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# taz.de -- Tod im Polizeigewahrsam: Lagebedingtes Systemversagen
> Aristeidis L. erstickt an Händen und Füßen gefesselt, während ihn vier
> Einsatzkräfte auf dem Bauch fixieren. Kein Einzelfall.
Bild: An dieser Bäckerei am Tempelhofer Damm wurde Aristeidis L. festgenommen
Berlin taz | Nicht mehr als drei Sätze war der Polizei der Tod von
Aristeidis L. wert: „Der am 27. Dezember 2018 während eines
Polizeieinsatzes bewusstlos gewordene Mann ist heute in einem Krankenhaus
verstorben“, heißt es in der kurzen Polizeimeldung vom 12.1.2019. Dies
hätten Ärzte aus dem behandelnden Klinikum in Neukölln mitgeteilt. Die
Ermittlungen zum genauen Geschehen würden vom Landeskriminalamt geführt und
dauerten an.
Das letzte, was L. als freier Mensch von Berlin gesehen hat, war die
Filiale einer Bäckerei-Kette in Tempelhof. Der 36-jährige Grieche
kollabierte in Polizeigewahrsam, als mehrere Einsatzkräfte ihn in eine
Zelle der Gefangenensammelstelle Süd bringen wollten. Nach Berlin war L.
gekommen, um Silvester zu feiern. Den Jahreswechsel erlebt er nicht mehr
bei Bewusstsein.
Sein Tod bleibt eine Randnotiz ohne großen medialen Widerhall. Zwar greift
die Deutsche Presseagentur die Meldung auf, aber wie die Ermittlungen
enden, wird niemals berichtet – weder von der Polizei noch von Medien.
Jetzt, knapp eineinhalb Jahre später, deuten Recherchen der taz darauf hin,
dass die Beamt:innen womöglich grobe Fehler machten – der Verdacht der
fahrlässigen Tötung steht im Raum, auch wenn das zugehörige Verfahren
längst eingestellt ist. Das legen eine Rekonstruktion der Hergänge und die
Einschätzung des renommierten Kriminologen Thomas Feltes nahe, der selbst
Rektor einer Polizeischule war und schon länger systematisches
Fehlverhalten der Polizei kritisiert.
Der Fall von L. zeigt zudem einmal mehr Schwächen bei der Strafverfolgung
von Polizist:innen: Die zuständige Staatsanwaltschaft stellte das Verfahren
wegen fahrlässiger Tötung gegen die beteiligten Beamt:innen nach nur zwei
Monaten im März 2019 ein. Einwände und Beschwerden der Hinterbliebenen
wurden abgewiesen. Wie so häufig, wenn Polizist:innen tatverdächtig sind,
kam auch in diesem Verfahren nur wenig heraus, als Beamt:innen gegen ihre
Kolleg:innen ermittelten. Den Einsatzkräften sei strafrechtlich nichts
anzulasten, heißt es von der Staatsanwaltschaft – obwohl nicht einmal alle
Beteiligten des Vorfalls vernommen wurden.
Die Hinterbliebenen von L. wollen sich nicht damit abfinden, dass ihr Sohn
und Bruder bei seinem Berlinbesuch unter ungeklärten Umständen starb. Bis
heute wollen sie herausfinden, wie das genau geschah. Die Mutter sagt: „Die
Sache ist in einer Schublade gelandet. Es ist absolut nichts passiert und
keiner zeigt sich verantwortlich.“ Der Bruder des Opfers trat im Verfahren
als Nebenkläger auf. Alle Einwände, die er über seine Berliner
Rechtsanwältin Vasiliki Siochou einbrachte, scheiterten jedoch auf
juristischem Wege.
Doch was lässt sich rekonstruieren aus dem, was bekannt ist über den Tod
von Aristeidis L.? Dass der Polizeieinsatz kein leichter war, ist
unstrittig. Das verrät bereits der Anhang der [1][unscheinbaren
Polizeimeldung], in der das Ereignis aus Polizeisicht geschildert wird.
