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# taz.de -- Vorwürfe gegen die Polizei in Weimar: Wenn Fehler keine Folgen hab…
> Eine fadenscheinige Hausdurchsuchung, mutmaßlich übergriffige
> Beamt:innen, ein rechter Kommissar, der Dickpics verschickt. Wie kann das
> sein?
Bild: Ihre alte Wohnung: Thekla Graf (Name geändert) zeigt, wo 2017 der Polize…
WEIMAR taz | Als Thekla Graf am 14. September 2017 abends nach Hause kommt,
brennt Licht im Flur. Vor der Dachgeschosswohnung in der Weimarer
Innenstadt, in der sie mit ihrer Mutter lebt, warten zwei
Polizeibeamt:innen. Sie haben einen Durchsuchungsbeschluss, auf dem steht:
Verdacht auf Diebstahl und Hehlerei.
Gesucht wird Thekla Grafs Cousine, sie soll ein Wakeboard im Wert von 500
Euro, eine Art Surfbrett, geklaut und im Internet zum Verkauf angeboten
haben.
Thekla Graf ist damals 18. Sie sagt, dass die Cousine nicht bei ihr wohne,
und fordert die Polizist:innen auf zu gehen. Es kommen sechs weitere
Beamt:innen der Bereitschaftspolizei dazu. Graf lässt die Polizist:innen in
ihre Wohnung – und erlebt anderthalb qualvolle Stunden. So schildert sie es
heute.
Graf sagt, sie habe sich ausziehen müssen und sei belästigt worden. Direkt
im Anschluss hat Thekla Grafs Mutter Anzeige erstattet. Ermittelt wird
wegen sexueller Nötigung, Diebstahl, Strafvereitelung im Amt und Verletzung
des Dienstgeheimnisses. Verfahren gegen sechs Polizeibeamt:innen laufen
seitdem, gegen zwei Beamt:innen wurden sie eingestellt.
Thekla Graf und ihre Mutter halten die Durchsuchung an sich schon für
rechtswidrig.
Was ist an jenem Abend in der Wohnung in Weimar passiert? Um den Vorwürfen
nachzugehen, hat die taz interne Ermittlungsakten ausgewertet, mit
Betroffenen gesprochen und ein Polizeivideo des Abends gesichtet. Die
Recherchen zeigen: Das Problem geht weit über den Fall Thekla Graf hinaus.
Der Polizist Tino M., der gemeinsam mit einer Kollegin den Einsatz leitete,
hat wiederholt gegen Vorschriften verstoßen. In den Akten wird auf
gravierende Missstände in der Behörde hingewiesen: Interne Ermittler kommen
zu dem Schluss, dass es ein „erhebliches Führungsproblem“ innerhalb der
Polizei Weimar gibt.
Es ist nicht das erste Mal, dass gegen Beamte aus Weimar ermittelt wird:
Die taz konnte Prozessakten von 2012 sichten, in denen ebenfalls
Misshandlungsvorwürfe gegen Weimarer Polizisten erhoben werden. Das
Verfahren damals: eingestellt. Auch der Polizeivertrauensstelle des Landes
Thüringen ist die Dienststelle als Problemfall bekannt.
Sollte die Weimarer Polizei tatsächlich ein Führungsproblem haben, dann
trifft das auch den heutigen Bürgermeister der Stadt, Ralf Kirsten. Er
leitete die Polizei bis 2018. Beide Fälle gehören in seinen
Verantwortungsbereich.
## Die Durchsuchung
Im Februar, mehr als zwei Jahre nach der Durchsuchung, kommen Thekla Graf
und ihre Mutter in ein Café, um vom September 2017 zu erzählen. Ihre
ehemalige Wohnung ist nur wenige Minuten entfernt. Die Grafs heißen in
Wirklichkeit anders, sie wollen mit ihrem Namen nicht in die
Öffentlichkeit. Thekla Graf fängt an zu weinen, als sie auf die
Hausdurchsuchung zu sprechen kommt. Sie schluckt die Tränen runter.
Das Video, das der taz vorliegt, zeigt die Durchsuchung. Sechs Beamt:innen
der Bereitschaftspolizei in Uniform sowie zwei Beamt:innen in Zivil drängen
sich am Abend in die kleine Wohnung. Thekla Graf ist aufgebracht, zählt die
Beamt:innen. Sie steht im Badezimmer, will in den Flur. Für ein paar
Sekunden versperrt ihr die Einsatzleiterin den Weg, bis sie sie schließlich
durchlässt. Graf weint und schreit, wirkt panisch.
