# taz.de -- Polizeieinsatz in Geflüchtetenunterkunft: Statt Hilfe kam der Tode… | |
> Neun Geflüchtete teilten sich ein Haus im Landkreis Stade. Als einer in | |
> einer psychischen Notsituation ist, wird er von der Polizei erschossen. | |
Bild: Das Haus am Stadtrand von Harsefeld war das Zuhause von neun Geflüchteten | |
HARSEFELD taz | Bis vor kurzem wohnten am Rand von Harsefeld im | |
niedersächsischen Landkreis Stade neun Geflüchtete aus dem Sudan. In der | |
Nacht zum 4. Oktober hat sich viel für sie verändert. Einer der Bewohner, | |
der 40-jährige Kamal Ibrahim, wurde [1][bei einem Polizeieinsatz | |
niedergeschossen]. Zuvor soll er alkoholisiert Beamt*innen mit einem | |
Messer angegriffen haben. Er starb im Krankenhaus. | |
Das Grundstück liegt etwas abseits des Ortskerns der | |
40.000-Seelen-Gemeinde. Der nächste Supermarkt liegt in 20 Minuten | |
Laufweite, in der direkten Umgebung finden sich Steinmetz*innen, | |
KfZ-Mechaniker*innen und Fliesenleger*innen. Der Garten wirkt | |
vernachlässigt, Büsche wuchern über die Zäune. | |
„Seit das passiert ist, kann ich nachts nicht mehr in Ruhe schlafen, das | |
kommt immer wieder hoch“, erinnert sich Tayeb Yousif*. Mehrere Jahre wohnte | |
er mit Ibrahim zusammen. Drei Mal riefen er und seine Mitbewohner am 3. | |
Oktober die Polizei, weil Ibrahim sie bedrohte. Beim ersten Einsatz seien | |
die Beamt*innen nach einem Gespräch wieder gefahren. Als das zweite Mal | |
eine Streife kam, sei Ibrahim mitgenommen worden. Ihnen sei gesagt worden, | |
er bleibe dort über Nacht, erinnert sich Ali Hashim*, ein anderer | |
langjähriger Mitbewohner. Ibrahim habe selbst angeboten, sich in Gewahrsam | |
zu begeben, sagt der Pressesprecher der Staatsanwaltschaft Stade gegenüber | |
der taz. In Absprache mit einem Gericht habe man sich aber dagegen | |
entschieden, ihn in eine Klinik einzuweisen. | |
Ali Hashim kann das nicht verstehen. Er fühlt sich nicht ernst genommen: | |
„Es war klar, dass er krank ist.“ Nachdem Kamal Ibrahim vor Monaten | |
aufgehört hatte zu arbeiten, habe er sich immer weiter zurückgezogen. Schon | |
am 27. September war Hashim deswegen im Rathaus. Mit dem Betreuer der | |
Gemeinde verständigte er den sozialpsychiatrischen Dienst. Ute Kück, die | |
Bürgermeisterin von Harsefeld, bestätigt das. In der Unterkunft habe man | |
aber keinen Arzt gesehen, sagt Hashim. Der zuständige Landkreis Stade will | |
sich mit Verweis auf die ärztliche Schweigepflicht nicht dazu äußern. Ob | |
die Kontaktaufnahme mit dem sozialpsychiatrischen Dienst der Polizei | |
bekannt war, lässt die Staatsanwaltschaft auf Nachfrage bis | |
Redaktionsschluss offen. | |
## Polizist*innen müssen geschult werden | |
Nach dem zweiten Einsatz am 3. Oktober kam Ibrahim trotz seiner Verfassung | |
wieder zurück, erzählt Hashim. Als ein Teil der Bewohner der Unterkunft am | |
Abend im Erdgeschoss gesessen habe, habe Ibrahim sie wieder mit einem | |
Messer bedroht. Sie riefen zum dritten Mal die Polizei. Ibrahim habe sich | |
in sein Zimmer im ersten Stock zurückgezogen. Vier Polizist*innen seien | |
gekommen. „Wir haben nur gehört, wie sie gerufen haben, er soll das Messer | |
wegwerfen“, sagt Hashim. „Und die Schüsse. Vier Schüsse.“ Einen | |
Mitbewohner, der ebenfalls im ersten Stock war, hätten die Beamt*innen | |
davor angewiesen, in seinem Zimmer zu bleiben, habe dieser Hashim erzählt. | |
Zwei Kugeln hätten ihn nur knapp verfehlt. Mit Journalist*innen will er | |
momentan nicht sprechen. | |
Bis zum 14. Oktober war die Unterkunft gesperrt. An den Wänden, dem Boden | |
und dem Teppich eines Zimmers findet man noch immer große Blutflecken. | |
Markierungen der Spurensicherung kleben um Einschusslöcher in der Tür eines | |
Zimmers im ersten Stock. Ermittler*innen aus Cuxhaven gehen nun der | |
Frage nach, ob die Polizist*innen in Notwehr handelten. | |
Der Fall mache deutlich, dass Polizist*innen dringend im Umgang mit | |
psychisch erkrankten Geflüchteten geschult werden müssen, schreibt das | |
Netzwerk für traumatisierte Geflüchtete in Niedersachsen in einer | |
Pressemitteilung. Fachärzt*innen, im Mindesten Psycholog*innen, müssten bei | |
entsprechenden Einsätzen hinzugezogen werden. Wichtig sei jetzt vor allem, | |