Darin heißt es etwas ungenau: Am Nachmittag des 27. Dezember 2018 hätten
Einsatzkräfte einen äußerst aggressiven und randalierenden Mann fesseln
müssen und dabei Pfefferspray eingesetzt. Drei bis vier Beamte hätten den
36-Jährigen mit freiem Oberkörper in der Bäckerei angetroffen und große
Mühe gehabt, den um sich tretenden und schlagenden Mann in einen
Gefangenentransporter zu bringen. Während der Fahrt hätte der Mann mehrfach
seinen Kopf gegen die Scheibe des Polizeifahrzeuges geschlagen.
Im Polizeigewahrsam sei er den Polizist:innen nach dem Öffnen der Tür dann
entgegengesprungen. Die hätten Pfefferspray eingesetzt, um weitere Angriffe
zu vermeiden. Mehrere Dienstkräfte hätten den weiter um sich tretenden Mann
in den Gewahrsam tragen wollen. Dabei sei er dann kollabiert. In der
Polizeimeldung heißt es wörtlich: „Nach Aussagen der Beteiligten verlor der
Festgenommene plötzlich das Bewusstsein, sodass ein Arzt aus dem Gewahrsam
hinzueilen musste, um den Mann bis zum Eintreffen eines alarmierten
Notarztes zu reanimieren. Der 36-Jährige kam zur weiteren
intensivmedizinischen Behandlung in ein Krankenhaus.“
Nicht in der Polizeimeldung steht das, was die Hinterbliebenen dank
Nebenklage und Akteneinsicht erfahren: L. war unbewaffnet und sah sich neun
Polizeibeamt:innen und mindestens vier weiteren Wachpolizisten in der
Gefangenensammelstelle gegenüber. Vor der Bäckerei legten sie ihm zunächst
Handschellen an, später im Polizeigewahrsam verpassen ihm die Einsatzkräfte
zusätzlichen noch Fußfesseln.
Zum Zeitpunkt seines Kollaps war L. also an Händen und Füßen gefesselt.
Vier Einsatzkräften drückten ihn zudem in einem Fahrstuhl in Bauchlage auf
den Boden – bis er erstickte. Eine Fixierung auf dem Bauch kann zum
lagebedingten Erstickungstod führen, wenn sie zu lange dauert.
Polizeibeamt:innen lernen das in der Ausbildung und dürfen entsprechend
niemanden zu lange in Bauchlage fixieren. Genau das könnte hier aber
passiert sein.
Hinzukommt, dass ein Polizeibeamter kurz zuvor dem Verstorbenen
Pfefferspray ins Gesicht gesprüht hatte. Der Reizstoff kann insbesondere
bei Menschen mit [2][Vorerkrankungen, in psychischen Ausnahmesituationen]
oder unter Drogeneinfluss tödlich sein. Darüber gibt es [3][seit Jahren
Berichte] und [4][wissenschaftliche Gutachten]. Weil Pfefferspray eben
keine harmlose Zwangsmaßnahme ist, darf etwa die Bundeswehr bei einem
Auslandseinsatz im Kriegsgebiet kein Pfefferspray einsetzen. Reizstoffe wie
diese sind nach den Genfer Protokollen international als Kampfmittel
geächtet. In Deutschland setzt die Polizei es dennoch häufig und oftmals
unvorsichtig ein.
Und noch mehr weist auf Fehlverhalten der beteiligten Einsatzkräfte hin: L.
habe sich in einem psychischen Ausnahmezustand befunden, wie die Anwältin
Siochou seines klagenden Bruders sagt: „Er war psychisch vorbelastet und in
einem manischen Zustand. Obendrein hatte er Drogen konsumiert.“ Cannabis,
Kokain und Opiate wurden in L.s Blut gefunden. Er befand sich also genau in
dem Zustand, in dem Pfefferspray tödlich sein kann.
