarmiert. | |
Auf dem Weg in die Zelle wehrt sich L. nach Kräften. Die Polizist:innen | |
setzen Pfefferspray ein, obwohl L. Handschellen trägt. Schließlich fixieren | |
ihn vier Einsatzkräfte in Bauchlage auf dem Boden eines engen Fahrstuhls. | |
L. bekommt keine Luft mehr und kollabiert. Er stirbt nach einem künstlichen | |
Koma zwei Wochen später im Krankenhaus. Offizielle Todesursache: | |
lagebedingter Erstickungstod. | |
Der Pfeffersprayeinsatz trotz Fesseln und die offenbar rechtswidrige | |
Fixierung nähren aus Sicht des Kriminologen Thomas Feltes den Verdacht der | |
fahrlässigen Tötung: Man dürfe niemanden länger als ein paar Sekunden in | |
Bauchlage festhalten, zudem könne der Einsatz von Pfefferspray bei | |
psychisch Erkrankten und Menschen auf Drogen zum Tod führen. | |
Beides jedoch scheint hier geschehen zu sein, [10][wie taz-Recherchen | |
nahelegen]. Laut Hinterbliebenenanwältin befand L. sich in einem | |
manischen Zustand, stand zudem unter Drogeneinfluss. | |
Die Staatsanwaltschaft stellt die Ermittlungen wegen fahrlässiger Tötung | |
dennoch nach nur zwei Monaten ein, obwohl nicht einmal alle am Vorfall | |
beteiligten Einsatzkräfte vernommen wurden. Auch nicht der Wachpolizist, | |
der L. im Bereich des Oberkörpers fixierte, während dieser in Bauchlage auf | |
dem Boden des Fahrstuhls erstickte. Die Zwangsmaßnahmen sind laut | |
Staatsanwaltschaft nicht strafbar. | |
Ein erstes Klageerzwingungsverfahren des Bruders von L. ist gescheitert. | |
Der Mutter des Opfers steht der Klageweg als Hinterbliebene noch offen. | |
Gareth Joswig | |
## Rooble Muse Warsame, 26. 2. 2019, Schweinfurt | |
Rooble Muse Warsame wird am 26. Februar 2019 erhängt in einer Zelle der | |
Polizeidirektion Schweinfurt aufgefunden – in halb kniender, halb sitzender | |
Position. Um seinen Hals liegt ein abgetrennter Streifen einer Wolldecke, | |
das andere Ende ist fünfzig Zentimeter über seinem Kopf verknotet. Die | |
Wolldecke der Firma Ibena gilt eigentlich als unkaputtbar, trotzdem soll | |
Warsame davon einen Streifen abgerissen haben. Im Obduktionsbericht werden | |
Verletzungen am linken Knie, am linken Unterarm, am rechten Ellbogen, an | |
der linken Schläfe, am rechten Jochbogen und an der rechten Halsseite | |
beschrieben und als „Anschlagsverletzungen“ interpretiert. | |
„Ich kann mir nicht vorstellen, dass das Anschlagsverletzungen waren“, sagt | |
Biplab Basu von der Kampagne rassistischer Polizeigewalt in Berlin. „Er ist | |
ja nicht aus fünf Meter Höhe auf den Boden gefallen.“ | |
Im Oktober 2019 wurden die Ermittlungen von der Staatsanwaltschaft | |
Schweinfurt eingestellt, dort geht man von einem Suizid durch atypisches | |
Erhängen aus. Anfang Juli 2020 wurde die Akte jedoch wieder geöffnet. Der | |
leitende Staatsanwalt, Axel Weihprecht, erfuhr durch eine Medienanfrage, | |
dass ein Zeuge, der neben Rooble Warsame inhaftiert war, Geräusche gehört | |
haben soll. Er wurde von der Polizei entlassen, ohne dass er vernommen | |
wurde. In den Tagen danach ist er verschwunden, mit unbekanntem Ziel. | |
Verwandte von Rooble Warsame, die mit dem Mann gesprochen haben, erzählten, | |
dass er in der Nacht, als Rooble Warsame starb, Schreie gehört habe, die | |
plötzlich abgebrochen sind. | |
Ein dritter Mann hat sich in dieser Nacht ebenfalls in einer Zelle neben | |
