| # taz.de -- Tod nach Brechmittelgabe: Keine Tafel für Achidi John | |
| > Vor 20 Jahren starb Achidi John in Hamburg, nachdem ihm die Ärzte | |
| > Brechmittel verabreicht hatten. Eine Entschuldigung gab es nie. | |
| Bild: Achidi John ist nicht vergessen: Demonstration gegen rassistische Polizei… | |
| Hamburg taz | Vor zwanzig Jahren, am 12. Dezember 2001, [1][ist Achidi John | |
| auf der Intensivstation der Hamburger Uniklinik gestorben]. John hat Drogen | |
| verkauft und man hatte ihm ein paar Türen weiter, in der Rechtsmedizin, | |
| gewaltsam Brechmittel verabreicht, damit er das mutmaßliche Beweismaterial | |
| erbrach. „20. Jahrestag der Ermordung von Bruder Achidi John“ steht auf dem | |
| Flyer, der zum Protest vor der Uniklinik aufruft. „Wir haben seine Familie | |
| nicht dazu eingeladen“, sagt Daniel Manwire, der Sprecher der | |
| [2][Initiative zum Gedenken an Achidi John]. „Es ist uns zu peinlich. Wir | |
| stehen ja mit leeren Händen da.“ | |
| Was heißt es, mit leeren Händen dazustehen? Die Brechmitteleinsätze sind in | |
| Hamburg Geschichte, seit diesem Jahr sogar die freiwilligen. Nur: Die | |
| erzwungenen hat der Hamburger Senat nicht aus eigenem Willen eingestellt. | |
| Ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte hat ihn 2006 | |
| dazu gezwungen. | |
| „Remember“, sagt Daniel Manwire mit einer Pause zwischen dem „re“ und d… | |
| „member“, das sei es, was sie forderten. Ein Erinnern, das darin bestünde, | |
| diejenigen, die man aus der Stadtgesellschaft ausgeschlossen hat, | |
| aufzunehmen. Tatsächlich gibt es in Hamburg bislang nicht einmal eine | |
| Erinnerungstafel an Achidi John, keine Entschuldigung wie etwa in Bremen | |
| nach dem Tod von Laye-Alama Condé. | |
| Daniel Manwire kann Passagen aus den Protokollen des | |
| Wissenschaftsausschusses auswendig, der am Tag nach dem Tod von Achidi John | |
| mit nur einem Tagesordnungspunkt zusammentrat: „Vorfall im Institut für | |
| Rechtsmedizin“. Ein SPD-Abgeordneter dankt dem Leiter des Instituts für | |
| Rechtsmedizin, [3][Klaus Püschel], für seine „ganze tolle Arbeit“. Ein | |
| CDU-Kollege lässt seine „große Solidarität“ an die Ärztin ausrichten, d… | |
| am Einsatz beteiligt war. Eine Abgeordnete fragt nach, ob man medizinisch | |
| darauf hätte eingehen müssen, dass der Dealer rief „I will die“ – „ich | |
| werde sterben“. „Das ist etwas, das offenbar in der Mentalität dieser | |
| Delinquenten liegt, dass sie so eine Aussage relativ häufig machen“, | |
| antwortet ihr Klaus Püschel. „Es ist wirklich überhaupt nichts Besonderes.�… | |
| Vielleicht ist es der Moment, hier genauer hinzusehen. Es ist der Moment, | |
| in dem der CDU-Abgeordnete Wolfgang Beuß Klaus Püschel noch einmal recht | |
| gibt: Er selber kenne diese Szenen von Dealer-Festnahmen in seinem Viertel. | |
| Und dann äußert sich noch Kriminaldirektor Thomas Menzel, der als Vertreter | |
| der Polizei in den Ausschuss gekommen ist: Im Bericht der Polizei hätten | |
| sich zwei solche Zitate gefunden, aber nicht so wie in der Presse zitiert: | |
| „I will die“, habe Achidi John schon bei der Festnahme gesagt und während | |
| des Brechmitteleinsatzes habe er gesagt: „I want to die.“ | |
| Wer kann heute sagen, welches Zitat stimmt? Niemand. Hier ist ein | |
| Kriminaldirektor, der glaubt, dass die Presse sich eine eigene Wahrheit | |
