# taz.de -- Tod eines Geflüchteten in Harsefeld: Aufklärung für Kamal Ibrahim | |
> Im Oktober erschossen Polizist*innen im Landkreis Stade einen | |
> Geflüchteten. Nun gibt es eine Anzeige gegen die Polizei und den | |
> Landkreis. | |
Bild: Im Oktober demonstrierte die sudanesische Community in Stade gegen Polize… | |
HANNOVER taz | Knapp vier Monate sind mittlerweile vergangen, seit Kamal | |
Ibrahim, ein Geflüchteter aus dem Sudan, in Harsefeld im Landkreis Stade | |
[1][bei einem Polizeieinsatz erschossen] wurde. Ibrahim hatte wiederholt | |
seine Mitbewohner und mutmaßlich auch die Polizist*innen mit einem | |
Messer bedroht. Bis heute liegen keine Ermittlungsergebnisse zum Tod des | |
40-Jährigen vor. Ob es sich um Notwehr seitens der Beamt*innen gehandelt | |
haben könnte, ist damit noch nicht geklärt. Die Ermittlungen dauern laut | |
Staatsanwaltschaft Stade an. Details wollte ein Pressesprecher am Telefon | |
nicht nennen. | |
Elf Bürger*innen des Landkreises Stade haben nun das Warten satt. Sie | |
haben zusätzlich zu den polizeilichen Ermittlungen einen Strafantrag wegen | |
Verdachts auf Totschlag, Körperverletzung mit Todesfolge und unterlassene | |
Hilfeleistung eingereicht. Man habe die Hinweise erhalten und beziehe diese | |
in die Ermittlungen ein, so die Staatsanwaltschaft. Ob das Verfahren zur | |
Anklage gebracht oder eingestellt werde, sei noch offen. | |
„Das Hauptmotiv ist eine rechtsstaatliche Klärung der Vorgänge auf allen | |
Ebenen“, sagt Hellmuth Färber, einer der Anzeigenden, am Telefon. Färber | |
ist pensionierter Lehrer für Politik und Französisch und gibt nun | |
Deutschkurse für Geflüchtete. Seit über 30 Jahren engagiert er sich bei der | |
Menschenrechtsorganisation Amnesty International. | |
Alle Unterzeichner*innen der Strafanzeige finden, es müsse geklärt | |
werden, ob der Einsatz verhältnismäßig gewesen sei, sagt Färber. Es sei | |
auch zu klären, ob von der Einsatzleitung entsprechende Notfallpläne für | |
psychische Ausnahmesituationen beachtet worden seien und wie die Gemeinde | |
im Fall Kamal Ibrahim insgesamt handelte. Denn dass Kamal Ibrahim | |
psychische Probleme hatte, war bekannt. Gehandelt wurde wohl trotzdem | |
nicht. | |
„Es war klar, dass er krank ist“, sagt Ali Hashim, einer der ehemaligen | |
Mitbewohner Ibrahims. Nachdem Ibrahim aufgehört hatte zu arbeiten, hatte er | |
sich immer weiter zurückgezogen. Schon am 27. September war Hashim deswegen | |
im Rathaus. Mit dem Betreuer der Gemeinde verständigte er den | |
sozialpsychiatrischen Dienst. Ute Kück, die Bürgermeisterin von Harsefeld, | |
bestätigt das. | |
## Die einzigen Augenzeug*innen sind die Polizist*innen | |
In der Unterkunft habe man aber keinen Arzt gesehen, sagt Hashim. Der | |
zuständige Landkreis Stade will sich mit Verweis auf Sozialdatenschutz, | |
beziehungsweise dem Schutz von Privatgeheimnissen nicht dazu äußern. Die | |
Anzeige liege beim Landkreis nicht vor. „Wir bitten um Verständnis, dass im | |
laufenden Verfahren keine aktuelle Stellungnahme erfolgen wird“, so der | |
