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# taz.de -- Polizeistrategie in Hamburg: Sie wollen nur reden
> Auf St. Pauli sind linke Anwohner:innen sauer auf die Polizei, die
> Schwarze Drogendealer jagt. Nun versuchen die Behörden, Vertrauen zu
> gewinnen.
Bild: Steht für die Hamburger Polizei nicht zur Diskussion: Racial Profiling
Hamburg taz | Es ist schon lange eine alltägliche Szene an der
Balduintreppe in Hamburg-St. Pauli, die zwischen den berühmten
Hafenstraßenhäusern zum Fischmarkt herunterführt: Am Geländer stehen am
späten Nachmittag junge Männer, [1][um Drogen zu verkaufen]. Cannabis, aber
auch Kokain bekommt man, kurzer Blickkontakt und Nicken reichen, ringsum
sind kleine Gebüsche, in denen die Dealer kurz verschwinden können. Nicht
nur am Wochenende gibt es genug Kund:innen, von der Partymeile Reeperbahn
ist es nicht weit.
Jahrelang tobte direkt hier der Häuserkampf, immer wieder versuchte der
Senat die Anfang der 1980er Jahre besetzten Häuser an der Sankt Pauli
Hafenstraße von der Polizei räumen zu lassen, um sie abzureißen und ein für
allemal Schluss zu machen mit dem „rechtsfreien Raum“ und den
Straßenschlachten. Heute haben die Anwohner:innen Nutzungsverträge und
kämpfen nicht mehr gegen Räumungen, sondern gegen die Gentrifizierung
ringsum. Und auf der Treppe kann man im Sommer zwischen den bunten
Graffitiwänden und unter Baumwipfeln ganz gemütlich sitzen und auf den
Hafen blicken.
Wenn denn nicht gerade doch wieder ein Polizeieinsatz die Ruhe stört. Denn
seitdem die Polizei vor sechs Jahren eine „[2][Taskforce
Betäubungsmittelkriminalitä]t“ eingerichtet hat, „zur Intensivierung der
Maßnahmen zur Bekämpfung der öffentlich wahrnehmbaren Drogenkriminalität“,
gibt es im Süden St. Paulis mit seiner alteingesessenen linken Szene und
seinem sozialen Gedächtnis voller Auseinandersetzungen mit der Polizei
einen offenen Konflikt zwischen Ordnungsmacht, Anwohner:innen und
antirassistischen Aktivist:innen.
Nicht nur an der Balduintreppe wurde die Polizeipräsenz massiv erhöht.
Vier-, fünfmal in der Stunde laufe heute eine mehrköpfige Polizeistreife in
gelben Westen an seiner Tür vorbei, schimpft einer der Aktivist:innen
im anarchistischen Buchladen Incito zwischen Reeperbahn und Balduintreppe.
„Und überall Zivibullen! Ich bin echt auf Zinne!“ Seit 21 Jahren ist das
Gebiet eine polizeirechtliche Sonderzone, ein „gefährlicher Ort“, an dem
Polizist:innen jede:n ohne Vorliegen einer Gefahr, also
verdachtsunabhängig kontrollieren können.
## Permanente Kontrollen junger Männer mit dunkler Hautfarbe
Früher sei die Polizei auch regelmäßig gegen die Dealer vorgegangen,
erzählt ein Anwohner im Café des Golden Pudel Clubs unweit der
Balduintreppe, direkt am Kunstprojektpark Park Fiction, über dem an
Sommerabenden immer Grasgeruch liegt. Aber größere Konflikte habe es selten
gegeben, und Absprachen mit den Dealern funktionierten bis heute: keine
Deals vormittags und vor der Schule direkt gegenüber der Balduintreppe zum
Beispiel.
Für viele hier ist die Anwesenheit der Dealer zwar durchaus ein Problem und
unangenehm, aber das kleinere Übel, erzählt ein anderer Anwohner, der
direkt neben der Balduintreppe und jenem Garten eines linken Hausprojekts
wohnt, den die Polizei immer wieder im Zuge ihrer Schwerpunkteinsätze
durchsucht. Viel bedrohlicher seien für die meisten die massive
Polizeipräsenz und die permanenten Kontrollen junger Männer mit dunkler
Hautfarbe.