Sie geht in ihr Zimmer, man sieht Fotos von ihr an der Wand, Arm in Arm mit
Freundinnen; auf dem Schreibtisch Schulsachen. Die Kamera schwenkt. Im Flur
grinst Einsatzleiter Tino M. seinen Kollegen an. Zu Graf sagt er: „Wir sind
auch ganz ordentlich.“ Es klingt höhnisch.
Während die Kamera das Schlafzimmer der Mutter filmt, hört man Thekla Graf
im Hintergrund rufen: „Können Sie bitte aufhören, mich anzufassen.“ Sehen
kann man sie nicht. Thekla Graf sagt, sie sei von zwei Beamtinnen an
Brüsten und Po angefasst worden, „nicht einfach durchsucht, sondern richtig
angefasst“. Zwei männliche Beamte hätten zugeschaut. Sie habe geschrien und
gefleht: „Bitte, bitte, hören Sie auf mich anzufassen, ich wurde
vergewaltigt.“
Einige Jahre zuvor sei sie in ihrem damaligen Zuhause missbraucht worden.
Auch deshalb sei die neue Wohnung ein wichtiger Schutzraum für sie gewesen,
sagt sie heute.
Thekla Graf sagt, die beiden Beamtinnen hätten sie ins Bad gebracht. Sie
habe sich ausziehen müssen. „Schuhe, Socken, Hose, dann auch T-Shirt.“ Und
schließlich den BH. Eine Beamtin habe gesagt, sie könne den BH auch
anlassen – wenn sie ihr sage, wo die gesuchte Frau sei, Grafs Cousine.
Die Videoaufnahme zeigt mit Unterbrechungen, wie jeder Winkel der
ordentlichen Wohnung ruhig von den Beamt:innen durchsucht wird. Finden
können sie nichts. Was das Video nicht beweist, sind Theklas Vorwürfe. Was
man jedoch sehen kann: Im Verlauf des Videos wird das Badezimmer zweimal
gefilmt – beim zweiten Mal liegt ein Berg Kleidung auf der Waschmaschine,
der zuvor nicht da war.
Sandra Graf, Theklas Mutter, hat ordnerweise Dokumente zu dem Fall
gesammelt. Als der junge Hund ihrer Tochter im Café freudig an ihr
hochspringt, hält sie reflexartig die Tasche mit den Unterlagen in die
Höhe. Erst kürzlich hat Thekla Graf den Hund angeschafft – als schützenden
Begleiter.
In den Ordnern finden sich nicht nur Briefwechsel mit der Polizei, dem
Bürgerbeauftragten und der Polizeivertrauensstelle, sondern auch
psychiatrische Gutachten. Thekla Graf habe nach dem Vorfall apathisch
gewirkt, sagt ihre Mutter. Sie brachte ihre Tochter in die Psychiatrie. Die
Diagnose: eine „posttraumatische Belastungsstörung mit ausgeprägten
dissoziativen Phasen nach Reaktivierung traumatischer Vorerfahrungen“.
Sandra Graf sagt, ihre Tochter habe sich nach der Vergewaltigung wieder gut
gefangen, nach der Hausdurchsuchung sei sie jedoch „nur noch traurig
gewesen“.
Sandra Graf erzählt auch, die von der Polizei gesuchte Frau – Theklas
Cousine – wohne nicht bei ihr, lediglich ihre Post gehe an ihre Adresse.
Sie habe Probleme gehabt: Drogen, finanzielle Not, Kriminalität. Irgendwann
sei sie obdachlos geworden. Die Familie habe sich dazu entschieden, sie
nicht mehr finanziell zu stützen. „Hilfe zur Selbsthilfe nennen das die
Beratungsstellen“, sagt Sandra Graf. Eine harte Maßnahme, die ihr auf lange
Sicht guttun soll.
Mehrfach meldet sie der Polizei, dass die Verwandte nicht bei ihr wohnt.
Telefonisch, schriftlich, zuletzt wenige Wochen vor der Hausdurchsuchung,
nachdem die Einsatzleitenden schon einmal vor ihrer Haustür standen – ohne
Durchsuchungsbeschluss. Sandra Graf zeigt Verbindungsnachweise von
Telefonaten mit der Polizeiinspektion, die Notizen zu den Gesprächen.
