# taz.de -- Vorwürfe gegen die Polizei in Weimar: Wenn Fehler keine Folgen hab… | |
> Eine fadenscheinige Hausdurchsuchung, mutmaßlich übergriffige | |
> Beamt:innen, ein rechter Kommissar, der Dickpics verschickt. Wie kann das | |
> sein? | |
Bild: Ihre alte Wohnung: Thekla Graf (Name geändert) zeigt, wo 2017 der Polize… | |
WEIMAR taz | Als Thekla Graf am 14. September 2017 abends nach Hause kommt, | |
brennt Licht im Flur. Vor der Dachgeschosswohnung in der Weimarer | |
Innenstadt, in der sie mit ihrer Mutter lebt, warten zwei | |
Polizeibeamt:innen. Sie haben einen Durchsuchungsbeschluss, auf dem steht: | |
Verdacht auf Diebstahl und Hehlerei. | |
Gesucht wird Thekla Grafs Cousine, sie soll ein Wakeboard im Wert von 500 | |
Euro, eine Art Surfbrett, geklaut und im Internet zum Verkauf angeboten | |
haben. | |
Thekla Graf ist damals 18. Sie sagt, dass die Cousine nicht bei ihr wohne, | |
und fordert die Polizist:innen auf zu gehen. Es kommen sechs weitere | |
Beamt:innen der Bereitschaftspolizei dazu. Graf lässt die Polizist:innen in | |
ihre Wohnung – und erlebt anderthalb qualvolle Stunden. So schildert sie es | |
heute. | |
Graf sagt, sie habe sich ausziehen müssen und sei belästigt worden. Direkt | |
im Anschluss hat Thekla Grafs Mutter Anzeige erstattet. Ermittelt wird | |
wegen sexueller Nötigung, Diebstahl, Strafvereitelung im Amt und Verletzung | |
des Dienstgeheimnisses. Verfahren gegen sechs Polizeibeamt:innen laufen | |
seitdem, gegen zwei Beamt:innen wurden sie eingestellt. | |
Thekla Graf und ihre Mutter halten die Durchsuchung an sich schon für | |
rechtswidrig. | |
Was ist an jenem Abend in der Wohnung in Weimar passiert? Um den Vorwürfen | |
nachzugehen, hat die taz interne Ermittlungsakten ausgewertet, mit | |
Betroffenen gesprochen und ein Polizeivideo des Abends gesichtet. Die | |
Recherchen zeigen: Das Problem geht weit über den Fall Thekla Graf hinaus. | |
Der Polizist Tino M., der gemeinsam mit einer Kollegin den Einsatz leitete, | |
hat wiederholt gegen Vorschriften verstoßen. In den Akten wird auf | |
gravierende Missstände in der Behörde hingewiesen: Interne Ermittler kommen | |
zu dem Schluss, dass es ein „erhebliches Führungsproblem“ innerhalb der | |
Polizei Weimar gibt. | |
Es ist nicht das erste Mal, dass gegen Beamte aus Weimar ermittelt wird: | |
Die taz konnte Prozessakten von 2012 sichten, in denen ebenfalls | |
Misshandlungsvorwürfe gegen Weimarer Polizisten erhoben werden. Das | |
Verfahren damals: eingestellt. Auch der Polizeivertrauensstelle des Landes | |
Thüringen ist die Dienststelle als Problemfall bekannt. | |
Sollte die Weimarer Polizei tatsächlich ein Führungsproblem haben, dann | |
trifft das auch den heutigen Bürgermeister der Stadt, Ralf Kirsten. Er | |
leitete die Polizei bis 2018. Beide Fälle gehören in seinen | |
Verantwortungsbereich. | |
## Die Durchsuchung | |
Im Februar, mehr als zwei Jahre nach der Durchsuchung, kommen Thekla Graf | |
und ihre Mutter in ein Café, um vom September 2017 zu erzählen. Ihre | |
ehemalige Wohnung ist nur wenige Minuten entfernt. Die Grafs heißen in | |
Wirklichkeit anders, sie wollen mit ihrem Namen nicht in die | |
Öffentlichkeit. Thekla Graf fängt an zu weinen, als sie auf die | |
Hausdurchsuchung zu sprechen kommt. Sie schluckt die Tränen runter. | |
Das Video, das der taz vorliegt, zeigt die Durchsuchung. Sechs Beamt:innen | |
