# taz.de -- Gewalt bei der Polizei: 181 Tote in Gewahrsam | |
> Offizielle Zahlen zu Todesfällen in Gewahrsam gibt es bisher nicht. Die | |
> Kampagne Death in Custody hat die Fälle nun erstmals zusammengetragen. | |
Bild: Zelle für Untersuchungshäftlinge in der JVA Moabit in Berlin | |
BERLIN taz | Minutenlang soll Ferhat Mayouf an die Tür seiner brennenden | |
Zelle geschlagen und um Hilfe geschrien haben. Die Wärter*innen in | |
unmittelbarer Nähe seiner Zelle in der Justizvollzugsanstalt Moabit | |
reagierten darauf ebenso wenig wie auf Rufe weiterer Häftlinge. Als die | |
Zellentür schließlich geöffnet wurde, war der 38-jährige Algerier schon | |
tot. So schildern seine Mitgefangenen die Ereignisse des 23. Juli 2020 in | |
Protokollen, die im Netz veröffentlicht wurden. | |
181 Todesfälle im Gewahrsam seit 1990 zählt die neue Recherche der Kampagne | |
Death in Custody, die anlässlich des Tags gegen Polizeigewalt am Montag | |
veröffentlicht wird. Denn offizielle Statistiken darüber, wie viele | |
Menschen mit Rassismuserfahrungen in deutschen Gefängnissen sterben, gibt | |
es nicht. Auch ihre [1][Todesumstände bleiben meist ungeklärt]. | |
Informationen liefern lediglich Recherchen von Angehörigen und | |
antirassistische Initiativen sowie Medienberichte. Die infos aus diesen | |
Quellen hat Death in Custody nun erstmalig zusammengetragen, kategorisiert | |
und in einem [2][Online-Archiv] dokumentiert. | |
Kriterien für die Aufnahme in die Zählung ist, dass die Getöteten von | |
Rassismus betroffen waren und sich gegen ihren Willen in einer | |
Gewahrsamssituation befanden – beispielsweise im Gefängnis oder im | |
Abschiebeflugzeug. Zudem wurden Fälle von Menschen, die durch physische | |
Gewaltanwendung der Polizei oder auf der unmittelbaren Flucht vor den | |
Beamt*innen ums Leben kamen, in die Zählung aufgenommen. | |
## Indirekt in den Tod getrieben? | |
Zwischen staatliche Institutionen auf der einen Seite, Angehörigen und | |
Rechercheinitiativen auf der anderen Seite geht die Darstellung der | |
Todesumstände oft weit auseinander. Wie in 78 weiteren Fällen gehen die | |
Behörden auch im Fall Ferhat Mayouf von Suizid aus. Mayouf habe das Feuer | |
selbst entzündet und nicht um Hilfe gebeten, sagt die Berliner | |
Senatsverwaltung für Justiz. | |
„Neben direkter Gewaltausübung wie Erschießen oder zu Tode prügeln gibt es | |
zahlreiche Fälle, in denen Menschen systematisch in den Tod getrieben | |
werden, auch wenn diese häufig als Suizid ausgegeben werden“, erklärt | |
hingegen Katharina Schoenes von der Recherchegruppe der Kampagne Death in | |
Custody gegenüber der taz. | |
Darunter seien etwa Fälle, in denen Menschen trotz langer Krankheit der | |
Zugang zu Medikamenten verweigert wurde. Oder solche, in denen Gefangene | |
psychologische Unterstützung erbaten, diese aber nicht gewährt wurde. | |
Über die genauen Todesumstände gibt es in vielen Fällen kaum Informationen. | |
Auch, weil selten ermittelt würde, so Schoenes. Die Behörden begründeten | |
dies damit, dass es sich ohnehin um Suizid gehandelt habe. „Finden dann | |
doch Ermittlungen statt, wird das Verfahren oft ergebnislos eingestellt. | |