Dank ihrer Akteneinsicht weiß Siochou auch, dass es während des Einsatzes
zahlreiche Hinweise auf eine psychische Erkrankung L.s gab. Er hatte sich
bis auf seine Hose ausgezogen, randalierte und schimpfte. Eine
Mitarbeiterin der Bäckerei hatte daraufhin die Polizei gerufen und Anzeige
wegen Hausfriedensbruch erstattet. Als die Beamt:innen den Laden betraten,
saß L. halbnackt auf einer Bank. Nach ihrem Eintreffen zogen zwei Beamte
ihn an seinen Armen aus dem Laden. Danach eskaliert die Situation auf dem
Bürgersteig vor der Bäckerei.
L. beginnt – immer noch oben ohne und barfuß – sich zu wehren. Während der
folgenden Zwangsmaßnahmen schlägt und tritt er um sich, ohne Beamte zu
verletzen. Die Polizisten bringen ihn zu Boden und haben Schwierigkeiten,
ihn dort zu halten. L. ist 1 Meter 90 groß und wiegt über 100 Kilo. Mit
Verstärkung – kurz darauf sind vier Streifenwagen, ein
Gefangenentransporter und insgesamt neun Polizist:innen vor Ort – gelingt
es den Einsatzkräften, dem sich windenden L. Handschellen anzulegen und ihn
in die Zelle des Transporters zu sperren. Während L. am Boden auf dem Bauch
fixiert ist, schlägt er seinen Kopf gegen den Bürgersteig. Auch im
Gefangentransporter schlägt er seinen Kopf mehrfach heftig gegen die
Plexiglasscheibe.
Mehrere am Einsatz beteiligte Beamt:innen erkennen laut Anwältin Siochou,
dass er sich in einem psychischen Ausnahmezustand befindet. Eine hätte zu
Protokoll gegeben, dass „[der Tatverdächtige] in der Zelle [des Fahrzeugs]
wie von Sinnen laut schrie, uns mit einem irren Blick fixierte und seinen
Kopf mehrfach heftig gegen die Scheibe schlug“. Ein anderer hätte gesagt:
„Der Tatverdächtige stand sichtlich unter Drogen- und/oder
Alkoholeinfluss“, so die Anwältin.
Doch anstatt auf Deeskalation zu setzen oder einen psychiatrischen
Notdienst hinzuzuziehen, setzt sich die physische Auseinandersetzung in der
Gefangenensammelstelle am Tempelhofer Damm 12 nahtlos fort: Alle neun
Beamt:innen vom Einsatzort begleiten die Überführung. Zusätzlich warten in
der geschlossenen Schleuse der kurz Gesa genannten Gefangenensammelstelle
vier Wachpolizisten auf L..
Es folgt eine hektische und unübersichtliche Situation. Zwei oder drei
Wachpolizisten öffnen die Zellentür des Fahrzeugs. L., in Handschellen,
beginnt erneut sich zu wehren und versucht wohl, die Einsatzkräfte
umzustoßen. Als die Polizist:innen ihn daraufhin zu Boden bringen, fällt er
auf einen Wachpolizisten, der sich dabei das Fußgelenk verstaucht. Erst
jetzt, als ein Polizist verletzt ist, rufen die Einsatzkräfte den in jeder
Gesa anwesenden Polizeiarzt hinzu – allerdings nur, um den Kollegen zu
verarzten.
Im Wirrwarr dieser Situation setzt ein Polizeibeamter das Pfefferspray
gegen L. ein. Und offenbar nicht wenig: Auch mehrere Einsatzkräfte bekommen
etwas ab und beginnen zu husten. L. zeigt sich von dem Spray zunächst
unbeeindruckt. Die Einsatzkräfte legen ihm neben Handschellen auch
Fußfesseln an. Damit L. nicht spuckt, zieht ihm ein Beamter noch einen
Spuckschutz über – eine einfache OP-Maske.
Hier wäre möglicherweise die zweite Chance gewesen, zu deeskalieren:
Gefesselt an Füßen und Händen, kann sich L. nur noch am Boden winden.