der Bereitschaftspolizei in Uniform sowie zwei Beamt:innen in Zivil drängen | |
sich am Abend in die kleine Wohnung. Thekla Graf ist aufgebracht, zählt die | |
Beamt:innen. Sie steht im Badezimmer, will in den Flur. Für ein paar | |
Sekunden versperrt ihr die Einsatzleiterin den Weg, bis sie sie schließlich | |
durchlässt. Graf weint und schreit, wirkt panisch. | |
Sie geht in ihr Zimmer, man sieht Fotos von ihr an der Wand, Arm in Arm mit | |
Freundinnen; auf dem Schreibtisch Schulsachen. Die Kamera schwenkt. Im Flur | |
grinst Einsatzleiter Tino M. seinen Kollegen an. Zu Graf sagt er: „Wir sind | |
auch ganz ordentlich.“ Es klingt höhnisch. | |
Während die Kamera das Schlafzimmer der Mutter filmt, hört man Thekla Graf | |
im Hintergrund rufen: „Können Sie bitte aufhören, mich anzufassen.“ Sehen | |
kann man sie nicht. Thekla Graf sagt, sie sei von zwei Beamtinnen an | |
Brüsten und Po angefasst worden, „nicht einfach durchsucht, sondern richtig | |
angefasst“. Zwei männliche Beamte hätten zugeschaut. Sie habe geschrien und | |
gefleht: „Bitte, bitte, hören Sie auf mich anzufassen, ich wurde | |
vergewaltigt.“ | |
Einige Jahre zuvor sei sie in ihrem damaligen Zuhause missbraucht worden. | |
Auch deshalb sei die neue Wohnung ein wichtiger Schutzraum für sie gewesen, | |
sagt sie heute. | |
Thekla Graf sagt, die beiden Beamtinnen hätten sie ins Bad gebracht. Sie | |
habe sich ausziehen müssen. „Schuhe, Socken, Hose, dann auch T-Shirt.“ Und | |
schließlich den BH. Eine Beamtin habe gesagt, sie könne den BH auch | |
anlassen – wenn sie ihr sage, wo die gesuchte Frau sei, Grafs Cousine. | |
Die Videoaufnahme zeigt mit Unterbrechungen, wie jeder Winkel der | |
ordentlichen Wohnung ruhig von den Beamt:innen durchsucht wird. Finden | |
können sie nichts. Was das Video nicht beweist, sind Theklas Vorwürfe. Was | |
man jedoch sehen kann: Im Verlauf des Videos wird das Badezimmer zweimal | |
gefilmt – beim zweiten Mal liegt ein Berg Kleidung auf der Waschmaschine, | |
der zuvor nicht da war. | |
Sandra Graf, Theklas Mutter, hat ordnerweise Dokumente zu dem Fall | |
gesammelt. Als der junge Hund ihrer Tochter im Café freudig an ihr | |
hochspringt, hält sie reflexartig die Tasche mit den Unterlagen in die | |
Höhe. Erst kürzlich hat Thekla Graf den Hund angeschafft – als schützenden | |
Begleiter. | |
In den Ordnern finden sich nicht nur Briefwechsel mit der Polizei, dem | |
Bürgerbeauftragten und der Polizeivertrauensstelle, sondern auch | |
psychiatrische Gutachten. Thekla Graf habe nach dem Vorfall apathisch | |
gewirkt, sagt ihre Mutter. Sie brachte ihre Tochter in die Psychiatrie. Die | |
Diagnose: eine „posttraumatische Belastungsstörung mit ausgeprägten | |
dissoziativen Phasen nach Reaktivierung traumatischer Vorerfahrungen“. | |
Sandra Graf sagt, ihre Tochter habe sich nach der Vergewaltigung wieder gut | |
gefangen, nach der Hausdurchsuchung sei sie jedoch „nur noch traurig | |
gewesen“. | |
Sandra Graf erzählt auch, die von der Polizei gesuchte Frau – Theklas | |
Cousine – wohne nicht bei ihr, lediglich ihre Post gehe an ihre Adresse. | |
Sie habe Probleme gehabt: Drogen, finanzielle Not, Kriminalität. Irgendwann | |
sei sie obdachlos geworden. Die Familie habe sich dazu entschieden, sie | |
nicht mehr finanziell zu stützen. „Hilfe zur Selbsthilfe nennen das die | |
Beratungsstellen“, sagt Sandra Graf. Eine harte Maßnahme, die ihr auf lange | |
Sicht guttun soll. | |