Rooble Warsame in Gewahrsam befunden. Auch er wurde nicht vernommen. Er | |
wurde wenige Tage später nach Somalia abgeschoben. | |
Die Familie von Rooble Warsame sammelt jetzt Geld. Sie wollen tausend Pfund | |
zusammenbekommen, um ein externes Gutachten in Auftrag zu geben. Steffi | |
Unsleber | |
## Adel B., 18. 6. 2019, Essen | |
Der 32-jährige Adel B. stirbt in Essen-Altendorf durch einen Schuss in die | |
Brust. Abgefeuert von einem Polizisten, aus Notwehr. Die Staatsanwaltschaft | |
zweifelt daran nicht, der Fall wird zu den Akten gelegt. | |
Adel B. ist deutscher Staatsbürger mit algerischen Wurzeln. Er hat | |
psychische Probleme und ist der Polizei bekannt. Am 9. Juni meldet sich | |
seine Lebensgefährtin bei der Polizei, schildert einen Fall von häuslicher | |
Gewalt. Adel B. darf sich der Wohnung zehn Tage nicht nähern. Eine Woche | |
vor seinem Tod ruft er selbst die Polizei, er spricht davon, sich das Leben | |
nehmen zu wollen. Die Beamt:innen ziehen einen psychologischen Betreuer | |
hinzu, B. kommt in eine psychiatrische Klinik. Nur einen Tag später wird er | |
entlassen. | |
Sieben Tage später, ein ähnlicher Ablauf: Um 5.04 Uhr am Morgen ruft Adel | |
B. die Polizei, er sagt, er wolle sich erschießen lassen. Er macht sich auf | |
den Weg zur Altendorfer Straße, ein 30 Zentimeter langes Fleischermesser | |
hat er dabei. Ein Video zeigt die Szene: B. brüllt die Beamt:innen an, | |
er beleidigt sie, geht einige Schritte auf sie zu, ruft: „Schieß doch!“ Die | |
Beamt:innen weichen mit vorgehaltener Waffe immer weiter zurück. „Bleib | |
da stehen, Mann!“, ruft einer. So geht das minutenlang. | |
Allmählich scheint sich B. zu beruhigen, er telefoniert und macht sich dann | |
zurück auf den Weg zur Wohnung, in der er mit seiner Lebensgefährtin und | |
deren vier Kindern lebt. Ein Verhandlungsteam mit psychologisch geschulten | |
Kolleg:innen sei angefordert worden, das habe um diese frühe Uhrzeit | |
aber nicht schnell genug vor Ort sein können, sagt die Essener | |
Oberstaatsanwältin Anette Milk der taz. | |
Adel B. bekommt die Möglichkeit, das Mehrfamilienhaus zu betreten. Auf | |
einem weiteren Video sieht man die Polizist:innen, die sich der Haustür | |
zunächst langsam nähern, dann plötzlich schnell darauf zulaufen. Zweimal | |
gibt es einen Rums, dann fällt der Schuss. „Eine Beamtin, die um die vier | |
Kinder in der Wohnung wusste, wollte verhindern, dass die Tür ins Schloss | |
fällt, und hat sich dagegengeworfen“, so Milk. | |
Weiter schildert sie den Tathergang so: Hockend habe die Polizistin | |
versucht, die Tür aufzuhalten, ein weiterer Kollege habe ihr geholfen. Ein | |
dritter habe dann gesehen, wie Adel B. oberhalb des Kopfes seiner Kollegin | |
mit dem Messer herumfuchtelte, er habe um das Leben der Kollegin gefürchtet | |
und auf B. geschossen. | |
All das ist so auf dem Video nicht zu sehen. Das Ganze geschieht innerhalb | |
von Sekunden. | |
Aus einer Stellungnahme eines Anwalts der Angehörigen, die der taz | |
vorliegt, gehen erhebliche Zweifel an dieser Darstellung hervor: So sei | |
etwa der Schuss rechts der Brustbeinmitte, der zu einer Verletzung des | |
Herzens führte, unverhältnismäßig gewesen, da insbesondere die Beine für | |
den Schützen nicht durch etwaige Kollegen verdeckt gewesen seien. Die | |
Initiative „Gerechtigkeit für Adel“ fordert, dass ein Gerichtsverfahren | |