| schreibt, in der die Zitate der inhaltlichen Stoßrichtung angeschmiegt | |
| werden. Der die Frage der Abgeordneten weltfremd findet, weil sie nichts | |
| von der alltäglichen Polizeiarbeit auf der Straße wisse. Und vielleicht | |
| stimmt das sogar. | |
| „Er sagte,,Ich sterbe' und er hatte recht“, sagt Manwire, der ein | |
| gelassener Mensch ist, aber bei den Zitaten verlässt ihn die Gelassenheit. | |
| Wäre er selbst nicht zu alt und hinge nicht der akademische Stallgeruch an | |
| ihm, würde ihn die Taskforce vermutlich ebenso drangsalieren wie die jungen | |
| Schwarzen Männer auf St. Pauli, um die er sich früher als Sozialarbeiter | |
| gekümmert hat. | |
| ## Die Linke fordert eine Entschuldigung | |
| Knapp 20 Jahre nach der Sitzung des Wissenschaftsausschusses, am 20. | |
| Oktober 2021, trifft sich die Hamburger Bürgerschaft, um über einen Antrag | |
| des Linken-Abgeordneten [4][Deniz Celik] zu debattieren. Der Betreff lautet | |
| „Verantwortung für die menschenrechtswidrigen Brechmitteleinsätze | |
| übernehmen“. Die Linke möchte eine Entschuldigung der Bürgerschaft, eine | |
| Entschädigung für die Betroffenen und einen Ort auf dem UKE-Gelände, um an | |
| „den Tod von Achidi John und die Leiden der anderen Betroffenen“ zu | |
| erinnern. | |
| Zuerst spricht Celik, dann folgt der SPD-Abgeordnete [5][Urs Tabbert]. „Das | |
| jemand in staatlicher Obhut zu Tode kommt, das kann man bedauern und das | |
| kann man hier auch sagen“, erklärt er zu Beginn. Und dann legt er jenen | |
| Teil der Wahrheit dar, den er im Antrag der Linken vermisst. Dass 41 Kugeln | |
| Kokain und Crack aus dem Magen-Darm-Trakt von Achidi John entfernt wurden. | |
| Dass die Exkorporation von Beweismitteln seinerzeit übliche Praxis bei | |
| sogenannten Munddealern gewesen sei. Dass der Bund deutscher | |
| Kriminalbeamter den Vomizideinsatz für unverzichtbar hielt. Dass die | |
| Bürgerschaft bei den Brechmitteleinsätzen nicht zuständig war. Dass für | |
| eine Entschädigung die Justiz zuständig sei und für eine Gedenkstätte das | |
| UKE als Eigentümerin des Geländes. | |
| Vielleicht sollte man hier erneut pausieren und einen Blick auf das Jahr | |
| 2001 werfen. Olaf Scholz war bis zur Wahl im September noch Innensenator in | |
| Hamburg und er war es, der den Brechmitteleinsatz in der Stadt einführte. | |
| Kritische Stimmen sagen, dass er es tat, um sich innenpolitisch als harter | |
| Hund darzustellen – erfolglos, denn im Herbst kamen mit der | |
| [6][rechtspopulistischen Schill-Partei] noch härtere Hunde an die Macht. | |
| Vor ein paar Monaten fragte ein junger Mann Scholz im Fernsehen, ob er es | |
| bereue, die Brechmitteleinsätze eingeführt zu haben: „Ich habe es nicht für | |
| Folter gehalten“, antwortete Scholz. | |
| Hätte man es besser wissen können? In Hamburg hatte die grüne | |
| Wissenschaftssenatorin Krista Sager den Einsatz durchgewunken. Klaus | |
| Püschel stellte ihn im Wissenschaftsausschuss sogar als Erleichterung für | |
| die Betroffenen dar: „Wenn ich 40 derartige Kügelchen im Magen habe, würde | |
| ich brechen wollen und ich würde das jedem hier auch dringend anraten zu | |
| brechen, statt das Risiko ein oder zwei Tage in sich herumzutragen, und | |
| zwar ganz klar aus medizinischen Gründen.“ | |
| Aber es gab auch Gegenstimmen. Die Hamburger Ärztekammer verabschiedete im | |