Mehrfach meldet sie der Polizei, dass die Verwandte nicht bei ihr wohnt. | |
Telefonisch, schriftlich, zuletzt wenige Wochen vor der Hausdurchsuchung, | |
nachdem die Einsatzleitenden schon einmal vor ihrer Haustür standen – ohne | |
Durchsuchungsbeschluss. Sandra Graf zeigt Verbindungsnachweise von | |
Telefonaten mit der Polizeiinspektion, die Notizen zu den Gesprächen. | |
Interne Akten, die der taz vorliegen, stützen ihre Aussage. Daraus geht | |
hervor, dass am 30. Juni 2017 ein Vermerk im polizeilichen | |
Informationssystem gemacht wurde. Auch auf dem in der Datenbank | |
gespeicherten Personalausweis der gesuchten Frau steht: ohne festen | |
Wohnsitz. Die Polizei Weimar müsste gewusst haben, dass sie nicht bei den | |
Grafs wohnte. | |
Beamt:innen, die in der fraglichen Nacht im Einsatz waren, sagten hinterher | |
aus, man habe bei der Einweisung die Information bekommen, dass auf Drogen | |
geachtet werden solle. Den Durchsuchungsbeschluss hätten die | |
Einsatzleitenden nicht gezeigt. Dass laut Beschluss lediglich Thekla Grafs | |
Cousine und ein geklautes Wakeboard, nicht jedoch Drogen oder gar Thekla | |
Graf selbst gesucht wurden, wussten die Bereitschaftpolizist:innen nicht. | |
Eine Beamtin sagte den Akten zufolge, sie sei „geschockt über die durch die | |
Vernehmung gewonnenen Erkenntnisse“ und überzeugt davon, dass der Einsatz | |
und die ergriffenen Maßnahmen rechtswidrig waren. | |
## Der Einsatzleiter | |
Tino M. ist ein unauffälliger Mann. Groß, schlank, brauner Bart. Auf seinem | |
Facebook-Profil zeigt er sich im Polohemd mit seiner Frau und den beiden | |
Kindern und als glücklicher Betreiber eines mobilen Crêpes-Wagens. Und als | |
Rechter und Rassist. | |
Er ist jemand, der offenkundig an dem rechtsextremen Motiv des Attentäters | |
aus Hanau zweifelt und Hetze gegen Geflüchtete verbreitet. Der Fake News | |
und Verschwörungstheorien teilt, Beiträge der AfD und der rechtsextremen | |
Seite PI-News und sich mit „Rechts-Sein“ rühmt. Der ein Video teilt mit dem | |
Titel: „DEUTSCHE WACHT AUF! WIR LEBEN BEREITS JETZT IN EINER DIKTATUR!“ und | |
Beiträge, die vor einer „Asylflut im Schatten von Corona“ warnen. | |
Die internen Ermittlungen bringen ans Licht: Polizeikommissar Tino M., | |
eigentlich mit Eigentumsdelikten betraut, hatte vor der Durchsuchung über | |
Monate hinweg per WhatsApp Kontakt mit einer ebenfalls drogenabhängigen | |
Freundin der gesuchten Cousine. Chatverläufe, die der taz vorliegen, | |
belegen das. Im Austausch für Informationen aus dem Weimarer Drogenmilieu | |
schickte Tino M. dem jungen Mädchen nicht nur polizeiinterne Details über | |
Ermittlungen, sondern auch Fotos aus der Polizeidatenbank. Außerdem | |
schickte er der damals 21-Jährigen nebst anzüglichen Äußerungen auch Fotos | |
von seinen Genitalien. | |
„Meine kleine süße Hanna [Name geändert, Anmerkung der Redaktion]. Du | |
sollst doch keine Drogen nehmen!!!“, schreibt M. „Ich gucke mal wegen fs.“ | |
[Führerschein, Anmerkung der Redaktion], heißt es in den Chats. M. gibt | |
preis, wann seine Kollegen im Einsatz sind, gibt Hanna Tipps, wie sie sich | |
zu begangenen Straftaten verhalten soll. Er schickt Aktenzeichen, Fotos von | |
Datenbanken. Als Hanna fragt, ob er ihr wegen eines Blitzerfotos helfen | |
könne, schreibt M.: „Bei Drogen hätte ich was machen können (…) aber bei | |
Verkehr ist es ein anderer Chef und der ist bescheuert.“ | |