eröffnet wird. Vor dem Oberlandesgericht in Hamm soll das nun erzwungen | |
werden. Hanna Voß | |
## Sadnia Rachid, 20. 7. 2019, Erfurt | |
Fragt man nach dem Mann, der am 20. Juli 2019 in Erfurt verstarb, heißt er | |
meist „der aus Algerien“, oder es ist die Rede vom „bedauerlichen Vorfall… | |
der sich in der Bundespolizeiinspektion direkt am Bahnhof ereignete. | |
In einem Protokoll des Justizausschusses im thüringischen Landtag vom | |
letzten Sommer heißt er der „Beschuldigte“. Er war aufgefallen, als er | |
versucht hat, einen Rucksack zu stehlen. | |
Weiter heißt es, der Mann habe zahlreiche Medikamente bei sich gehabt. | |
Darunter Subutex, ein Opioid, das als Drogenersatz verabreicht wird. Ein | |
hinzugerufener Notarzt hält ihn für vernehmungsfähig, gestattet, Subutex zu | |
nehmen, um Entzugserscheinungen zu vermeiden. Immer wieder schläft der | |
Beschuldigte während der Befragung ein. Gegen 23 Uhr ordnet die | |
Staatsanwaltschaft die Freilassung an. Die Polizist*innen lassen ihn in | |
einer Zelle schlafen. | |
Alle 30 Minuten schauen sie nach ihm. Dann atmet er nicht mehr. Das ist um | |
3.35 Uhr. Notärzte bringen ihn ins Krankenhaus, wo er stirbt. | |
Auf Anfrage teilt die Staatsanwaltschaft der taz nun, fast ein Jahr später, | |
mit: „Die Polizeibeamten haben richtig gehandelt.“ Und: „Es ist demnach | |
kein Ermittlungsverfahren eingeleitet worden.“ | |
Das scheint das Justizministerium nicht zu wissen, denn das teilte dem | |
Landtag kürzlich mit, das „Todesermittlungsverfahren“ werde eingestellt. | |
Der Mann habe an einer eitrigen Luftwege- und Lungenentzündung gelitten. | |
Die Medikamente, die der Verstorbene eingenommen habe, könnten „den | |
Eintritt des Herz-Kreislauf-Stillstandes begünstigt haben“. | |
3.500 Euro mussten die Eltern zahlen, um den Leichnam ihres Sohnes nach | |
Hause zu holen. Weder Deutschland noch Algerien halfen. Stattdessen | |
sammelte ein Verein aus Düsseldorf Spenden. Und gaben dem Toten seine | |
Identität zurück, als sie statt der Behörden veröffentlichten, wer er ist: | |
Sadnia Rachid. Er war Vater und Ehemann; er hatte ein Leben in Frankreich. | |
Er ist 32 Jahre alt geworden. Christina Schmidt | |
## Aman Alizada, 17. 8. 2019, Stade | |
[11][Aman Alizada ist 19 Jahre alt, als ein Polizist ihn erschießt]. Es ist | |
nicht der erste Kontakt des jungen Afghanen mit der Ordnungsmacht, im | |
niedersächsischen Stade gilt er als stadtbekannt – auch wegen seiner | |
psychischen Probleme. Eine Weile war er in der geschlossenen Psychiatrie | |
untergebracht, weil er mit einem Messer in der Innenstadt aufgegriffen | |
wurde und sich für Gott gehalten habe. Schizophrenie, lautet die Diagnose, | |
vermutlich im Zusammenhang mit Alizadas traumatischer Fluchtgeschichte. | |
Als die Polizei am Abend des 17. August wegen eines handgreiflichen Streits | |
zur Geflüchtetenunterkunft im Stadtteil Bützfleth ausrückt, haben die | |
Beamt:innen jedenfalls eine Vorstellung, mit wem sie es zu tun haben. | |
Sie kommen zu viert. Alizada, sagen die Beamt:innen später aus, sei | |
aggressiv gewesen. Sie attackieren ihn durchs Fenster mit Pfefferspray und | |
dringen in die Wohnung ein. Als der randalierende Alizada ihn mit einer | |
eisernen Hantelstange bedroht, zieht ein 27-jähriger Polizist die Waffe und | |
schießt fünfmal. Zwei der Kugeln treffen, ein notärztlicher | |