Interne Akten, die der taz vorliegen, stützen ihre Aussage. Daraus geht
hervor, dass am 30. Juni 2017 ein Vermerk im polizeilichen
Informationssystem gemacht wurde. Auch auf dem in der Datenbank
gespeicherten Personalausweis der gesuchten Frau steht: ohne festen
Wohnsitz. Die Polizei Weimar müsste gewusst haben, dass sie nicht bei den
Grafs wohnte.
Beamt:innen, die in der fraglichen Nacht im Einsatz waren, sagten hinterher
aus, man habe bei der Einweisung die Information bekommen, dass auf Drogen
geachtet werden solle. Den Durchsuchungsbeschluss hätten die
Einsatzleitenden nicht gezeigt. Dass laut Beschluss lediglich Thekla Grafs
Cousine und ein geklautes Wakeboard, nicht jedoch Drogen oder gar Thekla
Graf selbst gesucht wurden, wussten die Bereitschaftpolizist:innen nicht.
Eine Beamtin sagte den Akten zufolge, sie sei „geschockt über die durch die
Vernehmung gewonnenen Erkenntnisse“ und überzeugt davon, dass der Einsatz
und die ergriffenen Maßnahmen rechtswidrig waren.
## Der Einsatzleiter
Tino M. ist ein unauffälliger Mann. Groß, schlank, brauner Bart. Auf seinem
Facebook-Profil zeigt er sich im Polohemd mit seiner Frau und den beiden
Kindern und als glücklicher Betreiber eines mobilen Crêpes-Wagens. Und als
Rechter und Rassist.
Er ist jemand, der offenkundig an dem rechtsextremen Motiv des Attentäters
aus Hanau zweifelt und Hetze gegen Geflüchtete verbreitet. Der Fake News
und Verschwörungstheorien teilt, Beiträge der AfD und der rechtsextremen
Seite PI-News und sich mit „Rechts-Sein“ rühmt. Der ein Video teilt mit dem
Titel: „DEUTSCHE WACHT AUF! WIR LEBEN BEREITS JETZT IN EINER DIKTATUR!“ und
Beiträge, die vor einer „Asylflut im Schatten von Corona“ warnen.
Die internen Ermittlungen bringen ans Licht: Polizeikommissar Tino M.,
eigentlich mit Eigentumsdelikten betraut, hatte vor der Durchsuchung über
Monate hinweg per WhatsApp Kontakt mit einer ebenfalls drogenabhängigen
Freundin der gesuchten Cousine. Chatverläufe, die der taz vorliegen,
belegen das. Im Austausch für Informationen aus dem Weimarer Drogenmilieu
schickte Tino M. dem jungen Mädchen nicht nur polizeiinterne Details über
Ermittlungen, sondern auch Fotos aus der Polizeidatenbank. Außerdem
schickte er der damals 21-Jährigen nebst anzüglichen Äußerungen auch Fotos
von seinen Genitalien.
„Meine kleine süße Hanna [Name geändert, Anmerkung der Redaktion]. Du
sollst doch keine Drogen nehmen!!!“, schreibt M. „Ich gucke mal wegen fs.“
[Führerschein, Anmerkung der Redaktion], heißt es in den Chats. M. gibt
preis, wann seine Kollegen im Einsatz sind, gibt Hanna Tipps, wie sie sich
zu begangenen Straftaten verhalten soll. Er schickt Aktenzeichen, Fotos von
Datenbanken. Als Hanna fragt, ob er ihr wegen eines Blitzerfotos helfen
könne, schreibt M.: „Bei Drogen hätte ich was machen können (…) aber bei
Verkehr ist es ein anderer Chef und der ist bescheuert.“
Wenige Tage nach der Hausdurchsuchung bei den Grafs schreibt M. an Hanna:
„Die Eltern der Thekla haben sich aber bei der Staatsanwaltschaft und
meinem Chef beschwert.“ Und er bekräftigt Thekla Grafs Aussage: „Das mit
dem Ausziehen hat die Bepo [Bereitschaftspolizei, Anmerkung der Redaktion]
gemacht im verschlossenen Bad.“
Aus Polizeikreisen heißt es, es habe bereits mehrfach Disziplinarverfahren
gegen M. gegeben. In der Ausbildung soll er eine Notärztin als „geile
Uschi“ bezeichnet haben. Trotz der Verfahren blieb der heute 43-Jährige im
Amt.