Man könne sich als Schwarze Person dort gar nicht aufhalten, ohne von der
Polizei kontrolliert zu werden, sagt ein Sprecher der Initiative
Balduintreppe am Telefon zur taz. Seit dem Tod von Jaja Diabi 2016 setzt
sich die Initiative mit den Polizeikontrollen im Stadtteil auseinander. Der
21-jährige Diabi erhängte sich in seiner Zelle, nachdem er wegen
Fluchtgefahr einen Monat lang eingesperrt worden war, obwohl er mit nur
gerade mal 1,65 Gramm Marihuana auf St. Pauli festgenommen worden war.
Die Polizei verteidigt sich, man kontrolliere nicht allein aufgrund der
Hautfarbe. Immer gebe es einen Bezug zur Gefahr, also zur
Drogenkriminalität. „Szenetypisches Verhalten“ heißt das im Polizeideutsc…
Aber Rassismus zeige sich auf mehreren Ebenen, so erklärt es der
Sozialarbeiter Daniel Manwire, der sich seit Jahren [3][mit dem Thema
Rassismus und Racial Profiling auseinandersetzt] und Vorträge zum Thema
hält, der taz am Telefon. Entscheidend sei, dass es um die Bekämpfung einer
„öffentlich wahrnehmbaren“ Drogenkriminalität gehe. „Die öffentliche
Wahrnehmung von Drogenkriminalität ist in den vergangenen Jahrzehnten immer
an das Klischee des schwarzen Dealers gebunden gewesen und tief rassistisch
aufgeladen.“
Die gesamte Konstruktion des Problems und die Einrichtung von Gefahrenort
und Task Force sei damit rassistisch. „Dann hat man diese öffentliche
Inszenierung: Wer hat Angst vorm schwarzen Mann? Dann kommt die Polizei:
Ja, was ist denn das? Mit jeder Kontrolle reinszeniere ich so eine
rassistische Aufführung.“
Zwei Jahre nach Einführung der Task Force zog die Polizei 2018 Bilanz und
war überzeugt von einer „breiten gesellschaftlichen Akzeptanz“ der
Maßnahmen im Viertel. Im selben Jahr stockte sie die Task Force noch einmal
personell auf – und Aktivist:innen reagieren seitdem auch mit Copwatch:
begleiten, dokumentieren und stören die Kontrollen. Nicht selten
[4][eskaliert da die Situation].
Seitdem scheint auch die Polizei zunehmend an der Akzeptanz der Maßnahmen
zu zweifeln. 2021 beauftragte die von der Bürgerschaft nach dem eskalierten
G20-Gipfel eingerichtete [5][Forschungsstelle für strategische
Polizeiforschung] (Fospol) der Hamburger Polizeiakademie eine Studie „zur
Bearbeitung des örtlichen Drogenproblems“.
Durchgeführt hat die im Dezember veröffentlichte
„Multi-Stakeholder-Konfliktanalyse im Stadtraum ‚Balduintreppe‘ “ die
Sozialanthropologin [6][Nadja Maurer]. Für sie ist es eine Studie über
verhärtete Fronten, Meinungen und Stadtpunkte in einem Konflikt, in dem gar
nicht geklärt sei, worum es ginge: Drogenhandel? Oder Rassismus und
Polizeigewalt?
Maurer hat Feldforschung betrieben und Interviews mit Polizist:innen,
Anwohner:innen, Aktivist:innen und einem Drogenhändler geführt. Das
Problem, so die Studie, seien vor allem „gegenseitige Schuldzuweisungen bei
gleichzeitigem Ignorieren der jeweiligen Eigenanteile“. Die Lösung:
Vorurteile abbauen über „eine strukturierte und begleitete Verständigung“.
Mit „herkömmlichen polizeilichen Mitteln“ sei der Konflikt „nicht
bearbeitbar“.
Im Stadtteil sorgt die Studie für Unruhe. Rassismus und Racial Profiling
würden von vornherein ausgeklammert, kritisiert Chris, einer der
Aktivist:innen. Tatsächlich steht im Forschungsbericht zu „strukurellem
Rassismus in der Polizei“ nur ein Absatz. Das „inzwischen inflationär
gewordene Vorwerfen ‚rassistischer Polizeigewalt‘ seitens der Bevölkerung�…
sei ebenso wenig erhellend „wie der gebetsmühlenartig wiederholte Verweise
auf ‚Einzelfälle‘ seitens der Polizei“, steht da. Und dass
Rassismusvorwürfe nichts über die Anzahl rassistisch motivierter Handlungen
aussagten, „wohl aber darüber, dass das Thema präsenter, medialer und in
der gesellschaftlichen Mitte angekommen ist“.
