# taz.de -- Tod im Polizeigewahrsam: Lagebedingtes Systemversagen | |
> Aristeidis L. erstickt an Händen und Füßen gefesselt, während ihn vier | |
> Einsatzkräfte auf dem Bauch fixieren. Kein Einzelfall. | |
Bild: An dieser Bäckerei am Tempelhofer Damm wurde Aristeidis L. festgenommen | |
Berlin taz | Nicht mehr als drei Sätze war der Polizei der Tod von | |
Aristeidis L. wert: „Der am 27. Dezember 2018 während eines | |
Polizeieinsatzes bewusstlos gewordene Mann ist heute in einem Krankenhaus | |
verstorben“, heißt es in der kurzen Polizeimeldung vom 12.1.2019. Dies | |
hätten Ärzte aus dem behandelnden Klinikum in Neukölln mitgeteilt. Die | |
Ermittlungen zum genauen Geschehen würden vom Landeskriminalamt geführt und | |
dauerten an. | |
Das letzte, was L. als freier Mensch von Berlin gesehen hat, war die | |
Filiale einer Bäckerei-Kette in Tempelhof. Der 36-jährige Grieche | |
kollabierte in Polizeigewahrsam, als mehrere Einsatzkräfte ihn in eine | |
Zelle der Gefangenensammelstelle Süd bringen wollten. Nach Berlin war L. | |
gekommen, um Silvester zu feiern. Den Jahreswechsel erlebt er nicht mehr | |
bei Bewusstsein. | |
Sein Tod bleibt eine Randnotiz ohne großen medialen Widerhall. Zwar greift | |
die Deutsche Presseagentur die Meldung auf, aber wie die Ermittlungen | |
enden, wird niemals berichtet – weder von der Polizei noch von Medien. | |
Jetzt, knapp eineinhalb Jahre später, deuten Recherchen der taz darauf hin, | |
dass die Beamt:innen womöglich grobe Fehler machten – der Verdacht der | |
fahrlässigen Tötung steht im Raum, auch wenn das zugehörige Verfahren | |
längst eingestellt ist. Das legen eine Rekonstruktion der Hergänge und die | |
Einschätzung des renommierten Kriminologen Thomas Feltes nahe, der selbst | |
Rektor einer Polizeischule war und schon länger systematisches | |
Fehlverhalten der Polizei kritisiert. | |
Der Fall von L. zeigt zudem einmal mehr Schwächen bei der Strafverfolgung | |
von Polizist:innen: Die zuständige Staatsanwaltschaft stellte das Verfahren | |
wegen fahrlässiger Tötung gegen die beteiligten Beamt:innen nach nur zwei | |
Monaten im März 2019 ein. Einwände und Beschwerden der Hinterbliebenen | |
wurden abgewiesen. Wie so häufig, wenn Polizist:innen tatverdächtig sind, | |
kam auch in diesem Verfahren nur wenig heraus, als Beamt:innen gegen ihre | |
Kolleg:innen ermittelten. Den Einsatzkräften sei strafrechtlich nichts | |
anzulasten, heißt es von der Staatsanwaltschaft – obwohl nicht einmal alle | |
Beteiligten des Vorfalls vernommen wurden. | |
Die Hinterbliebenen von L. wollen sich nicht damit abfinden, dass ihr Sohn | |
und Bruder bei seinem Berlinbesuch unter ungeklärten Umständen starb. Bis | |
heute wollen sie herausfinden, wie das genau geschah. Die Mutter sagt: „Die | |
Sache ist in einer Schublade gelandet. Es ist absolut nichts passiert und | |
keiner zeigt sich verantwortlich.“ Der Bruder des Opfers trat im Verfahren | |
als Nebenkläger auf. Alle Einwände, die er über seine Berliner | |
Rechtsanwältin Vasiliki Siochou einbrachte, scheiterten jedoch auf | |
juristischem Wege. | |
Doch was lässt sich rekonstruieren aus dem, was bekannt ist über den Tod | |
von Aristeidis L.? Dass der Polizeieinsatz kein leichter war, ist | |
unstrittig. Das verrät bereits der Anhang der [1][unscheinbaren | |
Polizeimeldung], in der das Ereignis aus Polizeisicht geschildert wird. | |
Darin heißt es etwas ungenau: Am Nachmittag des 27. Dezember 2018 hätten | |
Einsatzkräfte einen äußerst aggressiven und randalierenden Mann fesseln | |