M. selbst war zu den Vorwürfen nicht zu sprechen. Bei einem Kontaktversuch
bei ihm zu Hause öffnet seine Frau die Tür und sagt, er sei „jetzt erst
einmal eine Weile nicht da“. Die taz hinterlässt eine Telefonnummer. M.
meldet sich nicht.
Wieso können Beamte wie Tino M. jahrelang bei der Weimarer Polizei tätig
sein, ohne dass ihr Fehlverhalten Konsequenzen hat? Was sagt es über die
Behörde aus, dass Missstände erst dann auffallen, wenn Bürger:innen wie
Sandra Graf Anzeige erstatten?
Die internen Akten lassen darauf schließen, dass das „erhebliche
Führungsproblem“ durchaus strukturell sein könnte – und die internen
Kontrollmechanismen der Behörde versagen. Darauf weist auch ein anderer
Fall hin: Fünf Jahre vor der Durchsuchung bei den Grafs wurde schon einmal
gegen Beamte der Polizeiinspektion Weimar wegen eines fragwürdigen
Einsatzes ermittelt.
## Die Polizeiwache
Weimar, im April 2012. Auf dem nächtlichen Nachhauseweg werden vier junge
Erwachsene von der Polizei aufgegriffen und mit auf die Wache genommen.
Warum, wissen sie zu diesem Zeitpunkt nach eigener Aussage nicht. Unter den
Festgenommenen ist die damals 22-jährige, in Ungarn geborene Emöke Kovács.
Sie wird in eine Einzelzelle gebracht. Um Kovács zu schützen, ist ihr Name
geändert.
In einem Schreiben ihrer Rechtsanwältin, das der taz vorliegt, heißt es,
sie habe sich „bis auf die Unterwäsche ausziehen“ müssen. Beamte hätten
„eindeutige Onanie-Bewegungen“ in Richtung von Kovács gemacht, außerdem
hätten diese sie mehrfach rassistisch und sexistisch beleidigt. Ein Beamter
habe gesagt: „Dir geht es in Deutschland viel zu gut, wir müssen dir wohl
mal zeigen, was die in deinem Land mit dir machen würden!“
Emöke Kovács sagt weiter, ein Beamter habe ihr bei dem Versuch, ihr
Handschellen anzulegen, mit der Faust ins Gesicht geschlagen. Später habe
man ihre Oberarme mit Handschellen fixiert, auf dem Rücken gefesselt, sie
durch die Zelle gezerrt und auf sie eingetreten. Ein Beamter habe gesagt:
„Ihr werdet euch noch wünschen, nie geboren zu sein, so klein werden wir
euch kriegen.“ So steht es in dem Schreiben der Anwältin.
Am Morgen danach wird Kovács vernommen. Der Vorwurf: schwerer Eingriff in
den Straßenverkehr und Sachbeschädigung. Sie sei hauptverdächtig für eine
Tat, die zu diesem Zeitpunkt zwei Monate zurückliegt.
Am Folgetag stellen Ärzt:innen eine „längsverlaufende und tiefe 2 cm breite
Schürfmarke über ges. Streckenseite“ am linken Unterarm sowie Schürfmarken
am rechten Unterarm fest. Fotos der Wunde und das Attest liegen der taz
vor.
Der Fall wird öffentlich. Die Polizist:innen werden angezeigt, gegen sie
werden Ermittlungen aufgenommen. Die Vorwürfe: Körperverletzung im Amt,
Beleidigung, Nötigung. Doch die internen Ermittlungen werden eingestellt,
keiner der Beamten wird angeklagt.
Am 19. November 2012 erhalten stattdessen Emöke Kovács und die anderen
Festgenommenen einen Strafbefehl. Der Vorwurf: Widerstand gegen
Vollstreckungsbeamte, falsche Verdächtigung, Vortäuschen einer Straftat.
Sie legen Einspruch ein.
Im Frühjahr 2015 stehen sie vor dem Amtsgericht Weimar. Eine
Prozessbeobachtungsgruppe begleitet das Verfahren, darunter Rolf Gössner,
Rechtsanwalt und damals Vizepräsident der Internationalen Liga für
Menschenrechte. Er sagt, Kovács sei „offenbar zu Unrecht festgenommen, auf
das Polizeirevier verbracht und dort über zehn Stunden in Gewahrsam
gehalten worden“ – ohne richterliche Anordnung, die laut Thüringer
Polizeiaufgabengesetz unverzüglich einzuholen ist.