eine gute Betreuung der Betroffenen in der Unterkunft zu gewährleisten. | |
Bis zwei Uhr hätten sie an dem Abend auf der Straße gestanden, erinnert | |
sich Hashim. Die Polizei habe ihre Daten aufgenommen und einer hätte dann | |
gesagt, sie brächten Ibrahim nun in ein Krankenhaus. „Am nächsten Tag haben | |
wir gehört, dass er gestorben ist. Wir haben das aus der Zeitung erfahren, | |
nur aus der Zeitung“, sagt Hashim. In der Nacht habe sich niemand um eine | |
Unterkunft für die übrigen Bewohner gekümmert, sagt Tayeb Yousif. Sie | |
hätten daraufhin Freund*innen angerufen und seien dort untergekommen. | |
## „Black Lives Still Matter“ | |
Die Gemeinde Harsefeld sagt auf taz-Anfrage, am Montagmorgen habe es | |
erstmalige Überlegungen gegeben, Ersatzunterkünfte bereitzustellen. Die | |
Kommunikation mit den Geflüchteten habe sich als schwierig erwiesen. Bei | |
einem Treffen mit einem Seelsorger vier Tage später sei dann alles | |
besprochen worden. | |
Nach etwa einer Woche habe die Gemeinde ein Hotel zur Verfügung gestellt, | |
erzählt Ali Hashim. Nun seien die Geflüchteten in einer anderen Wohnung | |
untergebracht, die aber nur eine Küche und ein Bad für acht Leute habe. | |
Deswegen suchen sie alle selbst Wohnungen. Zurück in die Unterkunft wollen | |
sie auf keinen Fall, denn alles erinnere sie an Ibrahims Tod. | |
Über die Geschehnisse sind die ehemaligen Mitbewohner Ibrahims so | |
schockiert und wütend, dass sie am 23. Oktober in Stade um 14 Uhr vor dem | |
Rathaus demonstrieren wollen. „Black Lives Still Matter“ steht auf einem | |
Bild, das zur Mobilisierung versendet wird. „Niemand hier glaubt uns. Warum | |
passiert so etwas immer nur Schwarzen Menschen?“, fragt Tayeb Yousif. | |
Besondere Aufmerksamkeit erregt der Fall auch, weil im Landkreis Stade 2019 | |
der Geflüchtete [2][Aman Alizada von Polizist*innen erschossen] wurde. | |
Auch Alizada war wohl in einem psychischen Ausnahmezustand und soll | |
Beamt*innen angegriffen haben. Ein kriminologisches Gutachten der | |
Verteidigung nährte Zweifel an der Darstellung der Polizei, [3][es habe | |
sich um Notwehr gehandelt.] Erst kürzlich ist eine Beschwerde auf | |
Wiederaufnahme der Ermittlungen gescheitert. Personelle Überschneidungen | |
der beiden Fälle, so die Staatsanwaltschaft Stade, gebe es keine. Der Bezug | |
zum aktuellen Fall sei aber sofort da gewesen. | |
*Name geändert | |
19 Oct 2021 | |
## LINKS | |
[1] /Toedlicher-Vorfall-in-Niedersachsen/!5801600 | |
[2] /Tod-des-Gefluechteten-Aman-Alizada/!5705594 | |
[3] /Schuesse-auf-Fluechtling-in-Stade/!5744161 | |
## AUTOREN | |
Michael Trammer | |
## TAGS | |
IG | |
Stade | |
Flüchtlinge | |
Schwerpunkt Flucht | |
Polizeigewalt | |
Tödliche Polizeischüsse | |
Harsefeld | |
Unterbringung von Geflüchteten | |
Stade | |
Tödliche Polizeischüsse | |
Polizei NRW | |
Schwerpunkt Polizeigewalt und Rassismus | |
Stade | |
Schwerpunkt Rassismus | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Verfahren in Stade eingestellt: Polizei durfte Ibrahim erschießen | |
Die Staatsanwaltschaft ermittelt nicht mehr gegen die Beamt*innen, die | |
einen Geflüchteten in einer psychischen Ausnahmesituation getötet haben. | |
Tod eines Geflüchteten in Harsefeld: Aufklärung für Kamal Ibrahim | |
Im Oktober erschossen Polizist*innen im Landkreis Stade einen | |
Geflüchteten. Nun gibt es eine Anzeige gegen die Polizei und den Landkreis. | |
Todesfall in Wuppertal nach Festnahme: 25-Jähriger stirbt auf Polizeiwache | |
Ein festgenommener Mann bricht auf einem Wuppertaler Revier zusammen und | |
stirbt. Erst nach öffentlichem Druck wird darüber informiert. | |
Tödlicher Vorfall in Niedersachsen: Polizei erschießt Asylbewerber | |
Zuvor soll der Mann aus dem Sudan die Polizisten mit dem Messer angegriffen | |
haben. Der Fall aus dem Kreis Stade ist nicht der erste in der Region. | |
Schüsse auf Flüchtling in Stade: Notwehr mit Fragezeichen | |
Die Staatsanwaltschaft stellt die Ermittlung um die Polizeischüsse auf Aman | |
Alizada zum zweiten Mal ein. | |
Tod des Geflüchteten Aman Alizada: Fünf Schüsse und viele Fragen | |
Vor einem Jahr wurde der 19-jährige Aman Alizada in Stade von einem | |
Polizisten erschossen. Die Ermittlungen wurden eingestellt. Daran gibt es | |
viel Kritik. |