| Oktober 2001 einen Beschluss, in dem es hieß: „Unter ärztlichen | |
| Gesichtspunkten ist die Vergabe von Brechmitteln gegen den Willen des | |
| Betroffenen nicht zu vertreten.“ Grund dafür seien „die gesundheitlichen | |
| Gefahren“, die die Ärzte in einer „gewaltsamen Verabreichung von | |
| Brechmitteln über eine Nasensonde“ sahen. Der damalige Präsident der | |
| Kammer, Frank Ulrich Montgomery, heute Präsident des Weltärztebundes, | |
| wollte die Resolution sogar noch schärfer formulieren, scheiterte aber am | |
| Widerstand derer, die „harte Mittel“ im Kampf gegen das „Drogenproblem“ | |
| forderten. | |
| In Hamburg – wie auch andernorts – hat sich kaum jemand für diese Bedenken | |
| interessiert. Auch nicht, als sich 20 Anästhesistinnen und Anästhesisten | |
| des UKE, die per Dienstanweisung als Unterstützung für den Notfall anwesend | |
| sein sollten, an die Ärztekammer wandten. Deren Beschluss lautete: Es dürfe | |
| „kein Arzt zu der Beteiligung an derartigen Einsätzen, die allein der | |
| Beweismittelsicherung durch die Strafverfolgungsbehörden dienen, gezwungen | |
| werden“. | |
| Und doch ging es weiter mit den Brechmitteleinsätzen. Der letzte mit | |
| „unmittelbarem Zwang“, so heißt es in der Senatswort auf eine Anfrage der | |
| Linken, fand am 27. 3. 2005 statt. Andere Bundesländer wie Berlin oder | |
| Niedersachsen hatten die Praxis nach dem Tod von Achidi John ausgesetzt. In | |
| Hamburg besuchte der damalige Justizsenator Roger Kusch das UKE, besah sich | |
| die Räume der Rechtsmedizin, besuchte auch den im Koma liegenden Achidi | |
| John und entschied, „den gewaltsamen Brechmitteleinsatz nur in Anwesenheit | |
| eines Narkosearztes zu machen. Unter den Voraussetzungen ist es für mich | |
| noch selbstverständlicher als es ohnehin war.“ | |
| ## Kein Ruhmesblatt für den Senat | |
| Welcher Unterschied liegt dazwischen, Unrecht zu begehen, ohne es zu | |
| merken, oder es zu begehen und immerhin ein Unbehagen dabei zu haben? | |
| [7][Peter Zamory], grüner Abgeordneter in der Hamburger Bürgerschaft und | |
| Arzt, hatte ein Unbehagen, und es führt dazu, dass er im Oktober 2021 in | |
| der Bürgerschaft sagt: „Ich habe mich damals in der Debatte gegen den | |
| zwangsweisen Einsatz von Brechmitteln ausgesprochen. Aber als die Maßnahme | |
| implementiert wurde und drogenpolitische Änderungen vom damaligen | |
| Koalitionspartner versprochen wurden, bin ich verstummt und das mache ich | |
| mir bis heute zum Vorwurf.“ Die Geschichte sei „kein Ruhmesblatt für den | |
| damaligen rot-grünen Senat“. Aber auch Zamory will sich Celiks Antrag nicht | |
| anschließen – auch weil die Linke nicht versucht habe, ein überparteiliches | |
| Bündnis zu schmieden. | |
| Hier könnte wieder die Parteienlogik beginnen, das „Meine Leute, deine | |
| Leute“-Prinzip, das dazu geführt hat, so sagen die Nicht-SPD-Leute, dass | |
| die SPD die Brechmitteleinsätze nie aufgearbeitet hat, weil sie damit ihren | |
| großen Mann Olaf Scholz beschädigt hätte. Aber die Debatte unter den | |
| goldenen Leuchtern der Bürgerschaft wird noch einmal grundsätzlich, weil | |
| der CDU-Mann [8][Eckard Graage] bekennt, Schwierigkeiten mit einem | |
| Gedenkort für Achidi John zu haben. „Er ist zu Unrecht zu Tode gekommen“ | |
| sagt Graage, aber John sei auch jemand gewesen, der in Kauf genommen habe, | |