Anstatt jedoch die Situation zu beruhigen und den psychiatrischen Notdienst
zu alarmieren, tragen vier bis fünf Einsatzkräfte ihn ins Gebäude. Weil L.
sich dabei weiter windet, wollen sie ihn nicht die Treppen hochtragen,
sondern ihn im Fahrstuhl transportieren. Während der Fahrstuhlfahrt
schließlich kollabiert L. – gewaltsam fixiert durch drei Wachpolizisten der
Gesa und einen Polizeibeamten. Sie schleifen ihn bäuchlings an den Händen
in den engen Aufzug und halten ihn dort am Boden. Während der Fahrt lässt
sein Widerstand schließlich nach. Am Ende fällt den Einsatzkräften auch
auf, warum: Sein Gesicht ist blau angelaufen, L. ist während der
Zwangsmaßnahmen kollabiert und atmet nicht mehr.
Nach Schilderung von Anwältin Siochou ergeben die Aussagen der
Einsatzkräfte ein widersprüchliches Bild, was die Lage von L. bei der
Fahrstuhlfahrt angeht: Während mehrere Polizisten beschreiben, dass sie ihn
bäuchlings an den Armen in den Fahrstuhl zogen, behauptet ein mitfahrender
Wachpolizist, sie hätten ihn in stabiler Seitenlage fixiert. Der zweite
Gesa-Mitarbeiter im Fahrstuhl sagte lediglich, dass sie ihn festhielten,
nicht jedoch, wie sie ihn fixierten.
Die Aussage des dritten Wachpolizisten im Fahrstuhl fehlt dagegen komplett
und wurde im Zuge der Ermittlungen offenbar nicht einmal eingeholt – obwohl
ausgerechnet dieser L. im Bereich des Oberkörpers fixiert haben soll. Der
mitfahrende Polizeibeamte, der die Beine fixierte, sagte, er habe während
der Fahrt keinen freien Blick auf L. gehabt.
Fest steht: L. befand sich gefesselt an Füßen und Händen am Boden des
Fahrstuhls, während vier Männer auf ihn einwirkten. Höchstwahrscheinlich
lag er dabei in Bauchlage. Darüber hinaus liegt der Verdacht nahe, dass
diese Fixierung sich lange hinzog: Der mitfahrende Polizeibeamte hat
ausgesagt, dass sich der Fahrstuhl während der Fahrt zunächst im falschen
Stockwerk geöffnet habe, weil einer der Wachpolizisten versehentlich
mehrere Knöpfe gedrückt hätte.
Nachdem die Einsatzkräfte feststellten, dass L. kollabiert war, versuchten
sie sofort, ihn zu reanimieren. Ein Polizist alarmierte den Polizeiarzt,
der sich noch immer bei dem leicht verletzten Kollegen befand. Doch es ist
zu spät: Die Ärzte konnten zwar seinen Kreislauf stabilisieren, aber zu
Bewusstsein kam L. nie wieder. Von einem Rettungswagen wird er mit
Prellungen, zahlreichen Schürf- und Platzwunden und blauem Auge ins
Krankenhaus Neukölln gebracht. Auf der Intensivstation wird er in ein
künstliches Koma versetzt, die Diagnose lautet ein paar Tage später:
Hirntod.
Im Alter von 36 Jahren verstirbt L. 16 Tage später in Neukölln im
Krankenhaus, nachdem seine nach Berlin gereiste Familie die
lebenserhaltenden Maßnahmen einstellen ließ. Die offizielle Todesursache
lautet: lagebedingter Erstickungstod durch mechanische Fixierung. Als Grund
dafür ergibt die Obduktion: Sauerstoffmangel im Gehirn, der vermutlich in
Summe aus einer starken Stressreaktion im Erregungszustand sowie
Drogenkonsum und der Fixierung in Bauchlage resultierte.
Anwältin Siochou hält es für unfassbar, dass die Staatsanwaltschaft
angesichts dieser aus den Akten rekonstruierbaren Ereignisse kein
Fehlverhalten der Einsatzkräfte erkennen konnte und die Ermittlungen
einstellte: „Er war unbewaffnet, an Händen und Beinen gefesselt und sah
sich einer Überzahl geschulter Polizisten gegenüber“, sagt Siochou. „Die
Staatsanwaltschaft hat in dem Fall unzureichend ermittelt. Entgegen nach
Aktenlage offensichtlichem Fehlverhalten der Polizisten sind diese nicht
erneut vernommen worden.“
Zu einer sorgfältigen Aufklärung der Kausalität zwischen dem Verhalten der
Polizisten und dem Tod von L. sei es nicht gekommen. Dem Bruder von L.