Reanimationsversuch scheitert wenig später. | |
Zehn Monate ermittelt die Staatsanwaltschaft Stade und rekonstruiert den | |
Tathergang anhand der Aussagen der beteiligten Beamt:innen. Das Ergebnis: | |
Die fünf Schüsse seien Notwehr gewesen. Mitte Juni 2020 werden die | |
Ermittlungen eingestellt. | |
Kritik übt der Niedersächsische Flüchtlingsrat schon wegen der | |
Vorgeschichte. Dass etwa die Jugendhilfe bei dem traumatisierten | |
Geflüchteten ausgesetzt wurde, habe seine Stabilisierung „massiv | |
gefährdet“. Für die Anwälte von Alizadas hinterbliebenem Bruder war bereits | |
das Eindringen in die Wohnung rechtswidrig. Sie haben nun Beschwerde gegen | |
die Einstellung der Ermittlungen bei der Generalstaatsanwaltschaft in | |
Celle eingelegt. Jan-Paul Koopmann | |
## Name unbekannt, 2. 11. 2019, Hoppstädten-Weiersbach | |
Am Abend des 2. November geht bei der Polizei im Landkreis Birkenfeld ein | |
Notruf ein. Eine Frau berichtet von einem Mann, der in der Gemeinde | |
Hoppstädten-Weiersbach mit einer Axt Menschen bedrohe. Wie später bekannt | |
wird, ist es am Vereinsheim des TuS Hoppstädten bereits zu einer | |
Auseinandersetzung mit einem Vereinsmitglied gekommen. | |
Ein Augenzeuge sagt dem SWR später, der Mann habe das Mitglied mit der Axt | |
bedroht. Der Angegriffene habe mit seinem Pkw flüchten können. Der | |
Angreifer habe auf das Fahrzeug eingeschlagen, aber lediglich die Felge des | |
Autos gestreift. Mit einem Großeinsatz sucht die Polizei nach dem Mann. Sie | |
stellt ihn schließlich an den Plätzen des Tennis-Clubs Hoppstädten. | |
Trotz des Einsatzes von Pfefferspray flüchtet er wieder. „Neben einem | |
Geräteschuppen am Boden kauernd“ hätten ihn zwei Beamte aufgespürt, heißt | |
es im Bericht der Staatsanwaltschaft Bad Kreuznach; mit der Axt in der Hand | |
sei er plötzlich aufgesprungen, der Beamte habe einen Schuss abgegeben und | |
den Mann in der „Aufwärtsbewegung am Kopf“ getroffen, so die | |
Staatsanwaltschaft, die Notwehr erkennt. | |
Bei dem Toten handelt es sich um einen 26-jährigen als Geflüchteter | |
anerkannten Eritreer, der an keinem festen Wohnsitz gemeldet war. Über die | |
Umstände seines Lebens ist kaum etwas bekannt, nur dass er zeitweise in | |
psychologischer Behandlung war. Christoph Schmidt-Lunau | |
## Name unbekannt, 28. 12. 2019, Stuttgart | |
In der Nacht zum 28. Dezember wird die Polizei nach Stuttgart-Möhringen | |
gerufen, weil ein Kleinwagen in falscher Richtung durch einen Kreisverkehr | |
gefahren und gegen eine Litfaßsäule geprallt war. Als die Polizei am | |
Unfallort ankommt, wollen der Fahrer und seine Beifahrerin zu Fuß fliehen. | |
Laut Polizeibericht zieht der Fahrer, als er von den Beamten eingeholt | |
wird, ohne Vorwarnung einen schwertähnlichen Gegenstand hervor und geht | |
dann damit auf die Beamten los. | |
Nachdem es den Beamten nicht gelingt, den Mann mit Pfefferspray zu stoppen, | |
schießen beide auf ihn. Der 32-jährige Serbe wird mehrfach getroffen und | |
stirbt im Krankenhaus an den Schussverletzungen. Nähere Ermittlungen | |
ergeben, dass er offenbar unter einer psychischen Erkrankung litt, die | |
Beifahrerin war seine 69-jährige Mutter. Bei der Durchsuchung der Wohnung | |
des Mannes werden Gaspistolen, eine Armbrust und ein weiteres Schwert | |
gefunden. Benno Stieber | |