Ein Mann, der dieselbe Nacht in Untersuchungshaft auf der Weimarer Wache
verbracht hat wie Kovács, bestätigt laut der Prozessakten, Schreie gehört
zu haben. Auch er sei geschlagen und getreten worden.
Der Prozess bringt außerdem zutage, dass die Polizeiprotokolle der Nacht
fehlerhaft sind: Eigentlich muss die Polizei in einem Haftbuch genau
protokollieren, wer wann in welche Zelle kommt. Doch das Gewahrsamsbuch
verschwindet vor dem Prozess, stattdessen werden handschriftliche Kopien
einer Beamtin vorgelegt. Eine Polizistin sagt aus, sie und ihre Kollegen
seien eigens für den Prozess in Einzelgesprächen durch einen Lehrer der
Polizeifachschule Meiningen geschult worden. Angeordnet von Polizeichef
Kirsten persönlich, sagt die Beamtin. Sie hätten die Aussagen der anderen
Kolleg:innen zudem vorab lesen dürfen. So steht es in den Mitschriften der
Prozessbeobachtungsgruppe. Anwalt Gössner sagt, eine solche Zeugenschulung
sei „skandalös, weil die Gefahr der Zeugenbeeinflussung und -absprache
nicht auszuschließen“ sei.
Nach fünf Tagen wird der Prozess gegen Kovács und ihre Freunde ohne ein
Urteil eingestellt.
## Der Bürgermeister
In der ehemaligen Schule am Herderplatz hat Bürgermeister Ralf Kirsten sein
Büro. Er ist parteilos. Lange war er Polizeichef in Weimar: Von 1998 bis
2003 und von 2009 bis 2018. Beide Fälle – die Festnahmen von Kovács und
ihren Freunden 2012 und die Durchsuchung von Grafs Wohnung 2017 – fallen in
seine Amtszeit. Er stimmt einem Gespräch zu. Er habe nichts zu verbergen,
sagt er, lässt aber nicht zu, dass das Gespräch aufgezeichnet wird. Als
Grund nennt er Zweifel an der Neutralität der taz.
Kirsten betont, dass er selbst es war, der 2012 Anzeige gegen seine
Kollegen gestellt hat. Auf die fehlerhafte Führung des Haftbuchs habe er
umgehend mit einer Anweisung reagiert. Ansonsten habe er mit dem Fall
nichts mehr zu tun gehabt. Von den Vorwürfen, die Beamten hätten ihre
Aussagen vor dem Prozess gelesen, wisse er nichts. Die Schulung
„Polizeibeamte vor Gericht“ sei ein regulärer Lehrgang. Das Bildungszentrum
der Thüringer Polizei in Meiningen bestätigt das.
Mit der Durchsuchung bei Thekla Graf im Jahr 2017 sei er nie befasst
gewesen, sagt Kirsten – außer, wenn auf dem Tisch irgendwelche Anweisungen
lagen, die er unterschrieben habe. Er sei damals auch lange krank gewesen.
Die Ermittlungsakten werfen Fragen zu seiner Darstellung auf. Darin finden
sich: ein Beschwerdebrief des Thüringer Landesbeauftragten für Datenschutz
aufgrund der Speicherung von Adressdaten von Thekla Grafs Cousine –
adressiert an Polizeichef Kirsten. Eine von ihm unterschriebene Antwort
darauf. Und: ein Vermerk über einen Termin zwischen internen Ermittlern und
Ralf Kirsten am 19. 9. 2018 mit anschließendem Beratungsgespräch.
Zum Beschuldigten Tino M. will Ralf Kirsten öffentlich nichts sagen. Nur so
viel: Auch, wenn er damals Behördenleiter war, so habe er keine Befugnisse
für Personalentscheidungen gehabt. Die treffe das Innenministerium. Zu
einem „erheblichen internen Führungsproblem“ in der Weimarer
Polizeiinspektion, wie es in den Akten der Ermittler aus Erfurt steht, will
Kirsten sich nicht äußern.
## Die Vertrauensstelle
Um Missstände innerhalb der Polizei zu benennen und dagegen vorzugehen,
bräuchte es eine Kontrollinstanz außerhalb der Behörde. Am ehesten hat in
Thüringen Meike Herz diese Funktion, sie arbeitet in der
Polizeivertrauensstelle des Landes. Wer sich über Polizist:innen beschweren
will, kann sich an sie wenden. Für Herz ist es keine Überraschung, dass
beide Fälle auf die Polizeiinspektion Weimar zurückzuführen sind, es sei
eine „traditionell schwierige Dienststelle“, sagt sie.