blieb nur noch ein in solchen Fällen zumeist wenig aussichtsreiches
Klageerzwingungsverfahren. Erwartungsgemäß blieb auch das erfolglos: „Unser
Antrag auf ein Klageerzwingungsverfahren wurde abgewiesen. Alle
Rechtsmittel wurden ausgeschöpft. Ungeheuerlich, dass solch ein
Missverhalten der Polizei unberührt bleibt von Konsequenzen“, sagt Siochou.
Der Fall treibt sie und die Familie von L. angesichts der vielen offenen
Fragen allerdings weiter um: Wie genau fixierten die Beamten L. im
Fahrstuhl? Wie lange stiegen sie ihm in den Rücken? Hätte die Polizei nicht
erkennen müssen, dass L. sich in einem psychischen Ausnahmezustand befand
und auf Drogen war? Wonach, wenn nicht nach einer psychischen Erkrankung,
sieht ein fast nackter Mann im Winter aus, wenn er in einer Bäckerei
randaliert und sich gegen eine Übermacht von Polizisten wehrt? Wenn er
trotz Handschellen mit dem Kopf gegen Bürgersteig und Glasscheiben schlägt?
Hätten die Polizist:innen nicht die Situation deeskalieren und einen
psychiatrischen Notdienst alarmieren können? Und warum wurde bei einem
gefesselten Mann, der sich offenkundig im Ausnahmezustand befand, auch noch
Pfefferspray eingesetzt? Diese Fragen haben sich offenbar weder die
Staatsanwaltschaft noch die ermittelnden Beamt:innen gestellt.
Für den Kriminologen und Polizeiwissenschaftler Thomas Feltes hat die
mangelnde Aufarbeitung in Fällen wie dem von L. strukturelle Ursachen. Er
beschäftigt sich schon lange mit Problemen der Polizei im Umgang mit
psychisch Kranken sowie mit dem unverhältnismäßigen Einsatz von
Pfefferspray.
Als die taz ihm von L.s Todesumständen berichtet, wird Feltes hellhörig:
„Die Risiken und Nebenwirkungen von Pfefferspray bei Menschen, die unter
Einfluss von Drogen, Alkohol oder Medikamenten stehen, sind sehr hoch“,
sagt er, „ich muss niemanden, der an den Händen gefesselt ist, noch
zusätzlich mit Pfefferspray eindecken – zumal der Betroffene sich bereits
auf der Polizeiwache im Bereich des Gewahrsams befunden hat.“ Immer wieder
käme es wegen der Fahrlässigkeit von Polizist:innen im Umgang mit
Pfefferspray zu Todesfällen. „Der Fall ist geradezu typisch“, sagt Feltes,
„in drei von vier Todesfällen durch Polizeigewalt sind die Opfer psychisch
krank. In vielen Fällen hätte der Tod verhindert werden können.“
Feltes war 10 Jahre lang Rektor einer Polizeihochschule. Er sagt, die
Gefährlichkeit von Pfefferspray in gewissen Situationen sei ebenso wie der
sogenannte lagebedingte Erstickungstod in der Polizei seit 25 Jahren
bekannt. „Man darf niemanden länger als ein paar Sekunden auf dem Bauch
fixieren und ihm dann möglicherweise noch von hinten ins Kreuz steigen.
