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# taz.de -- Tod des Geflüchteten Aman Alizada: Fünf Schüsse und viele Fragen
> Vor einem Jahr wurde der 19-jährige Aman Alizada in Stade von einem
> Polizisten erschossen. Die Ermittlungen wurden eingestellt. Daran gibt es
> viel Kritik.
Bild: Zweifel an der Version der Polizei: Im vergangenen Oktober demonstrierten…
Hamburg taz | Als Aman Alizada am 17. August 2019 starb, war er gerade
einmal 19 Jahre alt. An dem Abend wurde die Polizei zu der Unterkunft für
Geflüchtete in Stade-Bützfleth gerufen, in der er lebte. Am Ende des
Einsatzes war Alizada tot. Ein Polizist [1][hatte fünf Mal auf ihn
geschossen].
Das ist nun ein Jahr her. Der Tod des jungen Mannes erregte viel
Aufmerksamkeit. Von Anfang an stand die Frage im Raum, warum die
Polizist*innen vor Ort so reagiert haben, wie sie es getan haben, ob sie
überfordert waren, warum einer auf Alizada geschossen hat. Auf einer
[2][Demonstration im Oktober] hatten rund 200 Menschen Aufklärung
gefordert, darunter auch der [3][Flüchtlingsrat Niedersachse]n.
Denn die Tatsache, dass der Polizist, der geschossen hatte, schnell wieder
im Dienst gewesen sein soll, war für viele kein gutes Omen für eine
ergebnisoffene Aufklärung. Gegen den Polizisten, der geschossen hatte,
wurde wegen des Verdachts auf Totschlag ermittelt. Mitte Juni kam die
zuständige Staatsanwaltschaft Stade dann zu dem Ergebnis: Es war Notwehr.
Es sollte keine weiteren Ermittlungen und auch keine Anklage geben.
Daran jedoch gibt es massive Kritik von vielen Seiten. Eine dieser Seiten
ist der Anwalt des Bruders von Aman Alizada. Er hat Beschwerde gegen die
Einstellung der Ermittlungen eingelegt, fordert, diese wieder aufzunehmen
und den Polizisten wegen Totschlags anzuklagen.
Alizada war mit 15 Jahren allein aus Afghanistan geflüchtet. Er gehörte der
Minderheit der Hazara an, suchte Schutz vor Verfolgung. Die ersten zwei
Jahre in Deutschland wohnte er mit 70 anderen Minderjährigen in einer
Turnhalle. Kurz vor seinem 18. Geburtstag wurde sein Asylantrag abgelehnt.
Er hatte psychische Probleme. Weil er mit einem Messer aufgegriffen wurde
und sich für Gott gehalten haben soll, wurde er zeitweise in der
geschlossenen Psychiatrie untergebracht. Er soll Anzeichen einer
Schizophrenie gezeigt haben.
## Keine Notwehrlage?
Am 17. August 2019 dann hat sich sein psychischer Zustand offenbar wieder
verschlechtert. Aus der Beschwerde des Anwalts, die der taz vorliegt, geht
hervor, dass ein Mitbewohner in seiner Vernehmung sagte, Alizada habe ihn
aufgefordert, das Haus zu verlassen. Er wolle alles kaputt machen. Alizada
habe eine Stange, mit der er immer Fitness machte, in der Hand gehabt. Der
Mitbewohner bekam demnach Angst, rief die Polizei und verließ das Haus. Die
Polizist*innen wussten offenbar, auf wen sie treffen würden, sie kamen zu
viert. Alizada war wegen seiner Vorgeschichte bekannt.
Alizada soll allein in einem Raum im Erdgeschoss gewesen sein, das geht aus
dem Schreiben der Staatsanwaltschaft hervor, in dem sie begründet, warum
keine Anklage erhoben wird. Demnach hätte Alizada nicht auf die
Aufforderung reagiert, das Haus zu verlassen und die Stange abzulegen. Die
Polizist*innen hätten Pfefferspray eingesetzt. Dann soll Alizada mit der
Hantelstange in Richtung der Polizist*innen gegangen sein, die mittlerweile
im Haus waren, woraufhin einer schoss. Fünf Mal. Die Staatsanwaltschaft
schreibt von einem Angriff, einer gefährlichen Lage – und eben Notwehr. Die
einzigen Zeug*innen sind Polizist*innen.
Thomas Bliwier, der Anwalt von Aman Alizadas Bruder, zweifelt erheblich an
der von der Staatsanwaltschaft beschriebenen Notwehrlage und daran, dass
Alizada die Polizist*innen angegriffen haben soll. Ihm zufolge gibt es
genau dafür keine objektiven Beweise, keine*r der Zeug*innen könne Angaben
zum Verhalten von Alizada vor den Schüssen machen, schreibt er. Zwei
Polizist*innen, die vor dem Haus waren, hätten die Situation nicht einsehen
können und ein Beamter im Gebäude sei in Deckung gegangen.
Stattdessen schließen laut Bliwiers Beschwerde die Ergebnisse eines
Gutachtens, das die Schüsse rekonstruiert hat, einen Angriff sogar aus.
Demnach weisen die Einschüsse „darauf hin, dass sich eine Schusswaffe im
Zeitpunkt der Schussabgabe im Falle aufrecht sitzender, stehender oder sich
bewegender Personen ebenfalls in einer gegenüber dem Opfer erhöhten Person
befunden hat“. Alizada habe also gelegen, gesessen oder sich gebückt, als
auf ihn geschossen wurde und habe somit niemanden angreifen können,
schlussfolgert der Anwalt.