Und wenn es mal zur Verurteilung kommt, dann stimmt der Straftatbestand | |
nicht mit den Tatsachen überein“, sagt die Sozialwissenschaftlerin. Zum | |
Beispiel werde von unterlassener Hilfeleistung anstatt von Mord gesprochen. | |
## Stadtstaaten bewegen sich | |
„Seit den 1990ern fordere ich, dass jede Polizeidienststelle vom Flur bis | |
zur Gefangenenzelle und jeder Polizeitransporter videoüberwacht werden | |
muss“, sagt Biplab Basu, der in der Berliner Beratungsstelle Reach Out | |
Betroffene von Polizeigewalt betreut und Death in Custody mitbegründet hat. | |
Die Kampagne setzt anstelle „kleinteiliger Reformen“ darauf, zu verhindern, | |
dass Menschen in Gewahrsam kommen, der im schlimmsten Fall tödlich endet – | |
beispielsweise indem Abschiebehaft, Ersatzfreiheitsstrafen und | |
verdachtsunabhängige Polizeikontrollen abgeschafft werden. | |
Was verdachtsunabhängige Polizeikontrollen angeht, die häufig von Racial | |
Profiling motiviert sind, bewegt sich zurzeit immerhin etwas in den | |
Stadtstaaten. Mit der Novelle des Berliner Polizeigesetz sollen anlasslose | |
Polizeikontrollen an sogenannten „kriminalitätsbelasteten Orten“ | |
eingeschränkt werden. Laut dem neuen Bremer Polizeigesetz dürfen die | |
Beamt*innen grundsätzlich nur noch anlassbezogen kontrollieren | |
„Da lassen sich zumindest auf Landesebene Lerneffekte beobachten“, sagt | |
Tahir Della von der Initiative Schwarze Menschen in Deutschland. Nun müsse | |
man sehen, wie sinnvoll die Gesetze in ihrer Umsetzung tatsächlich sind. | |
Effektive Maßnahmen wie eine Nachweispflicht, zur schriftlichen Begründung | |
jeder einzelnen Kontrolle, fehlten bisher, so Della. | |
## Dunkelziffer wohl höher | |
Fraglich ist mancherorts auch, wie es um den politischen Willen steht: In | |
Berlin ließ sich Innensenator Andreas Geisel (SPD) Anfang März dabei | |
filmen, [3][wie er einen Polizeieinsatz im Görlitzer Park begleitete], bei | |
dem Schwarze Menschen kontrolliert wurden. Von antirassistischen | |
Initiativen hagelte es Kritik. | |
„Was wir dringend brauchen, sind unabhängige Studien zu Polizeigewalt und | |
rassistischen Normen und Vorgaben in der Polizeiarbeit“, fordert Tahir | |
Della, „aber beim Innenministerium fehlt jegliches Problembewusstsein“. | |
Innenminister Horst Seehofer (CSU) hatte einer Studie zu rechtsextremen | |
Einstellungen bei der Polizei eine Absage erteilt. Stattdessen gab er im | |
Dezember bekannt, dass in einer Studie [4][die Berufsmotivation, der | |
Berufsalltag und Gewalt gegen Beamt*innen untersucht werden sollten]. | |
Death in Custody geht davon aus, dass die Dunkeziffer der Todesfälle im | |
Gewahrsam noch viel höher liegt, viele Zeitungsarchive seien noch nicht | |
durchforstet. Doch für eine tiefergehende Recherche habe bislang schlicht | |
die Zeit gefehlt. Die Kampagne will ihre Zählung von nun an jährlich | |
aktualisieren. | |
15 Mar 2021 | |
## LINKS | |
[1] /Toter-Gefluechteter-in-Gefaengnis-Kleve/!5757350 | |
[2] https://doku.deathincustody.info/ | |
[3] /Fragliche-Abschiebepraktiken/!5757646 | |
[4] /Forscherin-ueber-Seehofers-Polizeistudie/!5757823 | |
## AUTOREN | |
Franziska Schindler | |
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