Sonst erstickt der Fixierte – erst recht, wenn er sich in einem psychischen
Ausnahmezustand befindet und hyperventiliert. So kann es zu ebendiesem
lagebedingten Erstickungstod kommen.“
Feltes ist der Überzeugung, dass spätestens bei Ankunft im Polizeigewahrsam
ein Arzt hätte anwesend sein müssen: „Der Ausnahmezustand des Betroffenen
war offenkundig, und in solchen Fällen ist eine ärztliche Untersuchung
vorgeschrieben.“
In der Summe fällt Feltes ein hartes Urteil: „Die Polizeibeamten sind für
solche Situationen geschult und müssen wissen, dass sie niemanden länger
als einige Sekunden auf dem Bauch liegend fixieren dürfen. Sie haben in
diesem konkreten Fall offensichtlich die erforderliche Sorgfalt außer Acht
gelassen – daher besteht zumindest der Verdacht einer fahrlässigen Tötung.�…
Die Staatsanwaltschaft hätte den Fall vor Gericht bringen müssen, sagt
Feltes: „Der Vorfall hätte in einer strafrechtlichen Hauptverhandlung
aufgearbeitet werden müssen, in der sich dann auch die Polizeibeamten
angemessen hätten verteidigen können.“
Dass das Verfahren eingestellt wurde, überrascht ihn allerdings nicht: „Das
ist bei der Mehrzahl der Strafverfahren gegen Polizisten die Regel. Laut
der [5][Untersuchung des Kollegen Tobias Singelnstein] kommen nur 2 Prozent
der Strafverfahren gegen Polizisten vor Gericht, auch weil diese nicht oder
nur alibi-mäßig gegen Kollegen ermitteln.“ Die Staatsanwaltschaft ist für
Ermittlungen aber auf die Polizei angewiesen. Deswegen sagt Feltes: „Für
Fälle wie diesen braucht es unabhängige Instanzen mit eigenen
Ermittlungsbefugnissen.“
Weil der Fall nicht anständig untersucht und vor Gericht verhandelt wurde,
bleibt bis auf Weiteres unklar, ob L. das Vorgehen der Polizist:innen ohne
Pfefferspray-Einsatz oder Fixierung auf dem Bauch womöglicherweise überlebt
hätte. Auf 14 detaillierte schriftliche Fragen der taz an die Polizei zu
dem Fall verweist diese nur auf die Staatsanwaltschaft.
Oberstaatsanwalt Martin Steltner betont bei denselben Fragen in einem
Telefongespräch vor allem die Dynamik des Einsatzgeschehens. Er sagt
außerdem: „Eine psychische Erkrankung haben die Beamten nicht erkannt“,
ebenso wenig Drogeneinfluss. Hinweise darauf hätten sich erst im Nachhinein
ergeben. Dabei haben die Polizisten explizit von Autoaggressionen, vom
„irren Blick“ und dem wirren Zustand von L. berichtet. Einer hat sogar zu
Protokoll gegeben, dass der „Tatverdächtige sichtlich unter Drogen-
und/oder Alkoholeinfluss“ gestanden hätte.
Auf Fragen nach den Hinweisen, dass die Fixierung und Fesselung
möglicherweise nicht vorschriftsmäßig abgelaufen sei, geht Steltner nicht
näher ein. Er sagt nur: „Das war ein sehr tragischer Verlauf, keine Frage,
aber die Beamten haben sich durch die Anwendung der Zwangsmaßnahmen nicht
strafbar gemacht.“ Außerdem solle man doch einmal die Perspektive der
Polizei einnehmen: „Auch für die Beamten war die Situation extrem
belastend“, sagt Steltner, „stellen Sie sich vor, Sie haben mit einem
Randalierer zu tun und wenden das Gelernte an, und plötzlich kollabiert der
Mann und verstirbt.“
Die Einsatzkräfte hätten zudem direkt ärztliche Hilfe gerufen und L. sei
sofort in die Klinik gebracht worden. Sein Resümee: „Wir haben das
Geschehen umfassend aufgeklärt.“ Weitere Fragen zu Details, etwa wie lange
L. fixiert war und warum ein maßgeblich Beteiligter im Fahrstuhl im Rahmen
der Ermittlungen überhaupt nicht vernommen wurde, beantwortet er nicht.
Potenztielles Fehlverhalten mit der dynamischen Einsatzsituation zu
entschuldigen, ist für den Kriminologen Feltes ein „Totschlagargument“: �…
gibt bei Festnahmen nur dynamische Einsatzgeschehen, alle polizeilichen
Maßnahmen mit psychisch Gestörten sind per se ‚dynamisch‘. Genau deswegen
werden Polizisten für diese Maßnahmen ja geschult“, sagt er.