müssen und dabei Pfefferspray eingesetzt. Drei bis vier Beamte hätten den | |
36-Jährigen mit freiem Oberkörper in der Bäckerei angetroffen und große | |
Mühe gehabt, den um sich tretenden und schlagenden Mann in einen | |
Gefangenentransporter zu bringen. Während der Fahrt hätte der Mann mehrfach | |
seinen Kopf gegen die Scheibe des Polizeifahrzeuges geschlagen. | |
Im Polizeigewahrsam sei er den Polizist:innen nach dem Öffnen der Tür dann | |
entgegengesprungen. Die hätten Pfefferspray eingesetzt, um weitere Angriffe | |
zu vermeiden. Mehrere Dienstkräfte hätten den weiter um sich tretenden Mann | |
in den Gewahrsam tragen wollen. Dabei sei er dann kollabiert. In der | |
Polizeimeldung heißt es wörtlich: „Nach Aussagen der Beteiligten verlor der | |
Festgenommene plötzlich das Bewusstsein, sodass ein Arzt aus dem Gewahrsam | |
hinzueilen musste, um den Mann bis zum Eintreffen eines alarmierten | |
Notarztes zu reanimieren. Der 36-Jährige kam zur weiteren | |
intensivmedizinischen Behandlung in ein Krankenhaus.“ | |
Nicht in der Polizeimeldung steht das, was die Hinterbliebenen dank | |
Nebenklage und Akteneinsicht erfahren: L. war unbewaffnet und sah sich neun | |
Polizeibeamt:innen und mindestens vier weiteren Wachpolizisten in der | |
Gefangenensammelstelle gegenüber. Vor der Bäckerei legten sie ihm zunächst | |
Handschellen an, später im Polizeigewahrsam verpassen ihm die Einsatzkräfte | |
zusätzlichen noch Fußfesseln. | |
Zum Zeitpunkt seines Kollaps war L. also an Händen und Füßen gefesselt. | |
Vier Einsatzkräften drückten ihn zudem in einem Fahrstuhl in Bauchlage auf | |
den Boden – bis er erstickte. Eine Fixierung auf dem Bauch kann zum | |
lagebedingten Erstickungstod führen, wenn sie zu lange dauert. | |
Polizeibeamt:innen lernen das in der Ausbildung und dürfen entsprechend | |
niemanden zu lange in Bauchlage fixieren. Genau das könnte hier aber | |
passiert sein. | |
Hinzukommt, dass ein Polizeibeamter kurz zuvor dem Verstorbenen | |
Pfefferspray ins Gesicht gesprüht hatte. Der Reizstoff kann insbesondere | |
bei Menschen mit [2][Vorerkrankungen, in psychischen Ausnahmesituationen] | |
oder unter Drogeneinfluss tödlich sein. Darüber gibt es [3][seit Jahren | |
Berichte] und [4][wissenschaftliche Gutachten]. Weil Pfefferspray eben | |
keine harmlose Zwangsmaßnahme ist, darf etwa die Bundeswehr bei einem | |
Auslandseinsatz im Kriegsgebiet kein Pfefferspray einsetzen. Reizstoffe wie | |
diese sind nach den Genfer Protokollen international als Kampfmittel | |
geächtet. In Deutschland setzt die Polizei es dennoch häufig und oftmals | |
unvorsichtig ein. | |
Und noch mehr weist auf Fehlverhalten der beteiligten Einsatzkräfte hin: L. | |
habe sich in einem psychischen Ausnahmezustand befunden, wie die Anwältin | |
Siochou seines klagenden Bruders sagt: „Er war psychisch vorbelastet und in | |
einem manischen Zustand. Obendrein hatte er Drogen konsumiert.“ Cannabis, | |
Kokain und Opiate wurden in L.s Blut gefunden. Er befand sich also genau in | |
dem Zustand, in dem Pfefferspray tödlich sein kann. | |
Dank ihrer Akteneinsicht weiß Siochou auch, dass es während des Einsatzes | |
zahlreiche Hinweise auf eine psychische Erkrankung L.s gab. Er hatte sich | |
bis auf seine Hose ausgezogen, randalierte und schimpfte. Eine | |
Mitarbeiterin der Bäckerei hatte daraufhin die Polizei gerufen und Anzeige | |
wegen Hausfriedensbruch erstattet. Als die Beamt:innen den Laden betraten, | |
saß L. halbnackt auf einer Bank. Nach ihrem Eintreffen zogen zwei Beamte | |
ihn an seinen Armen aus dem Laden. Danach eskaliert die Situation auf dem | |