Wenige Tage nach der Hausdurchsuchung bei den Grafs schreibt M. an Hanna: | |
„Die Eltern der Thekla haben sich aber bei der Staatsanwaltschaft und | |
meinem Chef beschwert.“ Und er bekräftigt Thekla Grafs Aussage: „Das mit | |
dem Ausziehen hat die Bepo [Bereitschaftspolizei, Anmerkung der Redaktion] | |
gemacht im verschlossenen Bad.“ | |
Aus Polizeikreisen heißt es, es habe bereits mehrfach Disziplinarverfahren | |
gegen M. gegeben. In der Ausbildung soll er eine Notärztin als „geile | |
Uschi“ bezeichnet haben. Trotz der Verfahren blieb der heute 43-Jährige im | |
Amt. | |
M. selbst war zu den Vorwürfen nicht zu sprechen. Bei einem Kontaktversuch | |
bei ihm zu Hause öffnet seine Frau die Tür und sagt, er sei „jetzt erst | |
einmal eine Weile nicht da“. Die taz hinterlässt eine Telefonnummer. M. | |
meldet sich nicht. | |
Wieso können Beamte wie Tino M. jahrelang bei der Weimarer Polizei tätig | |
sein, ohne dass ihr Fehlverhalten Konsequenzen hat? Was sagt es über die | |
Behörde aus, dass Missstände erst dann auffallen, wenn Bürger:innen wie | |
Sandra Graf Anzeige erstatten? | |
Die internen Akten lassen darauf schließen, dass das „erhebliche | |
Führungsproblem“ durchaus strukturell sein könnte – und die internen | |
Kontrollmechanismen der Behörde versagen. Darauf weist auch ein anderer | |
Fall hin: Fünf Jahre vor der Durchsuchung bei den Grafs wurde schon einmal | |
gegen Beamte der Polizeiinspektion Weimar wegen eines fragwürdigen | |
Einsatzes ermittelt. | |
## Die Polizeiwache | |
Weimar, im April 2012. Auf dem nächtlichen Nachhauseweg werden vier junge | |
Erwachsene von der Polizei aufgegriffen und mit auf die Wache genommen. | |
Warum, wissen sie zu diesem Zeitpunkt nach eigener Aussage nicht. Unter den | |
Festgenommenen ist die damals 22-jährige, in Ungarn geborene Emöke Kovács. | |
Sie wird in eine Einzelzelle gebracht. Um Kovács zu schützen, ist ihr Name | |
geändert. | |
In einem Schreiben ihrer Rechtsanwältin, das der taz vorliegt, heißt es, | |
sie habe sich „bis auf die Unterwäsche ausziehen“ müssen. Beamte hätten | |
„eindeutige Onanie-Bewegungen“ in Richtung von Kovács gemacht, außerdem | |
hätten diese sie mehrfach rassistisch und sexistisch beleidigt. Ein Beamter | |
habe gesagt: „Dir geht es in Deutschland viel zu gut, wir müssen dir wohl | |
mal zeigen, was die in deinem Land mit dir machen würden!“ | |
Emöke Kovács sagt weiter, ein Beamter habe ihr bei dem Versuch, ihr | |
Handschellen anzulegen, mit der Faust ins Gesicht geschlagen. Später habe | |
man ihre Oberarme mit Handschellen fixiert, auf dem Rücken gefesselt, sie | |
durch die Zelle gezerrt und auf sie eingetreten. Ein Beamter habe gesagt: | |
„Ihr werdet euch noch wünschen, nie geboren zu sein, so klein werden wir | |
euch kriegen.“ So steht es in dem Schreiben der Anwältin. | |
Am Morgen danach wird Kovács vernommen. Der Vorwurf: schwerer Eingriff in | |
den Straßenverkehr und Sachbeschädigung. Sie sei hauptverdächtig für eine | |
Tat, die zu diesem Zeitpunkt zwei Monate zurückliegt. | |
Am Folgetag stellen Ärzt:innen eine „längsverlaufende und tiefe 2 cm breite | |
Schürfmarke über ges. Streckenseite“ am linken Unterarm sowie Schürfmarken | |
am rechten Unterarm fest. Fotos der Wunde und das Attest liegen der taz | |
vor. | |
Der Fall wird öffentlich. Die Polizist:innen werden angezeigt, gegen sie | |
