# taz.de -- Tödlicher Vorfall in Niedersachsen: Polizei erschießt Asylbewerber | |
> Zuvor soll der Mann aus dem Sudan die Polizisten mit dem Messer | |
> angegriffen haben. Der Fall aus dem Kreis Stade ist nicht der erste in | |
> der Region. | |
Bild: Mit der Dienstwaffe eines Polizisten wurde Sonntagnacht ein Asylbewerber … | |
HAMBURG taz | In der Nacht auf Montag haben Polizist*innen in einer | |
Geflüchtetenunterkunft im niedersächsischen Harsefeld einen 40-Jährigen | |
erschossen. Der aus dem Sudan geflüchtete Mann starb nach dem | |
Polizeieinsatz in einem Krankenhaus an seinen Verletzungen. Es handelt sich | |
um Kamal Ibrahim, wie es aus Harsefelder Asylhelfer*innenkreisen | |
heißt. Die Staatsanwaltschaft will die Identität des Getöteten mit einem | |
Verweis auf den Datenschutz nicht bestätigen. | |
Der Sprecher der Staatsanwaltschaft Stade teilte am Dienstag mit, | |
Polizeikräfte seien am Sonntag schon zweimal in die Geflüchtetenunterkunft | |
gerufen worden, weil der 40-Jährige angeblich andere Personen dort bedroht | |
habe. Die Situation habe sich aber jeweils beruhigen lassen, und man habe | |
sich gemeinsam mit einem Gericht gegen eine Einweisung in eine | |
psychiatrische Anstalt entschieden. | |
Der Betroffene habe sogar angeboten, sich selbst in Gewahrsam zu begeben. | |
Der 40-Jährige soll 0,9 Promille Atemalkoholpegel gehabt haben, berichtet | |
die Lokalzeitung Wochenblatt. Kurz vor Mitternacht sei es dann zu dem | |
dritten Einsatz gekommen – mit Todesfolge. Kamal Ibrahim habe die | |
eingesetzten Polizist*innen mit einem Messer angegriffen, die hätten | |
dann geschossen, so die Staatsanwaltschaft. | |
Gegen die eingesetzten Polizist*innen wird nun wegen Totschlags | |
ermittelt. Geklärt werden müsse, ob in Notwehr gehandelt wurde, heißt es | |
von der Staatsanwaltschaft. Die Polizeiinspektion in Cuxhaven, die dem | |
Präsidium in Oldenburg untersteht, hat die Ermittlungen übernommen. | |
Unweigerlich drängen sich Parallelen zu einem ähnlichen Todesfall nach | |
einem Polizeieinsatz auf – auch dem Sprecher der Staatsanwaltschaft: „Als | |
ich das erste Mal von dem Fall gehört habe, war der Bezug zum Fall von Aman | |
Alizada sofort da.“ Es gebe aber keine personellen Überschneidungen unter | |
den Polizist*innen. | |
## Ganze Reihe von Todesfällen in Norddeutschland | |
Aman Alizada wurde im August 2019 in seiner Wohnung in Stade von | |
Polizist*innen mit fünf Schüssen getötet. Alizada war 19 Jahre alt, als | |
er starb. Als Minderjähriger war er im Jahr 2015 aus Afghanistan geflüchtet | |
und gehörte der Minderheit der Hazara an. Vor seinem Tod war er zeitweise | |
in einer geschlossenen Psychiatrie untergebracht. Bei dem Polizeieinsatz | |
sei er mit Hantelstangen auf die Beamt*innen losgegangen, worauf diese | |
schossen, so die Staatsanwaltschaft Stade vor zwei Jahren. Als eine | |
„glasklare Notwehrlage“ wurde die Situation beschrieben – gestützt | |
ausschließlich auf Polizeizeug*innen. | |
Der Anwalt des Bruders des Opfers, Thomas Bliwier, zweifelte diese | |
Darstellung an und berief sich dabei auf ein Gutachten zu den Schusswunden | |
des Getöteten. Die Staatsanwaltschaft stellte nichtsdestotrotz die | |
Ermittlungen ein. Eine Beschwerde dagegen wurde abgelehnt und auch weitere | |
Ermittlungen mit gleichem Ergebnis eingestellt. | |
Die Initiative Aman Alizada kämpft nun seit über einem Jahr für eine | |
Aufarbeitung des Falles. Ebenso zahlreiche Gruppen und | |
Nichtregierungsorganisationen wie der niedersächsische Flüchtlingsrat. | |
Anlässlich des Todestag des jungen Mannes demonstrierten zuletzt etwa | |
hundert Menschen durch Stade. | |
„Wir sind sehr schockiert über die jüngsten Ereignisse und die | |
erschreckende Ähnlichkeit zum Fall von Aman Alizada“, sagt Thomas M. (Name | |
geändert), im Namen der Initiative Aman Alizada der taz. Wieder habe sich | |
die Polizei bei einem Geflüchteten mit offensichtlichen psychischen | |
Problemen nur mit Schüssen zu helfen gewusst. „Wir fordern eine lückenlose | |
und transparente Aufklärung der Geschehnisse“, sagt Thomas M. | |
Die Rentnerin Reta Guderian, die den nun Getöteten bei einem | |
Alphabetisierungskurs kennengelernt hatte, berichtete der taz, Ibrahim sei | |
ihr immer als netter, freundlicher Mensch begegnet. Auch Elma Gammann, die | |
Ibrahim unterrichtete, sagt: „Er ist nie durch Gewalttätigkeiten | |
aufgefallen, auch wenn er getrunken hatte.“ | |
Der Vorfall reiht sich ein in eine Reihe Todesfälle im Zusammenhang mit | |
Polizeieinsätzen in Norddeutschland: Vergangenen Freitag starb etwa ein | |
39-Jähriger in Hannover nach dem Einsatz eines Tasers; im März starb Qosay | |
Khalaf nach einer Polizeikontrolle in Delmenhorst; im Juni vergangenen | |
Jahres Mohamed Idrissi in Bremen. Die Kampagne [1][Death in Custody] hat | |
Todesfälle von Schwarzen Menschen, People of Color oder von Rassismus | |
betroffenen Personen [2][auf einer Website gesammelt.] Seit 1990 zählt sie | |
185 Fälle. | |
Aktualisiert am 5. Oktober 2021 um 17:12 Uhr. Thomas M. spricht im Namen | |
der Initiative Aman Alizada, nicht im Namen des Flüchtlingsrats | |
Niedersachsen. Wir bitten den Fehler zu entschuldigen. d. Red. | |
5 Oct 2021 | |
## LINKS | |
[1] /Gewalt-bei-der-Polizei/!5757873 | |
[2] https://deathincustody.noblogs.org/ | |
## AUTOREN | |
Michael Trammer | |
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