Bürgersteig vor der Bäckerei. | |
L. beginnt – immer noch oben ohne und barfuß – sich zu wehren. Während der | |
folgenden Zwangsmaßnahmen schlägt und tritt er um sich, ohne Beamte zu | |
verletzen. Die Polizisten bringen ihn zu Boden und haben Schwierigkeiten, | |
ihn dort zu halten. L. ist 1 Meter 90 groß und wiegt über 100 Kilo. Mit | |
Verstärkung – kurz darauf sind vier Streifenwagen, ein | |
Gefangenentransporter und insgesamt neun Polizist:innen vor Ort – gelingt | |
es den Einsatzkräften, dem sich windenden L. Handschellen anzulegen und ihn | |
in die Zelle des Transporters zu sperren. Während L. am Boden auf dem Bauch | |
fixiert ist, schlägt er seinen Kopf gegen den Bürgersteig. Auch im | |
Gefangentransporter schlägt er seinen Kopf mehrfach heftig gegen die | |
Plexiglasscheibe. | |
Mehrere am Einsatz beteiligte Beamt:innen erkennen laut Anwältin Siochou, | |
dass er sich in einem psychischen Ausnahmezustand befindet. Eine hätte zu | |
Protokoll gegeben, dass „[der Tatverdächtige] in der Zelle [des Fahrzeugs] | |
wie von Sinnen laut schrie, uns mit einem irren Blick fixierte und seinen | |
Kopf mehrfach heftig gegen die Scheibe schlug“. Ein anderer hätte gesagt: | |
„Der Tatverdächtige stand sichtlich unter Drogen- und/oder | |
Alkoholeinfluss“, so die Anwältin. | |
Doch anstatt auf Deeskalation zu setzen oder einen psychiatrischen | |
Notdienst hinzuzuziehen, setzt sich die physische Auseinandersetzung in der | |
Gefangenensammelstelle am Tempelhofer Damm 12 nahtlos fort: Alle neun | |
Beamt:innen vom Einsatzort begleiten die Überführung. Zusätzlich warten in | |
der geschlossenen Schleuse der kurz Gesa genannten Gefangenensammelstelle | |
vier Wachpolizisten auf L.. | |
Es folgt eine hektische und unübersichtliche Situation. Zwei oder drei | |
Wachpolizisten öffnen die Zellentür des Fahrzeugs. L., in Handschellen, | |
beginnt erneut sich zu wehren und versucht wohl, die Einsatzkräfte | |
umzustoßen. Als die Polizist:innen ihn daraufhin zu Boden bringen, fällt er | |
auf einen Wachpolizisten, der sich dabei das Fußgelenk verstaucht. Erst | |
jetzt, als ein Polizist verletzt ist, rufen die Einsatzkräfte den in jeder | |
Gesa anwesenden Polizeiarzt hinzu – allerdings nur, um den Kollegen zu | |
verarzten. | |
Im Wirrwarr dieser Situation setzt ein Polizeibeamter das Pfefferspray | |
gegen L. ein. Und offenbar nicht wenig: Auch mehrere Einsatzkräfte bekommen | |
etwas ab und beginnen zu husten. L. zeigt sich von dem Spray zunächst | |
unbeeindruckt. Die Einsatzkräfte legen ihm neben Handschellen auch | |
Fußfesseln an. Damit L. nicht spuckt, zieht ihm ein Beamter noch einen | |
Spuckschutz über – eine einfache OP-Maske. | |
Hier wäre möglicherweise die zweite Chance gewesen, zu deeskalieren: | |
Gefesselt an Füßen und Händen, kann sich L. nur noch am Boden winden. | |
Anstatt jedoch die Situation zu beruhigen und den psychiatrischen Notdienst | |
zu alarmieren, tragen vier bis fünf Einsatzkräfte ihn ins Gebäude. Weil L. | |
sich dabei weiter windet, wollen sie ihn nicht die Treppen hochtragen, | |
sondern ihn im Fahrstuhl transportieren. Während der Fahrstuhlfahrt | |
schließlich kollabiert L. – gewaltsam fixiert durch drei Wachpolizisten der | |
Gesa und einen Polizeibeamten. Sie schleifen ihn bäuchlings an den Händen | |
in den engen Aufzug und halten ihn dort am Boden. Während der Fahrt lässt | |
sein Widerstand schließlich nach. Am Ende fällt den Einsatzkräften auch | |
auf, warum: Sein Gesicht ist blau angelaufen, L. ist während der | |
Zwangsmaßnahmen kollabiert und atmet nicht mehr. | |