werden Ermittlungen aufgenommen. Die Vorwürfe: Körperverletzung im Amt, | |
Beleidigung, Nötigung. Doch die internen Ermittlungen werden eingestellt, | |
keiner der Beamten wird angeklagt. | |
Am 19. November 2012 erhalten stattdessen Emöke Kovács und die anderen | |
Festgenommenen einen Strafbefehl. Der Vorwurf: Widerstand gegen | |
Vollstreckungsbeamte, falsche Verdächtigung, Vortäuschen einer Straftat. | |
Sie legen Einspruch ein. | |
Im Frühjahr 2015 stehen sie vor dem Amtsgericht Weimar. Eine | |
Prozessbeobachtungsgruppe begleitet das Verfahren, darunter Rolf Gössner, | |
Rechtsanwalt und damals Vizepräsident der Internationalen Liga für | |
Menschenrechte. Er sagt, Kovács sei „offenbar zu Unrecht festgenommen, auf | |
das Polizeirevier verbracht und dort über zehn Stunden in Gewahrsam | |
gehalten worden“ – ohne richterliche Anordnung, die laut Thüringer | |
Polizeiaufgabengesetz unverzüglich einzuholen ist. | |
Ein Mann, der dieselbe Nacht in Untersuchungshaft auf der Weimarer Wache | |
verbracht hat wie Kovács, bestätigt laut der Prozessakten, Schreie gehört | |
zu haben. Auch er sei geschlagen und getreten worden. | |
Der Prozess bringt außerdem zutage, dass die Polizeiprotokolle der Nacht | |
fehlerhaft sind: Eigentlich muss die Polizei in einem Haftbuch genau | |
protokollieren, wer wann in welche Zelle kommt. Doch das Gewahrsamsbuch | |
verschwindet vor dem Prozess, stattdessen werden handschriftliche Kopien | |
einer Beamtin vorgelegt. Eine Polizistin sagt aus, sie und ihre Kollegen | |
seien eigens für den Prozess in Einzelgesprächen durch einen Lehrer der | |
Polizeifachschule Meiningen geschult worden. Angeordnet von Polizeichef | |
Kirsten persönlich, sagt die Beamtin. Sie hätten die Aussagen der anderen | |
Kolleg:innen zudem vorab lesen dürfen. So steht es in den Mitschriften der | |
Prozessbeobachtungsgruppe. Anwalt Gössner sagt, eine solche Zeugenschulung | |
sei „skandalös, weil die Gefahr der Zeugenbeeinflussung und -absprache | |
nicht auszuschließen“ sei. | |
Nach fünf Tagen wird der Prozess gegen Kovács und ihre Freunde ohne ein | |
Urteil eingestellt. | |
## Der Bürgermeister | |
In der ehemaligen Schule am Herderplatz hat Bürgermeister Ralf Kirsten sein | |
Büro. Er ist parteilos. Lange war er Polizeichef in Weimar: Von 1998 bis | |
2003 und von 2009 bis 2018. Beide Fälle – die Festnahmen von Kovács und | |
ihren Freunden 2012 und die Durchsuchung von Grafs Wohnung 2017 – fallen in | |
seine Amtszeit. Er stimmt einem Gespräch zu. Er habe nichts zu verbergen, | |
sagt er, lässt aber nicht zu, dass das Gespräch aufgezeichnet wird. Als | |
Grund nennt er Zweifel an der Neutralität der taz. | |
Kirsten betont, dass er selbst es war, der 2012 Anzeige gegen seine | |
Kollegen gestellt hat. Auf die fehlerhafte Führung des Haftbuchs habe er | |
umgehend mit einer Anweisung reagiert. Ansonsten habe er mit dem Fall | |
nichts mehr zu tun gehabt. Von den Vorwürfen, die Beamten hätten ihre | |
Aussagen vor dem Prozess gelesen, wisse er nichts. Die Schulung | |
„Polizeibeamte vor Gericht“ sei ein regulärer Lehrgang. Das Bildungszentrum | |
der Thüringer Polizei in Meiningen bestätigt das. | |
Mit der Durchsuchung bei Thekla Graf im Jahr 2017 sei er nie befasst | |
gewesen, sagt Kirsten – außer, wenn auf dem Tisch irgendwelche Anweisungen | |
lagen, die er unterschrieben habe. Er sei damals auch lange krank gewesen. | |