Er wirft nicht nur der Staatsanwaltschaft vor, dies und anderes
ausgeblendet zu haben, sondern erhebt auch schwere Vorwürfe gegen die
Polizist*innen. Denn als sie vor Ort eintrafen, habe keine Gefahr für
Dritte bestanden, niemand war mehr im Haus. Statt abzuwarten und
gegebenenfalls Dolmetscher*innen oder auch psychiatrisches oder
psychologisches Personal einzuschalten, hätten die Beamt*innen im weiteren
Verlauf grundlos eskaliert.
## Die Tür war abgeschlosssen
So zeigten Bilder vom Tatort, dass die Zimmertür abgeschlossen war, die
Polizist*innen sie offenbar eingetreten haben. Damit hätten sie erst eine
Situation geschaffen, in der der Polizist, der dann schoss, meinte, zu
Notwehrmitteln greifen zu können. „Er selbst konstellierte eine Situation,
in der er vermeintlich ‚gezwungen‘ war, Reizgas einzusetzen und von seiner
Dienstwaffe tödlichen Gebrauch zu machen“, schreibt der Anwalt.
Auch der Kriminologe Thomas Feltes sagt, es habe keine Notwehr vorgelegen.
Der Fall müsse vor Gericht aufgeklärt werden. Feltes weist immer wieder
darauf hin, dass die meisten [4][Opfer tödlicher Polizeischüsse psychisch
kranke Menschen] sind. Die Tötung Alizadas sei ein typischer Fall von
falschem Umgang mit psychisch kranken Menschen, sagt er.
„Polizisten sollten wissen, dass psychisch kranke Menschen entsprechend
reagieren, wenn sie unter Druck gesetzt werden – sei es durch den Einsatz
von Pfefferspray oder einfaches Draufzugehen.“ Das Problem sei, dass
Polizist*innen darauf trainiert seien, Situationen möglichst schnell zu
lösen, anstatt zuzuwarten oder eine Lage zu beruhigen. Feltes sagt, es
reiche nicht, wenn Polizist*innen in der Ausbildung etwas über den Umgang
mit psychisch Kranken lernen, wenn sie 10 Jahre später erst damit
konfrontiert werden.
„Es braucht eine strukturierte Fortbildung und die klare Aussage der
Polizeiführung, die die Beamten dazu verpflichten, bei dem Verdacht auf
eine psychische Erkrankung abzuwarten, die Lage zu sichern und einen
Psychologen oder das SEK zu rufen“, sagt Feltes. Das SEK sei in der Lage
jemanden festzunehmen, ohne ihn zu erschießen.
## Grüne fordern unabhängige Untersuchung
Warum also haben die Polizist*innen in Stade keine Hilfe geholt? Warum
dachten sie, sie müssten so schnell vorgehen, obwohl Alizada allein in
einem Raum war? Diese und weitere Fragen sind für viele Menschen in Stade
weiter unbeantwortet. Und deshalb fordern viele wie der Anwalt, dass der
Fall nicht abgeschlossen werden darf.
So heißt es aus dem Kreisverbands Stade der Grünen, dass es nicht sein
könne, dass sich die Exekutive in diesem Fall mit so vielen offenen Fragen
selbst freispreche. Der Vorstand fordert eine unabhängige Untersuchung und
Beurteilung des Falls. „Alles andere würde das Vertrauen in Polizei,
Staatsanwaltschaft, ja in unseren Staat und unser Rechtssystem schwer
beschädigen.“
Auch Ingrid Smerdka-Arhelger von der [5][Bürgerinitiative Menschenwürde]
nennt die Argumente der Staatsanwaltschaft, die zur Einstellung der
Ermittlungen geführt haben, skandalös. Die Bürgerinitiative setzt sich seit
Jahren im Landkreis Stade für geflüchtete Menschen ein und hat auch den
Fall Aman Alizada verfolgt. „Es entsteht der Eindruck: Die wollen gar nicht
hingucken und aufarbeiten“, sagt Smerdka-Arhelger zur taz. „Da sollte gar
kein Hauch von Zweifeln aufkommen.“
## Traumatisierte Jugendliche
Von den Ehrenamtlichen vor Ort sei zu hören, dass die Jugendlichen, die
Alizada kannten, traumatisiert seien und kaum über das Geschehene sprechen
könnten. Die Stader Polizei habe sich auch in keinster Weise bemüht, das
Geschehene mit den jungen Menschen aufzuarbeiten.
Die Polizei Stade wiederum will sich auf Anfrage der taz gar nicht zu dem
Fall äußern, da dieser nun bei der Generalstaatsanwaltschaft Celle liegt.
Diese muss über die Beschwerde des Anwalts entscheiden. „Die Akten werden
sorgfältig geprüft“, sagt ein Sprecher der Generalstaatsanwaltschaft. Das
könne einige Zeit in Anspruch nehmen.
Freund*innen und Bekannte von Aman Alizada und andere Engagierte wollen
weiterhin für Aufklärung kämpfen. Für den 22. August ist eine
[6][Demonstration in Stade] geplant.
17 Aug 2020
## LINKS
[1] /Nach-toedlichem-Schuss-auf-Gefluechteten/!5628109
[2] /Durch-Polizeischuesse-getoeteter-Afghane/!5629250
[3] https://www.nds-fluerat.org/aktionen/toedlicher-polizeieinsatz-in-stade/
[4] https://taz.atavist.com/polizeitote#chapter-2274951
[5] http://www.bi-menschenwuerde.de/
[6] https://www.facebook.com/events/380581202912356/
## AUTOREN
Marthe Ruddat
## TAGS
Schwerpunkt Rassismus
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Stade
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