Nach Schilderung von Anwältin Siochou ergeben die Aussagen der | |
Einsatzkräfte ein widersprüchliches Bild, was die Lage von L. bei der | |
Fahrstuhlfahrt angeht: Während mehrere Polizisten beschreiben, dass sie ihn | |
bäuchlings an den Armen in den Fahrstuhl zogen, behauptet ein mitfahrender | |
Wachpolizist, sie hätten ihn in stabiler Seitenlage fixiert. Der zweite | |
Gesa-Mitarbeiter im Fahrstuhl sagte lediglich, dass sie ihn festhielten, | |
nicht jedoch, wie sie ihn fixierten. | |
Die Aussage des dritten Wachpolizisten im Fahrstuhl fehlt dagegen komplett | |
und wurde im Zuge der Ermittlungen offenbar nicht einmal eingeholt – obwohl | |
ausgerechnet dieser L. im Bereich des Oberkörpers fixiert haben soll. Der | |
mitfahrende Polizeibeamte, der die Beine fixierte, sagte, er habe während | |
der Fahrt keinen freien Blick auf L. gehabt. | |
Fest steht: L. befand sich gefesselt an Füßen und Händen am Boden des | |
Fahrstuhls, während vier Männer auf ihn einwirkten. Höchstwahrscheinlich | |
lag er dabei in Bauchlage. Darüber hinaus liegt der Verdacht nahe, dass | |
diese Fixierung sich lange hinzog: Der mitfahrende Polizeibeamte hat | |
ausgesagt, dass sich der Fahrstuhl während der Fahrt zunächst im falschen | |
Stockwerk geöffnet habe, weil einer der Wachpolizisten versehentlich | |
mehrere Knöpfe gedrückt hätte. | |
Nachdem die Einsatzkräfte feststellten, dass L. kollabiert war, versuchten | |
sie sofort, ihn zu reanimieren. Ein Polizist alarmierte den Polizeiarzt, | |
der sich noch immer bei dem leicht verletzten Kollegen befand. Doch es ist | |
zu spät: Die Ärzte konnten zwar seinen Kreislauf stabilisieren, aber zu | |
Bewusstsein kam L. nie wieder. Von einem Rettungswagen wird er mit | |
Prellungen, zahlreichen Schürf- und Platzwunden und blauem Auge ins | |
Krankenhaus Neukölln gebracht. Auf der Intensivstation wird er in ein | |
künstliches Koma versetzt, die Diagnose lautet ein paar Tage später: | |
Hirntod. | |
Im Alter von 36 Jahren verstirbt L. 16 Tage später in Neukölln im | |
Krankenhaus, nachdem seine nach Berlin gereiste Familie die | |
lebenserhaltenden Maßnahmen einstellen ließ. Die offizielle Todesursache | |
lautet: lagebedingter Erstickungstod durch mechanische Fixierung. Als Grund | |
dafür ergibt die Obduktion: Sauerstoffmangel im Gehirn, der vermutlich in | |
Summe aus einer starken Stressreaktion im Erregungszustand sowie | |
Drogenkonsum und der Fixierung in Bauchlage resultierte. | |
Anwältin Siochou hält es für unfassbar, dass die Staatsanwaltschaft | |
angesichts dieser aus den Akten rekonstruierbaren Ereignisse kein | |
Fehlverhalten der Einsatzkräfte erkennen konnte und die Ermittlungen | |
einstellte: „Er war unbewaffnet, an Händen und Beinen gefesselt und sah | |
sich einer Überzahl geschulter Polizisten gegenüber“, sagt Siochou. „Die | |
Staatsanwaltschaft hat in dem Fall unzureichend ermittelt. Entgegen nach | |
Aktenlage offensichtlichem Fehlverhalten der Polizisten sind diese nicht | |
erneut vernommen worden.“ | |
Zu einer sorgfältigen Aufklärung der Kausalität zwischen dem Verhalten der | |
Polizisten und dem Tod von L. sei es nicht gekommen. Dem Bruder von L. | |
blieb nur noch ein in solchen Fällen zumeist wenig aussichtsreiches | |
Klageerzwingungsverfahren. Erwartungsgemäß blieb auch das erfolglos: „Unser | |
Antrag auf ein Klageerzwingungsverfahren wurde abgewiesen. Alle | |
Rechtsmittel wurden ausgeschöpft. Ungeheuerlich, dass solch ein | |
Missverhalten der Polizei unberührt bleibt von Konsequenzen“, sagt Siochou. | |