Die Ermittlungsakten werfen Fragen zu seiner Darstellung auf. Darin finden | |
sich: ein Beschwerdebrief des Thüringer Landesbeauftragten für Datenschutz | |
aufgrund der Speicherung von Adressdaten von Thekla Grafs Cousine – | |
adressiert an Polizeichef Kirsten. Eine von ihm unterschriebene Antwort | |
darauf. Und: ein Vermerk über einen Termin zwischen internen Ermittlern und | |
Ralf Kirsten am 19. 9. 2018 mit anschließendem Beratungsgespräch. | |
Zum Beschuldigten Tino M. will Ralf Kirsten öffentlich nichts sagen. Nur so | |
viel: Auch, wenn er damals Behördenleiter war, so habe er keine Befugnisse | |
für Personalentscheidungen gehabt. Die treffe das Innenministerium. Zu | |
einem „erheblichen internen Führungsproblem“ in der Weimarer | |
Polizeiinspektion, wie es in den Akten der Ermittler aus Erfurt steht, will | |
Kirsten sich nicht äußern. | |
## Die Vertrauensstelle | |
Um Missstände innerhalb der Polizei zu benennen und dagegen vorzugehen, | |
bräuchte es eine Kontrollinstanz außerhalb der Behörde. Am ehesten hat in | |
Thüringen Meike Herz diese Funktion, sie arbeitet in der | |
Polizeivertrauensstelle des Landes. Wer sich über Polizist:innen beschweren | |
will, kann sich an sie wenden. Für Herz ist es keine Überraschung, dass | |
beide Fälle auf die Polizeiinspektion Weimar zurückzuführen sind, es sei | |
eine „traditionell schwierige Dienststelle“, sagt sie. | |
Herz’ Büro liegt außerhalb des Erfurter Zentrums, nur ein bedrucktes | |
A4-Papier an einem Seiteneingang weist auf die Vertrauensstelle hin. | |
Eingerichtet vom Thüringer Innenministerium, soll die Anlaufstelle die | |
„Führungs- und Fehlerkultur innerhalb der Thüringer Polizei“ fördern, wie | |
es offiziell heißt. Meike Herz sagt, sie könne bei Problemen zwischen | |
Bürger:innen und Polizei gut vermitteln. Geht es jedoch um interne | |
Ermittlungen wie im Fall Graf, sagt Herz: „Da verlängere ich nur die | |
Bearbeitungszeit.“ | |
Die Beschwerde von Sandra Graf war ihr erster Fall, als die Stelle 2017 als | |
Prestigeprojekt der rot-rot-grünen Landesregierung öffnete. Herz findet | |
schon die Anordnung der Hausdurchsuchung fragwürdig: „Seit wann bekommt man | |
wegen eines geklauten gebrauchten Wakeboards einen | |
Hausdurchsuchungsbefehl?“ Zudem sei bekannt gewesen, dass es sich bei | |
Thekla Graf nicht um die Verdächtige handelte. Herz fragt: „Hat jemand das | |
Verhältnismäßigkeitsprinzip abgeschafft?“ | |
Meike Herz sagt, sie sei „eindeutig auf Seiten der Polizei“, sie will den | |
Polizeiapparat nicht allgemein kritisieren. Und doch ist sie ernüchtert. In | |
der Polizei finde man Beschwerdestellen meist überflüssig und habe bei der | |
Schaffung der Vertrauensstelle vorgesorgt, sagt Herz: „Ich habe null Komma | |
null Kompetenzen.“ Die Vertrauensstelle darf selbst nicht ermitteln. Herz | |
kann Beschwerden also nur an die Polizei weitergeben – Polizeibeamt:innen | |
ermitteln dann gegen ihre eigenen Kolleg:innen. | |
Die rot-rot-grüne Minderheitsregierung in Thüringen unter Ministerpräsident | |
Bodo Ramelow will das ändern. Künftig geplant: eigenständige | |
Untersuchungsbefugnisse und eventuell sogar eine strukturelle | |
Unabhängigkeit der Polizeivertrauensstelle. Doch bislang fehlt der | |
Koalition für eine solche Änderung die Mehrheit im Landtag. | |
## Die Folgen | |
Seit der Hausdurchsuchung 2017 ist für Thekla und Sandra Graf viel und doch | |