| dass andere geschädigt werden. Ein Gedenkort für einen Dealer könne für | |
| andere problematisch sein, Graage denkt an Eltern von Kindern mit | |
| Drogenproblemen. Nach Graages Rede geht Peter Zamory doch noch einmal ans | |
| Rednerpult. „Das ist eine sonderbare Wendung der Debatte“, sagt er, „auch | |
| Straftäter haben eine Menschenwürde, die geachtet werden muss.“ | |
| ## Ganz unten auf der sozialen Leiter | |
| Von den 530 Straftätern, die in Hamburg Brechmittel erhielten, stammte die | |
| überwältigende Mehrheit aus afrikanischen Ländern. Für Peter Zamory sind | |
| sie schlicht die Verlierer einer Drogenpolitik, die hauptsächlich auf | |
| Repression und Prohibition setze: „Man wollte an ihnen ein Exempel | |
| statuieren, um abzuschrecken.“ Der Hamburger Kriminologe Sebastian Scheerer | |
| spricht vom „Mythos eines schwarzafrikanischen Drogenmonopols“, der in der | |
| Schill-Ära entstanden sei: Die Schwarzen Dealer stünden ganz unten auf der | |
| sozialen Leiter und deshalb an den exponiertesten Stellen, was die | |
| geschütztere weiße Szene in den Hintergrund rücken ließe. | |
| Daniel Manwire erzählt, dass Achidi John drei Minuten leblos auf dem Boden | |
| lag, bis man versuchte, ihn zu reanimieren. Die behandelnde Ärztin habe | |
| gedacht, er simuliere, bis eine Medizinstudentin sagte: „Er bewegt sich | |
| nicht mehr.“ „Do Black lives really matter?“, sagt Manwire und es ist | |
| keine Frage. Und es ist nicht überraschend, dass die Studentin irritiert | |
| war und nicht diejenigen, für die das, was der Europäische Gerichtshof für | |
| Menschenrechte für Folter hält, Teil ihrer Arbeitsbeschreibung war. | |
| ## Proteste gegen Püschel-Lesung | |
| Was bewegt sich, was bewegt sich nicht? Damals, im Wissenschaftsausschuss, | |
| hat ein Abgeordneter gefragt, ob man nicht statt der Brechmittel eine | |
| Drogentoilette nutzen könne, mit der die Drogen auf natürliche Weise zum | |
| Vorschein kämen. Justizsenator Kusch, der inzwischen sein Glück [9][in der | |
| organisierten Sterbehilfe] gefunden hat, entgegnete, dass die | |
| Brechmitteleinsätze die Menschenwürde möglicherweise besser schützten. | |
| Inzwischen sind die Drogentoiletten gängige Praxis. | |
| „Die breite Bevölkerung hat die Brechmitteleinsätze vor 20 Jahren wie heute | |
| kaum interessiert“, sagt Peter Zamory. Kürzlich gab es Proteste vor dem | |
| freien Theater Kampnagel [10][gegen eine Lesung von Klaus Püschel]. Zwei | |
| Dutzend Leute waren da, mit einem Plakat „Remember Achidi John“. Kurz zuvor | |
| hat das Hamburger Abendblatt den Rechtsmediziner zum Hanseaten des Jahres | |
| gekürt. | |
| Aber für Daniel Manwire ist nichts damit gewonnen, einzelne | |
| herauszugreifen. Es wäre etwas gewonnen, wenn die jungen Schwarzen eine | |
| Arbeitserlaubnis und damit eine Arbeitsmöglichkeit jenseits des | |
| Drogenverkaufs hätten. Es wäre etwas gewonnen, wenn er nicht mehr aus | |
| seinem Fenster auf St. Pauli guckte und sähe, wie sie vor der Polizei auf | |
| die Straße davonlaufen müssen. | |
| 12 Dec 2021 | |
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| [8] https://www.eckard-graage.de/ | |
| [9] https://www.sterbehilfe.de/ | |
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| Friederike Gräff | |
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