Der Fall treibt sie und die Familie von L. angesichts der vielen offenen | |
Fragen allerdings weiter um: Wie genau fixierten die Beamten L. im | |
Fahrstuhl? Wie lange stiegen sie ihm in den Rücken? Hätte die Polizei nicht | |
erkennen müssen, dass L. sich in einem psychischen Ausnahmezustand befand | |
und auf Drogen war? Wonach, wenn nicht nach einer psychischen Erkrankung, | |
sieht ein fast nackter Mann im Winter aus, wenn er in einer Bäckerei | |
randaliert und sich gegen eine Übermacht von Polizisten wehrt? Wenn er | |
trotz Handschellen mit dem Kopf gegen Bürgersteig und Glasscheiben schlägt? | |
Hätten die Polizist:innen nicht die Situation deeskalieren und einen | |
psychiatrischen Notdienst alarmieren können? Und warum wurde bei einem | |
gefesselten Mann, der sich offenkundig im Ausnahmezustand befand, auch noch | |
Pfefferspray eingesetzt? Diese Fragen haben sich offenbar weder die | |
Staatsanwaltschaft noch die ermittelnden Beamt:innen gestellt. | |
Für den Kriminologen und Polizeiwissenschaftler Thomas Feltes hat die | |
mangelnde Aufarbeitung in Fällen wie dem von L. strukturelle Ursachen. Er | |
beschäftigt sich schon lange mit Problemen der Polizei im Umgang mit | |
psychisch Kranken sowie mit dem unverhältnismäßigen Einsatz von | |
Pfefferspray. | |
Als die taz ihm von L.s Todesumständen berichtet, wird Feltes hellhörig: | |
„Die Risiken und Nebenwirkungen von Pfefferspray bei Menschen, die unter | |
Einfluss von Drogen, Alkohol oder Medikamenten stehen, sind sehr hoch“, | |
sagt er, „ich muss niemanden, der an den Händen gefesselt ist, noch | |
zusätzlich mit Pfefferspray eindecken – zumal der Betroffene sich bereits | |
auf der Polizeiwache im Bereich des Gewahrsams befunden hat.“ Immer wieder | |
käme es wegen der Fahrlässigkeit von Polizist:innen im Umgang mit | |
Pfefferspray zu Todesfällen. „Der Fall ist geradezu typisch“, sagt Feltes, | |
„in drei von vier Todesfällen durch Polizeigewalt sind die Opfer psychisch | |
krank. In vielen Fällen hätte der Tod verhindert werden können.“ | |
Feltes war 10 Jahre lang Rektor einer Polizeihochschule. Er sagt, die | |
Gefährlichkeit von Pfefferspray in gewissen Situationen sei ebenso wie der | |
sogenannte lagebedingte Erstickungstod in der Polizei seit 25 Jahren | |
bekannt. „Man darf niemanden länger als ein paar Sekunden auf dem Bauch | |
fixieren und ihm dann möglicherweise noch von hinten ins Kreuz steigen. | |
Sonst erstickt der Fixierte – erst recht, wenn er sich in einem psychischen | |
Ausnahmezustand befindet und hyperventiliert. So kann es zu ebendiesem | |
lagebedingten Erstickungstod kommen.“ | |
Feltes ist der Überzeugung, dass spätestens bei Ankunft im Polizeigewahrsam | |
ein Arzt hätte anwesend sein müssen: „Der Ausnahmezustand des Betroffenen | |
war offenkundig, und in solchen Fällen ist eine ärztliche Untersuchung | |
vorgeschrieben.“ | |
In der Summe fällt Feltes ein hartes Urteil: „Die Polizeibeamten sind für | |
solche Situationen geschult und müssen wissen, dass sie niemanden länger | |
als einige Sekunden auf dem Bauch liegend fixieren dürfen. Sie haben in | |
diesem konkreten Fall offensichtlich die erforderliche Sorgfalt außer Acht | |
gelassen – daher besteht zumindest der Verdacht einer fahrlässigen Tötung.�… | |
Die Staatsanwaltschaft hätte den Fall vor Gericht bringen müssen, sagt | |
Feltes: „Der Vorfall hätte in einer strafrechtlichen Hauptverhandlung | |
aufgearbeitet werden müssen, in der sich dann auch die Polizeibeamten | |
angemessen hätten verteidigen können.“ | |
Dass das Verfahren eingestellt wurde, überrascht ihn allerdings nicht: „Das | |