Herz’ Büro liegt außerhalb des Erfurter Zentrums, nur ein bedrucktes
A4-Papier an einem Seiteneingang weist auf die Vertrauensstelle hin.
Eingerichtet vom Thüringer Innenministerium, soll die Anlaufstelle die
„Führungs- und Fehlerkultur innerhalb der Thüringer Polizei“ fördern, wie
es offiziell heißt. Meike Herz sagt, sie könne bei Problemen zwischen
Bürger:innen und Polizei gut vermitteln. Geht es jedoch um interne
Ermittlungen wie im Fall Graf, sagt Herz: „Da verlängere ich nur die
Bearbeitungszeit.“
Die Beschwerde von Sandra Graf war ihr erster Fall, als die Stelle 2017 als
Prestigeprojekt der rot-rot-grünen Landesregierung öffnete. Herz findet
schon die Anordnung der Hausdurchsuchung fragwürdig: „Seit wann bekommt man
wegen eines geklauten gebrauchten Wakeboards einen
Hausdurchsuchungsbefehl?“ Zudem sei bekannt gewesen, dass es sich bei
Thekla Graf nicht um die Verdächtige handelte. Herz fragt: „Hat jemand das
Verhältnismäßigkeitsprinzip abgeschafft?“
Meike Herz sagt, sie sei „eindeutig auf Seiten der Polizei“, sie will den
Polizeiapparat nicht allgemein kritisieren. Und doch ist sie ernüchtert. In
der Polizei finde man Beschwerdestellen meist überflüssig und habe bei der
Schaffung der Vertrauensstelle vorgesorgt, sagt Herz: „Ich habe null Komma
null Kompetenzen.“ Die Vertrauensstelle darf selbst nicht ermitteln. Herz
kann Beschwerden also nur an die Polizei weitergeben – Polizeibeamt:innen
ermitteln dann gegen ihre eigenen Kolleg:innen.
Die rot-rot-grüne Minderheitsregierung in Thüringen unter Ministerpräsident
Bodo Ramelow will das ändern. Künftig geplant: eigenständige
Untersuchungsbefugnisse und eventuell sogar eine strukturelle
Unabhängigkeit der Polizeivertrauensstelle. Doch bislang fehlt der
Koalition für eine solche Änderung die Mehrheit im Landtag.
## Die Folgen
Seit der Hausdurchsuchung 2017 ist für Thekla und Sandra Graf viel und doch
wenig passiert. Viel, weil Sandra Graf Anzeigen gestellt, Gespräche
geführt, Beschwerden eingereicht hat. Und wenig, weil kaum etwas davon
irgendeine Veränderung bewirkt hat.
Thekla Graf, heute 21, ist noch immer in psychiatrischer Behandlung. Vor
Polizist:innen habe sie Angst, sagt sie. Sie wünsche sich einfach nur, dass
es bald vorbei ist. „Und ich mein Leben ganz normal weiterleben kann.“ Sie
will studieren. Aus Weimar ist sie weggezogen.
Der heutige Leiter der Polizeiinspektion Weimar ist nicht bereit, zu den
Vorwürfen Auskunft zu geben. Auch die internen Ermittler der
Landespolizeidirektion wollen zu dem „erheblichen Führungsproblem“ in der
Weimarer Polizei auf taz-Anfrage nichts sagen.
Anfang des Jahres hat die Staatsanwaltschaft Anklage gegen Tino M. erhoben,
Bestechlichkeit in drei und Verletzung des Dienstgeheimnisses in 32 Fällen.
Am 28. September soll der Prozess vor dem Amtsgericht Erfurt starten.
Die Ermittlungen zur Hausdurchsuchung sind noch nicht abgeschlossen. Viel
wird dabei wohl nicht herauskommen. Von der Staatsanwaltschaft heißt es:
„Bei drei der vier noch Beschuldigten dürfte es keine Hinweise auf eine
Straftat geben.“ Vermutlich muss dann nur Tino M. Konsequenzen befürchten.
Wenn nicht am Ende die Ermittlungen gegen ihn fallen gelassen werden.
30 May 2020
## AUTOREN
Sarah Ulrich
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