Wie hätte die Polizei stattdessen vorgehen müssen? Feltes sagt, die
Polizist:innen hätten spätestens direkt bei Ankunft im Gewahrsam den in
Bereitschaft befindlichen Arzt oder auch den Notarzt rufen müssen: „Richtig
wäre es gewesen, zehn Schritte zurück zu treten, einen Kreis zu bilden und
abzuwarten, bis die Person sich beruhigt und ein Arzt anwesend ist. Der
Mann hätte mit Fußfesseln und Handschellen ohnehin nicht aus dem Gewahrsam
fliehen können.“
Feltes sieht Parallelen zum Fall vom [6][Neptunbrunnen nahe dem
Alexanderplatz]. Dort hatte 2013 ein Polizeibeamter den psychisch
erkrankten Manuel F. erschossen. Der 31-Jährige stand nackt im Brunnen und
hielt ein Messer in der Hand. F. stellte zu diesem Zeitpunkt keine Gefahr
für andere dar. Erst als ein Polizeibeamter auf ihn zuging, ging F.
ebenfalls auf den Beamten zu. Daraufhin schoss der Polizist und tötete F.
Der Fall wurde medial breit thematisiert, weil es ein Video davon gab. Die
Staatsanwaltschaft stellte die Ermittlungen gegen den Beamten trotzdem ein.
Die große Aufmerksamkeit für diesen Fall führte aber immerhin dazu, dass
die Berliner Polizei seither umfänglich für den Umgang mit psychisch
Erkrankten schult. Dennoch kam es auch danach zu [7][ähnlichen Vorfällen
(siehe Kasten)].
Das letzte Mal spielte sich ein ähnlicher Fall [8][Anfang des Jahres in
Berlin] ab. Hier haben vor allem linke Initiativen Polizist:innen für den
Tod der 33-jährigen [9][Maria B. in Friedrichshain] verantwortlich gemacht.
Ihr Mitbewohner hatte in der Nacht zum 24. Januar die Polizei gerufen, weil
B. aggressiv gewesen sei und ihn mit einem Küchenmesser bedroht habe. Als
die Polizei eintraf, hatte B. sich in ihrem Zimmer eingeschlossen. Auch
hier schaltete die Polizei keinen Notdienst ein und wartete nicht ab: Sie
soll direkt alle Türen aufgebrochen und Maria B. erschossen haben, als
diese mit einem Messer in ihrem Zimmer stand und sich damit auf die
Polizisten zubewegt haben soll. B. soll polizeibekannt gewesen sein, unter
psychischen Problemen und multipler Sklerose gelitten haben. Sie wog wohl
weniger als 50 Kilogramm. Die Ermittlungen in diesem Fall laufen noch.
Im Unterschied zu den meisten dieser Fälle war Aristeidis L. allerdings
unbewaffnet. In vielen Fällen mit tödlichen Polizeischüssen auf psychisch
Erkrankte haben Opfer Messer in der Hand.