ist bei der Mehrzahl der Strafverfahren gegen Polizisten die Regel. Laut | |
der [5][Untersuchung des Kollegen Tobias Singelnstein] kommen nur 2 Prozent | |
der Strafverfahren gegen Polizisten vor Gericht, auch weil diese nicht oder | |
nur alibi-mäßig gegen Kollegen ermitteln.“ Die Staatsanwaltschaft ist für | |
Ermittlungen aber auf die Polizei angewiesen. Deswegen sagt Feltes: „Für | |
Fälle wie diesen braucht es unabhängige Instanzen mit eigenen | |
Ermittlungsbefugnissen.“ | |
Weil der Fall nicht anständig untersucht und vor Gericht verhandelt wurde, | |
bleibt bis auf Weiteres unklar, ob L. das Vorgehen der Polizist:innen ohne | |
Pfefferspray-Einsatz oder Fixierung auf dem Bauch womöglicherweise überlebt | |
hätte. Auf 14 detaillierte schriftliche Fragen der taz an die Polizei zu | |
dem Fall verweist diese nur auf die Staatsanwaltschaft. | |
Oberstaatsanwalt Martin Steltner betont bei denselben Fragen in einem | |
Telefongespräch vor allem die Dynamik des Einsatzgeschehens. Er sagt | |
außerdem: „Eine psychische Erkrankung haben die Beamten nicht erkannt“, | |
ebenso wenig Drogeneinfluss. Hinweise darauf hätten sich erst im Nachhinein | |
ergeben. Dabei haben die Polizisten explizit von Autoaggressionen, vom | |
„irren Blick“ und dem wirren Zustand von L. berichtet. Einer hat sogar zu | |
Protokoll gegeben, dass der „Tatverdächtige sichtlich unter Drogen- | |
und/oder Alkoholeinfluss“ gestanden hätte. | |
Auf Fragen nach den Hinweisen, dass die Fixierung und Fesselung | |
möglicherweise nicht vorschriftsmäßig abgelaufen sei, geht Steltner nicht | |
näher ein. Er sagt nur: „Das war ein sehr tragischer Verlauf, keine Frage, | |
aber die Beamten haben sich durch die Anwendung der Zwangsmaßnahmen nicht | |
strafbar gemacht.“ Außerdem solle man doch einmal die Perspektive der | |
Polizei einnehmen: „Auch für die Beamten war die Situation extrem | |
belastend“, sagt Steltner, „stellen Sie sich vor, Sie haben mit einem | |
Randalierer zu tun und wenden das Gelernte an, und plötzlich kollabiert der | |
Mann und verstirbt.“ | |
Die Einsatzkräfte hätten zudem direkt ärztliche Hilfe gerufen und L. sei | |
sofort in die Klinik gebracht worden. Sein Resümee: „Wir haben das | |
Geschehen umfassend aufgeklärt.“ Weitere Fragen zu Details, etwa wie lange | |
L. fixiert war und warum ein maßgeblich Beteiligter im Fahrstuhl im Rahmen | |
der Ermittlungen überhaupt nicht vernommen wurde, beantwortet er nicht. | |
Potenztielles Fehlverhalten mit der dynamischen Einsatzsituation zu | |
entschuldigen, ist für den Kriminologen Feltes ein „Totschlagargument“: �… | |
gibt bei Festnahmen nur dynamische Einsatzgeschehen, alle polizeilichen | |
Maßnahmen mit psychisch Gestörten sind per se ‚dynamisch‘. Genau deswegen | |
werden Polizisten für diese Maßnahmen ja geschult“, sagt er. | |
Wie hätte die Polizei stattdessen vorgehen müssen? Feltes sagt, die | |
Polizist:innen hätten spätestens direkt bei Ankunft im Gewahrsam den in | |
Bereitschaft befindlichen Arzt oder auch den Notarzt rufen müssen: „Richtig | |
wäre es gewesen, zehn Schritte zurück zu treten, einen Kreis zu bilden und | |
abzuwarten, bis die Person sich beruhigt und ein Arzt anwesend ist. Der | |
Mann hätte mit Fußfesseln und Handschellen ohnehin nicht aus dem Gewahrsam | |
fliehen können.“ | |
Feltes sieht Parallelen zum Fall vom [6][Neptunbrunnen nahe dem | |
Alexanderplatz]. Dort hatte 2013 ein Polizeibeamter den psychisch | |
erkrankten Manuel F. erschossen. Der 31-Jährige stand nackt im Brunnen und | |