wenig passiert. Viel, weil Sandra Graf Anzeigen gestellt, Gespräche | |
geführt, Beschwerden eingereicht hat. Und wenig, weil kaum etwas davon | |
irgendeine Veränderung bewirkt hat. | |
Thekla Graf, heute 21, ist noch immer in psychiatrischer Behandlung. Vor | |
Polizist:innen habe sie Angst, sagt sie. Sie wünsche sich einfach nur, dass | |
es bald vorbei ist. „Und ich mein Leben ganz normal weiterleben kann.“ Sie | |
will studieren. Aus Weimar ist sie weggezogen. | |
Der heutige Leiter der Polizeiinspektion Weimar ist nicht bereit, zu den | |
Vorwürfen Auskunft zu geben. Auch die internen Ermittler der | |
Landespolizeidirektion wollen zu dem „erheblichen Führungsproblem“ in der | |
Weimarer Polizei auf taz-Anfrage nichts sagen. | |
Anfang des Jahres hat die Staatsanwaltschaft Anklage gegen Tino M. erhoben, | |
Bestechlichkeit in drei und Verletzung des Dienstgeheimnisses in 32 Fällen. | |
Am 28. September soll der Prozess vor dem Amtsgericht Erfurt starten. | |
Die Ermittlungen zur Hausdurchsuchung sind noch nicht abgeschlossen. Viel | |
wird dabei wohl nicht herauskommen. Von der Staatsanwaltschaft heißt es: | |
„Bei drei der vier noch Beschuldigten dürfte es keine Hinweise auf eine | |
Straftat geben.“ Vermutlich muss dann nur Tino M. Konsequenzen befürchten. | |
Wenn nicht am Ende die Ermittlungen gegen ihn fallen gelassen werden. | |
30 May 2020 | |
## AUTOREN | |
Sarah Ulrich | |
## TAGS | |
Lesestück Recherche und Reportage | |
Ermittlungen | |
Polizei | |
Schwerpunkt Polizeigewalt und Rassismus | |
Thüringen | |
Schwerpunkt Polizeigewalt und Rassismus | |
Stalking | |
Polizeigewalt | |
Hitlergruß | |
Polizei Berlin | |
Polizei Berlin | |
Fußball | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Prozess in Weimar: Rechter Kommissar vor Gericht | |
Ein Polizist aus Weimar steht vor Gericht, unter anderem wegen des Verrats | |
von Dienstgeheimnissen. Einsicht zeigt er nicht. | |
Polizeiskandal in Weimar: Staatsanwaltschaft ermittelt | |
Die taz-Recherchen zu Missständen in der Weimarer Polizei haben | |
Konsequenzen. Die Ermittlungen gegen Polizisten übernimmt nun die | |
Staatsanwaltschaft. | |
Polizeiskandal in Weimar: Druck auf Polizeiführung steigt | |
Die taz deckte diverse Vorwürfe gegen Polizeibeamte in Weimar auf, etwa | |
Körperverletzung und Stalking. Nun tagte der Thüringer Innenausschuss dazu. | |
Fehlverhalten Thüringer Beamter: Neue Vorwürfe gegen Polizei Weimar | |
Polizeigewalt, Stalking, falsch registrierte Waffen und ein Polizeichef, | |
der wegschaut – Weimarer Polizist:innen berichten erneut von Missständen. | |
Prozess in Rosenheim am Mittwoch: Der Polizist mit dem Hitlergruß | |
Zwei Beamte sind angeklagt wegen der Verwendung von Kennzeichen | |
verfassungswidriger Organisationen – und vom Dienst suspendiert worden. | |
Gewalt gegen Journalistin: Böse Überraschungen | |
Am 1. Mai schlug ein Polizist der Kamera-Assistentin Lea R. ins Gesicht. | |
Die Folgen für R. sind massiv, sie klagt auf 10.000 Euro Schadenersatz. | |
Tod im Polizeigewahrsam: Lagebedingtes Systemversagen | |
Aristeidis L. erstickt an Händen und Füßen gefesselt, während ihn vier | |
Einsatzkräfte auf dem Bauch fixieren. Kein Einzelfall. | |
Polizeigewalt gegen Fans im Fußball: Ein Schlag ins Gesicht | |
Ein Fan vom Fußballverein Babelsberg 03 wird beim Pokalspiel von Polizisten | |
verletzt. Videos zeigen die Gewalt, die Beamten sehen sie als angemessen. |