Pressesprecher des Landkreises. | |
Gegenüber der Kreiszeitung Wochenblatt sagte ein Sprecher des Landkreises | |
im Dezember: „Selbstverständlich wird reflektiert, ob der Fall rückblickend | |
ein anderes Vorgehen erfordert hätte. Dies scheint nach jetzigem Stand aber | |
nicht so zu sein.“ Diese Aussage erzürnt Färber. Ohne juristische Prüfung | |
zu sagen, alles sei richtig gelaufen, sei einer demokratischen Aufarbeitung | |
und eines Rechtsstaats unwürdig. | |
Dreimal kam die Polizei am 3. Oktober zur Geflüchtetenunterkunft „Am | |
Sande“. Beim ersten Einsatz hätten die Beamt*innen zunächst nur das | |
Gespräch gesucht, beim zweiten Mal begleitete Ibrahim sie aufs Revier, | |
erinnern sich seine Mitbewohner. Der habe selbst angeboten, sich in | |
Gewahrsam zu begeben, sagt der Pressesprecher der Staatsanwaltschaft Stade. | |
In Absprache mit einem Gericht habe man sich aber dagegen entschieden, ihn | |
in eine Klinik einzuweisen. Ob die Kontaktaufnahme mit dem | |
sozialpsychiatrischen Dienst der Polizei bekannt war, lässt die | |
Staatsanwaltschaft offen. | |
Zurück in der Unterkunft eskalierte die Lage erneut. Die Mitbewohner riefen | |
wieder die Polizei. Als die eintraf, soll Ibrahim die Beamt*innen im | |
ersten Stock mit einem Messer bedroht haben. Die einzigen | |
Augenzeug*innen sind die Polizist*innen. | |
Anschließend fielen [2][mehrere Schüsse]. Eine Kugel verfehlte Ibrahims | |
Mitbewohner, der sich in seinem Zimmer versteckte, nur knapp. Ibrahim | |
selbst verstarb später im Krankenhaus. Die Unterkunft blieb nach dem Tod | |
Ibrahims über eine Woche gesperrt. Erst nach mehreren Tagen kümmerte sich | |
die Gemeinde um einen Ersatz für die anderen Bewohner. Es dauerte auch | |
mehrere Tage, bis sie ein Gespräch mit einem Psychologen führen konnten. | |
Der Fall mache deutlich, dass Polizist*innen dringend im Umgang mit | |
psychisch erkrankten Geflüchteten geschult werden müssen, schreibt das | |
Netzwerk für traumatisierte Geflüchtete in Niedersachsen in einer | |
Pressemitteilung. Fachärzt*innen, besonders Psycholog*innen, müssten bei | |
entsprechenden Einsätzen hinzugezogen werden. | |
## In Deutschland hatte Kamal Ibrahim nur wenige Verwandte | |
Besondere Aufmerksamkeit erregt der Fall auch, weil im Landkreis Stade 2019 | |
der Geflüchtete [3][Aman Alizada] von Polizist*innen erschossen wurde. | |
Auch Alizada war wohl in einem psychischen Ausnahmezustand und soll | |
Beamt*innen angegriffen haben. Ein kriminologisches Gutachten der | |
Verteidigung nährte Zweifel an der Darstellung der Polizei, es habe sich | |
[4][um Notwehr gehandelt]. Eine Beschwerde auf Wiederaufnahme der | |
Ermittlungen scheiterte. Personelle Überschneidungen der beiden Fälle, so | |
die Staatsanwaltschaft Stade, gebe es keine. Der Bezug zum aktuellen Fall | |
sei aber sofort da gewesen. | |
Die Familie von Kamal Ibrahim, die zum größten Teil im Sudan lebt, bemüht | |
sich ebenfalls um juristische Aufklärung und hat mittlerweile eine Anwältin | |
beauftragt. Das war mit einigen bürokratischen Hürden verbunden. Daniela | |