hielt ein Messer in der Hand. F. stellte zu diesem Zeitpunkt keine Gefahr | |
für andere dar. Erst als ein Polizeibeamter auf ihn zuging, ging F. | |
ebenfalls auf den Beamten zu. Daraufhin schoss der Polizist und tötete F. | |
Der Fall wurde medial breit thematisiert, weil es ein Video davon gab. Die | |
Staatsanwaltschaft stellte die Ermittlungen gegen den Beamten trotzdem ein. | |
Die große Aufmerksamkeit für diesen Fall führte aber immerhin dazu, dass | |
die Berliner Polizei seither umfänglich für den Umgang mit psychisch | |
Erkrankten schult. Dennoch kam es auch danach zu [7][ähnlichen Vorfällen | |
(siehe Kasten)]. | |
Das letzte Mal spielte sich ein ähnlicher Fall [8][Anfang des Jahres in | |
Berlin] ab. Hier haben vor allem linke Initiativen Polizist:innen für den | |
Tod der 33-jährigen [9][Maria B. in Friedrichshain] verantwortlich gemacht. | |
Ihr Mitbewohner hatte in der Nacht zum 24. Januar die Polizei gerufen, weil | |
B. aggressiv gewesen sei und ihn mit einem Küchenmesser bedroht habe. Als | |
die Polizei eintraf, hatte B. sich in ihrem Zimmer eingeschlossen. Auch | |
hier schaltete die Polizei keinen Notdienst ein und wartete nicht ab: Sie | |
soll direkt alle Türen aufgebrochen und Maria B. erschossen haben, als | |
diese mit einem Messer in ihrem Zimmer stand und sich damit auf die | |
Polizisten zubewegt haben soll. B. soll polizeibekannt gewesen sein, unter | |
psychischen Problemen und multipler Sklerose gelitten haben. Sie wog wohl | |
weniger als 50 Kilogramm. Die Ermittlungen in diesem Fall laufen noch. | |
Im Unterschied zu den meisten dieser Fälle war Aristeidis L. allerdings | |
unbewaffnet. In vielen Fällen mit tödlichen Polizeischüssen auf psychisch | |
Erkrankte haben Opfer Messer in der Hand. | |
Jens Gräbener ist als Psychologe und Psychotherapeut vom Berliner | |
Krisendienst seit 20 Jahren im Einsatz und sagt: „Grundsätzlich kann die | |
Polizei den sozialpsychiatrischen Dienst oder den Krisendienst zu jedem | |
Einsatz anfordern.“ Zum Fall von Maria B. sagt Gräbener: „Ich würde nicht | |
face-to-face mit jemandem sprechen, der ein Messer in der Hand hat. Was | |
anderes ist es, durch die Tür mit jemandem zu sprechen.“ Allerdings sei es | |
immer schwierig, einen Einsatz im Nachhinein zu beurteilen – „aber | |
natürlich ist der Tod eines Menschen immer der schlechteste mögliche | |
Ausgang.“ | |
Jeder Einsatz mit aggressiven psychisch Erkrankten verlaufe unter der | |
Prämisse, dass eine Gefährdung für die Mitarbeiter:innen des Krisendienstes | |
möglichst ausgeschlossen werden soll. Zudem müsse die Polizei zunächst erst | |
mal erkennen können, dass es sich um eine psychische Erkrankung handelt – | |
das sei nicht immer leicht. Gräbener sagt mit Blick auf den Fall von L.: | |
„Das Mittel, das wir haben, ist Sprechen. In einer dynamischen Situation | |
ist das oft nicht möglich. Aber vielleicht wäre beim geschilderten Fall ein | |
Gespräch im Polizeiauto möglich gewesen, vielleicht auf der Gesa. Wir | |
brauchen einen sicheren Rahmen, in dem wir agieren können.“ | |
Darüber hinaus könne die Polizei Verdachtsfälle auch direkt ins Krankenhaus | |
bringen – und im Beisein eines Arztes gegebenenfalls eine Zwangseinweisung | |
erwirken, so Gräbener. Das könnten auch Ärzt:innen der Gesa beantragen, | |
ebenso die Fachärzt:innen von psychiatrischen Diensten. Grundsätzlich hat | |
Gräbener bei seinen Einsätzen den Eindruck, dass die Polizei in der Regel | |
so wenig Eskalation wie möglich suche und stets auf Gespräche setze: | |
„Allerdings kann es auch sein, dass ich eher Kontakt zu einer bestimmten | |