## Mehmet B., 5. 1. 2020, Gelsenkirchen | |
Der 37-jährige Mehmet B. schlägt mit einem Gegenstand auf ein geparktes | |
und leeres Polizeiauto in Gelsenkirchen ein. Er soll dann „mit einem Messer | |
hantiert“ und zwei in der Nähe stehende Beamte bedroht haben, heißt es in | |
der Pressemitteilung der Polizei Münster. Einer der Beamten, nur 23 Jahre | |
alt, tötet Mehmet B. mit vier Schüssen. Der Mann stirbt unmittelbar vor | |
Ort. Er stammte aus der Türkei und hatte die türkische Staatsbürgerschaft. | |
Die Polizei gibt zunächst an, es habe sich bei den Schlägen auf den | |
geparkten Streifenwagen um einen Terroranschlag gehandelt. Über den Fall | |
berichtet sogar die „Tagesschau“. In der polizeilichen Pressemitteilung und | |
in Medienberichten ist von einem „Knüppel“ die Rede, mit dem Mehmet B. auf | |
das Auto geschlagen haben soll. | |
Auf Anfrage der taz gibt die zuständige Staatsanwaltschaft Essen an, der | |
Gegenstand sei ein Ast gewesen. Unter anderem die Bild berichtet, der Mann | |
habe „Allahu akbar“, „Gott ist groß“, gerufen, als er sich in die Rich… | |
der beiden Polizeibeamten bewegt habe. Das bestätigte die ermittelnde | |
Staatsanwaltschaft der taz. | |
Zwar war Mehmet B. schon einmal als islamistischer Prüffall eingestuft und | |
vom Staatsschutz beobachtet worden, jedoch waren Ermittlungen schon damals | |
„ohne Befund“ geblieben. Auch eine nachträgliche Wohnungsdurchsuchung ließ | |
keine Schlüsse auf eine terroristische Motivation zu. So ruderte dann auch | |
die Polizei zurück, und sogar NRW-Innenminister Herbert Reul stellte klar, | |
es habe sich bei der Attacke auf den Streifenwagen um die „Tat eines | |
psychisch auffälligen Einzeltäters“ gehandelt. | |
Die Ermittlungen gegen den Polizeibeamten, der die Schüsse abgegeben hat, | |
wurden eingestellt, „da ein Fall von Notwehr vorgelegen hat“, so die | |
Staatsanwaltschaft gegenüber der taz. Lea Fauth | |
## Mohamed Idrissi, 18. 6. 2020, Bremen-Gröpelingen | |
Mohamed Idrissi, 54, hat soeben durch seine Vermieter eine fristlose | |
Kündigung erhalten, er soll im Keller einen Wasserschaden verursacht haben. | |
Für die Besichtigung holt die Hausverwaltung sich Unterstützung durch die | |
Polizei; wohl informiert, aber nicht dabei ist der Betreuer des psychisch | |
kranken Idrissi. Obwohl die Kellerbegehung reibungslos verläuft, will die | |
Polizei Idrissi im Anschluss zur psychologischen Begutachtung bringen. | |
Idrissi weigert sich; auf dem Parkplatz des Wohnhauses, umringt von vier | |
Polizist*innen, zückt er ein Messer. Eine Nachbarin filmt die Szene: | |
Mehrere Beamt*innen mit vorgehaltenen Waffen reden gleichzeitig auf ihn | |
ein. Idrissi wirkt einigermaßen entspannt, er spricht, sein Messer zeigt | |
nach unten. Als ein Polizist ihn von rechts mit Pfefferspray ansprüht, | |
rennt Idrissi in dessen Richtung, das Messer weiter in der Hand. Der Beamte | |
weicht zurück, dann schießt er; Idrissi wird zweimal in den Oberkörper | |
getroffen. Auf dem Weg ins Krankenhaus stirbt er. | |
Die Staatsanwaltschaft ermittelt gegen zwei Polizist*innen wegen des | |
Verdachts auf Totschlag. Die Aufklärung wird beim Innensenator in der | |
Abteilung für interne Ermittlungen angesiedelt. „Wir ermitteln unter | |
Hochdruck“, heißt es in einem Bericht an die Bürgerschaft. Grundsätzliche | |