Hödl aus Hamburg vertritt die Familie nun seit Kurzem. Sie warte momentan | |
auf Akteneinsicht und werde dann weitere juristische Schritte prüfen, so | |
Hödl gegenüber der taz. Die Anzeige, die nun gegen Polizei, Polizeiführung, | |
Gemeinde und Landkreis gestellt wurde, ist unabhängig von Hödls Arbeit. | |
In Deutschland hatte Kamal Ibrahim nur wenige Verwandte, die ihn hätten | |
unterstützen können. Sein Cousin wohnt in Göttingen. Er erzählt, er habe | |
erst vier Tage nach Ibrahims Tod von den Ereignissen erfahren. Seine | |
Geschichte sei wie die vieler junger Männer gewesen, erzählt der Cousin, | |
der Hassan genannt wird, am Telefon. Ibrahim sei aus Manaf, aus dem Sudan, | |
nach Europa gekommen: „Er träumte davon, ein glückliches Leben ohne | |
Probleme zu führen. Dafür verließ er seine Familie, seine Freunde und alle, | |
die ihn liebten.“ Im Sudan habe man den Tod erwarten können, nun sei er | |
auch hierher gekommen. | |
Der Cousin beteiligte sich im Oktober auch an einer Demonstration auf dem | |
Rathausplatz in Stade. Etwa hundert Menschen forderten dort eine Aufklärung | |
des Falls Kamal Ibrahim und Veränderungen bei der Polizei. Die meisten | |
Teilnehmer*innen waren Teil der sudanesischen Community. Mehrere | |
Passant*innen machten Affenlaute, riefen rassistische Beleidigungen und | |
pöbelten vom Rand. | |
1 Feb 2022 | |
## LINKS | |
[1] /Polizeieinsatz-in-Gefluechtetenunterkunft/!5805900 | |
[2] /Toedlicher-Vorfall-in-Niedersachsen/!5801600 | |
[3] /Tod-des-Gefluechteten-Aman-Alizada/!5705594 | |
[4] /Schuesse-auf-Fluechtling-in-Stade/!5744161 | |
## AUTOREN | |
Michael Trammer | |
## TAGS | |
Tödliche Polizeischüsse | |
Polizei Niedersachsen | |
Sudanesische Flüchtlinge | |
Flucht | |
Tödliche Polizeischüsse | |
Stade | |
[tazze]IG | |
Schwerpunkt Polizeigewalt und Rassismus | |
Schwerpunkt Rassismus | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Polizeieinsätze gegen Geflüchteten: Tödliche Schüsse bleiben ungeklärt | |
Drei Jahre nach dem Tod von Aman Alizada haben mehrere Initiativen in Stade | |
demonstriert. Sie fordern eine bessere Ausbildung der Polizei. | |
Verfahren in Stade eingestellt: Polizei durfte Ibrahim erschießen | |
Die Staatsanwaltschaft ermittelt nicht mehr gegen die Beamt*innen, die | |
einen Geflüchteten in einer psychischen Ausnahmesituation getötet haben. | |
Polizeieinsatz in Geflüchtetenunterkunft: Statt Hilfe kam der Todesschuss | |
Neun Geflüchtete teilten sich ein Haus im Landkreis Stade. Als einer in | |
einer psychischen Notsituation ist, wird er von der Polizei erschossen. | |
Tödlicher Vorfall in Niedersachsen: Polizei erschießt Asylbewerber | |
Zuvor soll der Mann aus dem Sudan die Polizisten mit dem Messer angegriffen | |
haben. Der Fall aus dem Kreis Stade ist nicht der erste in der Region. | |
Tod des Geflüchteten Aman Alizada: Fünf Schüsse und viele Fragen | |
Vor einem Jahr wurde der 19-jährige Aman Alizada in Stade von einem | |
Polizisten erschossen. Die Ermittlungen wurden eingestellt. Daran gibt es | |
viel Kritik. |