Wenn das Problem nicht erkannt werde, findet Chris, könne man es aber nicht
angehen. Statt zu einer politischen Lösung beizutragen, begründe die Studie
eine neue Praxis des „Polizierens des Stadtteils“, die sich auf das Konzept
des Community Policings stütze. Das setzt auf Kooperation zwischen Polizei
und Bürger:innen und soll die Legitimität polizeilichen Handelns durch
Partizipation stärken. Für die Aktivist:innen ist das nur ein weiterer
Schritt in der Verpolizeilichung des Konflikts. Die Polizei versuche
Vertrauen zu gewinnen, auch um an Informationen zu kommen, die, so die
Sorge der Aktivist:innen, nicht zuletzt den Verfassungsschutz
interessieren.
## Nächster Schritt: Die Polizei, dein Freund und Helfer
Umstritten ist auch der nächste Schritt, der an die Studie anschließen
soll: das „Pilotprojekt St. Pauli: Partnerschaft zwischen Polizei und
Quartier“. In einem über mehrere Monate laufenden Workshop-Format will
Maurer ab April „Polizist:innen und Anwohner:innen“ zusammenbringen:
„Von den Bewohner:innen lernen Polizist:innen ‚in Zivil‘ das
Quartier und dessen Bedürfnisse kennen.“ Und, auf der anderen Seite:
„Anwohnende begegnen der Polizei in nichtkonfliktiven Situationen.
Vorurteile und Misstrauen sollen abgebaut und Themen des Quartiers
gemeinsam bearbeitet werden.“
Als „Mission“ nennt das Projekt den „Aufbau gesunder und verbindlicher
Beziehungen, um Vertrauen und Toleranz zu steigern und das Niveau der
Ablehnung gegen die Polizei zu reduzieren“. Nicht nur die Polizei soll
dabei lernen, Anwohnende sollen „sensibilisiert werden“, eine „Ownership
für Konflikte“ übernehmen und „Verantwortung für eine gelingende
Nachbarschaft“.
Beim [7][Verein Gemeinwesenarbeit St. Pauli (GWA)], der nicht weit von der
Balduintreppe am Hein-Köllisch-Platz das Stadtteilzentrum Kölibri betreibt,
will man sich zumindest in dieser Form nicht am Pilotprojekt beteiligen.
„Wir finden es natürlich positiv, dass dieses Thema von politischer Seite
ernst genommen wird und es scheinbar Handlungsbedarf gibt“, sagt Steffen
Jörg, bei der GWA zuständig für Stadtteilarbeit.
Aber das Pilotprojekt sei ein Schritt in die falsche Richtung. „Wir
erkennen in dem Projekt nicht, dass es grundlegend darum gehen kann, wie
die Situation im Stadtteil aussieht, wie die Konstruktion der
Drogen-Task-Force ist und welche Probleme es mit strukturellem Rassismus
in Institutionen gibt.“
Räume für den umstrittenen Workshop hat Maurer gefunden. Der Weg dahin war
nicht leicht. Ein Plakat im Fenster des anarchistischen Buchladens Incito
fordert dazu auf, „sich weder an diesen polizeilich organisierten Workshops
zu beteiligen noch Räumlichkeiten dafür zur Verfügung zu stellen“.
26 Feb 2022
## LINKS
[1] /Racial-Profiling-bei-der-Polizei/!5202472
[2] /Polizei-Praesenz-auf-St-Pauli/!5284533
[3] /Debatte-ueber-antirassistisches-Klopapier/!5815313
[4] /Eskalation-in-der-Hamburger-Hafenstrasse/!5345380
[5] https://akademie-der-polizei.hamburg.de/fospol
[6] https://www.his-online.de/personen/personen-detail/person/nadja-maurer/
[7] https://gwa-stpauli.de/info
## AUTOREN
Robert Matthies
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