Auswahl von Polizisten habe, die eben auch den Krisendienst rufen“, sagt | |
er. | |
In der Theorie sollten also Fälle wie der von Aristeidis L. und Maria B. | |
nicht mehr passieren. Die Polizei Berlin schreibt auf Nachfrage zu den | |
grundsätzlichen Vorschriften: „Der Umgang mit psychisch erkrankten Personen | |
in Akutsituationen ist ein integraler Bestandteil des Einsatztrainings in | |
der Aus- und Fortbildung. Im Mittelpunkt steht dabei die konflikt- und | |
gefährdungsarme Interaktion mit einem Gegenüber in akuten psychischen | |
Ausnahmesituationen.“ Seit 2009 kooperiere die Polizei mit dem | |
Krisendienst, zudem gebe es ständig aktualisierte Listen der | |
sozialpsychiatrischen Dienste in den Leitstellen. Auch bei Fixierungen auf | |
dem Bauch müsse die Lage ständig auf Verhältnismäßigkeit neu beurteilt | |
werden, heißt es von der Polizei. Der Gesundheitszustand müsse permanent | |
überwacht werden. Doch wie hätte das bei L. gehen sollen? Wie sollten die | |
Einsatzkräfte die Atmung kontrollieren, wenn sie noch während der Fixierung | |
eine Maske vor L.s Mund befestigten? | |
Die Mutter von L. fragt sich bis heute, was genau vor dem Tod ihres Sohnes | |
passiert ist: „Es bleibt unbegreiflich und schmerzt umso mehr, dass mein | |
Sohn unter nicht nachvollziehbaren Umständen ums Leben gekommen ist“, sagt | |
sie. Sie hofft weiter auf Aufklärung. Nachdem die Nebenklage des Bruders | |
gescheitert ist, überlegt sie, weitere Rechtsmittel auszuschöpfen. Ihr | |
steht der Klageweg als Hinterbliebene noch offen. | |
Die Hoffnung von Anwältin Siochou ist, dass die Familie noch rechtliches | |
Gehör findet. L.s Mutter hofft, dass der Fall vielleicht etwas an der | |
Praxis der Polizei ändert und mehr Folgen nach sich zieht als drei Sätze in | |
einer kurzen Polizeimeldung. | |
23 May 2020 | |
## LINKS | |
[1] https://www.berlin.de/polizei/polizeimeldungen/pressemitteilung.770280.php | |
[2] https://www.cilip.de/2016/08/19/begrenztes-risiko-polizeilicher-einsatz-von… | |
[3] /Nach-Reizgas-Einsatz-der-Polizei/!5527533 | |
[4] https://www.bundestag.de/resource/blob/191580/%20825a5997105f8aede09106fe71… | |
[5] https://www.swr.de/report/pruegelnde-polizisten-versagt-die-justiz/24-90-pr… | |
[6] https://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2013-11/berlin-neptunbrunnen… | |
[7] https://taz.atavist.com/polizeitote#chapter-1957584 | |
[8] /Getoetete-Frau-in-Berlin-Friedrichshain/!5656527 | |
[9] https://www.vice.com/de/article/xgqw4z/der-fall-maria-wenn-polizisten-schie… | |
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Gareth Joswig | |
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Menschen protestierten am Samstag für umfassende Aufklärung. | |
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Eine fadenscheinige Hausdurchsuchung, mutmaßlich übergriffige Beamt:innen, | |
ein rechter Kommissar, der Dickpics verschickt. Wie kann das sein? | |
Getötete Frau in Berlin-Friedrichshain: Einsatz mit Todesfolge | |
Am Freitagmorgen erschießt in Berlin-Friedrichshain ein Polizist eine Frau | |
in deren Wohnung. Sie soll psychische Probleme gehabt haben. | |
Tödlicher Vorfall in Berlin: Polizist erschießt Frau in Wohnung | |
Die Frau soll die Beamten zuvor mit einem Messer angegriffen haben. Der | |
Vorfall zeigt Ähnlichkeiten mit einem tödlichen Polizeieinsatz 2013. | |
Polizeischüsse im Berliner Dom: Mit dem Leben davongekommen | |
Polizisten schießen auf einen mit einem Messer Bewaffneten. Der wird ins | |
Bein getroffen. Vergleichbare Fälle gehen zumeist tödlich aus. |