Fragen zur Polizeiarbeit beantwortet die Innenbehörde aktuell nicht. | |
Die lauten zum Beispiel, warum Idrissi nicht in die Beine geschossen | |
wurde. Mittlerweile rückt die Vorgeschichte in den Fokus: Idrissi stand | |
bereits unter Betreuung. Warum kam der Sozialpsychiatrische Dienst nicht zu | |
ihm nach Hause? Warum wurde seine Weigerung, mit der Polizei mitzufahren, | |
nicht akzeptiert? | |
Idrissi wirkt im Video zumeist ruhig. Warum schreien mehrere | |
Polizist*innen gleichzeitig auf ihn ein? Warum schließlich wird | |
Pfefferspray eingesetzt? Dessen Wirkung auf psychisch kranke Menschen ist | |
hoch umstritten. Lotta Drügemöller | |
## Mamadou Alpha Diallo, 20. 6. 2020, Twist bei Osnabrück | |
Mamadou Alpha Diallo wird von seinen Freunden als jemand beschrieben, der | |
plötzlich einen psychischen Zusammenbruch erlebt haben muss. Am Vormittag | |
des 19. Juni läuft der Geflüchtete aus Guinea mit einem Messer in eine | |
Arztpraxis der niedersächsischen Gemeinde Twist und bedroht Menschen, | |
später auch die eigenen Freunde und Mitbewohner. Während einer der Freunde | |
um sein Leben rennt, trifft die Polizei ein – und schießt. Einen Tag später | |
stirbt Diallo trotz einer Notoperation. | |
S., der anonym bleiben möchte, floh vor seinem eigenen Freund und wurde | |
Zeuge des Schusses. Er macht den Beamten keinen Vorwurf, er selbst habe | |
sich in Lebensgefahr befunden. Der Schuss, ist er sich hingegen sicher, | |
ging in den Unterleib, nicht in den Oberschenkel. | |
Ibrahima Bangoura, Konsul der guineischen Botschaft, äußert sich der taz | |
gegenüber aufgebracht. „Es ist alles ein bisschen zu eigenartig“, sagt er. | |
Normalerweise erhalte er eine offizielle Todesnachricht von den deutschen | |
Behörden, wenn jemand mit guineischer Staatsbürgerschaft stirbt, egal was | |
die Todesursache sei. Im Fall von Diallo hingegen hätten Freunde des | |
Verstorbenen ihn informiert. Auch auf Nachfrage der guineischen Botschaft | |
habe die Staatsanwaltschaft Osnabrück nicht reagiert. „Ich habe bis heute | |
keine Sterbeurkunde gesehen“, bemängelt er. Auch wisse er nicht, ob der | |
Tote überhaupt obduziert worden sei. | |
Gegenüber der taz bestätigt die Staatsanwaltschaft, es habe eine Obduktion | |
gegeben, die einen Schuss ins Bein nachweise. Der Bericht stehe „mit seinen | |
Ergebnissen im Einklang mit den Schilderungen der bislang vernommenen | |
Zeugen“, erklärt Christian Bagung, Pressesprecher der Staatsanwaltschaft. | |
„Das Ermittlungsverfahren wegen fahrlässiger Tötung gegen den | |
Polizeibeamten, der den Schuss abgegeben hat, ist weiterhin anhängig“, sagt | |
Bagung. Lea Fauth | |
17 Jul 2020 | |
## LINKS | |
[1] /George-Floyd/!t5689277 | |
[2] /Berlins-Polizeisprecher-ueber-Rassimus/!5693683 | |
[3] https://fra.europa.eu/en/publication/2017/second-european-union-minorities-… | |
[4] https://www.ari-berlin.org/ | |
[5] https://deathincustody.noblogs.org/recherche/ | |
[6] /Von-der-Polizei-erschossener-Hussam-Fadl/!5698209 | |
[7] /Tod-des-Terrorverdaechtigen-Jaber-A/!5348476 | |
[8] /Fragwuerdige-Polizeiaktion-in-Hessen/!5679277 | |
[9] /Ungeklaerter-Todesfall-in-Gefaengnis-Kleve/!5694301 | |
[10] /Tod-im-Polizeigewahrsam/!5684340 | |
[11] /Durch-Polizeischuesse-getoeteter-Afghane/!5629250 | |
## AUTOREN | |
Christian Jakob | |
Steffi Unsleber | |
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