Jens Gräbener ist als Psychologe und Psychotherapeut vom Berliner
Krisendienst seit 20 Jahren im Einsatz und sagt: „Grundsätzlich kann die
Polizei den sozialpsychiatrischen Dienst oder den Krisendienst zu jedem
Einsatz anfordern.“ Zum Fall von Maria B. sagt Gräbener: „Ich würde nicht
face-to-face mit jemandem sprechen, der ein Messer in der Hand hat. Was
anderes ist es, durch die Tür mit jemandem zu sprechen.“ Allerdings sei es
immer schwierig, einen Einsatz im Nachhinein zu beurteilen – „aber
natürlich ist der Tod eines Menschen immer der schlechteste mögliche
Ausgang.“
Jeder Einsatz mit aggressiven psychisch Erkrankten verlaufe unter der
Prämisse, dass eine Gefährdung für die Mitarbeiter:innen des Krisendienstes
möglichst ausgeschlossen werden soll. Zudem müsse die Polizei zunächst erst
mal erkennen können, dass es sich um eine psychische Erkrankung handelt –
das sei nicht immer leicht. Gräbener sagt mit Blick auf den Fall von L.:
„Das Mittel, das wir haben, ist Sprechen. In einer dynamischen Situation
ist das oft nicht möglich. Aber vielleicht wäre beim geschilderten Fall ein
Gespräch im Polizeiauto möglich gewesen, vielleicht auf der Gesa. Wir
brauchen einen sicheren Rahmen, in dem wir agieren können.“
Darüber hinaus könne die Polizei Verdachtsfälle auch direkt ins Krankenhaus
bringen – und im Beisein eines Arztes gegebenenfalls eine Zwangseinweisung
erwirken, so Gräbener. Das könnten auch Ärzt:innen der Gesa beantragen,
ebenso die Fachärzt:innen von psychiatrischen Diensten. Grundsätzlich hat
Gräbener bei seinen Einsätzen den Eindruck, dass die Polizei in der Regel
so wenig Eskalation wie möglich suche und stets auf Gespräche setze:
„Allerdings kann es auch sein, dass ich eher Kontakt zu einer bestimmten
Auswahl von Polizisten habe, die eben auch den Krisendienst rufen“, sagt
er.
In der Theorie sollten also Fälle wie der von Aristeidis L. und Maria B.
nicht mehr passieren. Die Polizei Berlin schreibt auf Nachfrage zu den
grundsätzlichen Vorschriften: „Der Umgang mit psychisch erkrankten Personen
in Akutsituationen ist ein integraler Bestandteil des Einsatztrainings in
der Aus- und Fortbildung. Im Mittelpunkt steht dabei die konflikt- und
gefährdungsarme Interaktion mit einem Gegenüber in akuten psychischen
Ausnahmesituationen.“ Seit 2009 kooperiere die Polizei mit dem
Krisendienst, zudem gebe es ständig aktualisierte Listen der
sozialpsychiatrischen Dienste in den Leitstellen. Auch bei Fixierungen auf
dem Bauch müsse die Lage ständig auf Verhältnismäßigkeit neu beurteilt
werden, heißt es von der Polizei. Der Gesundheitszustand müsse permanent
überwacht werden. Doch wie hätte das bei L. gehen sollen? Wie sollten die
Einsatzkräfte die Atmung kontrollieren, wenn sie noch während der Fixierung
eine Maske vor L.s Mund befestigten?
Die Mutter von L. fragt sich bis heute, was genau vor dem Tod ihres Sohnes
passiert ist: „Es bleibt unbegreiflich und schmerzt umso mehr, dass mein
Sohn unter nicht nachvollziehbaren Umständen ums Leben gekommen ist“, sagt
sie. Sie hofft weiter auf Aufklärung. Nachdem die Nebenklage des Bruders
gescheitert ist, überlegt sie, weitere Rechtsmittel auszuschöpfen. Ihr
steht der Klageweg als Hinterbliebene noch offen.
Die Hoffnung von Anwältin Siochou ist, dass die Familie noch rechtliches
Gehör findet. L.s Mutter hofft, dass der Fall vielleicht etwas an der
Praxis der Polizei ändert und mehr Folgen nach sich zieht als drei Sätze in
einer kurzen Polizeimeldung.
23 May 2020
## LINKS
[1] https://www.berlin.de/polizei/polizeimeldungen/pressemitteilung.770280.php
[2] https://www.cilip.de/2016/08/19/begrenztes-risiko-polizeilicher-einsatz-von…
[3] /Nach-Reizgas-Einsatz-der-Polizei/!5527533
[4] https://www.bundestag.de/resource/blob/191580/%20825a5997105f8aede09106fe71…
[5] https://www.swr.de/report/pruegelnde-polizisten-versagt-die-justiz/24-90-pr…
[6] https://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2013-11/berlin-neptunbrunnen…
[7] https://taz.atavist.com/polizeitote#chapter-1957584
[8] /Getoetete-Frau-in-Berlin-Friedrichshain/!5656527
[9] https://www.vice.com/de/article/xgqw4z/der-fall-maria-wenn-polizisten-schie…
## AUTOREN
Gareth Joswig
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