| # taz.de -- Gentrifizierung in Hamburg: Nach 20 Jahren gekündigt | |
| > Vier Gewerbetreibende müssen ihre Geschäfte in St. Georg räumen. Für | |
| > Goldschmied Mohammed Shafaad geht dadurch ein Stück Zuhause verloren. | |
| Bild: Schwerer Abschied: Zwanzig Jahre lang hat Mohammed Shafaad seinen Laden i… | |
| Hamburg taz | Es ist eines der letzten Zeichen des Widerstands gegen eine | |
| Räumung von [1][vier Läden im Hamburger Stadtteil St. Georg]: In der | |
| prallen Sonne verharren an einem Donnerstag im Juni mehrere Menschen mit | |
| Plakaten mit den Worten „Wir werden rausgeschmissen! Gewerbetriebende | |
| gekündigt. Uns reicht’s!“ und „Mieter*innen sind keine Goldesel“. Vier | |
| inhabergeführte Geschäfte in der Danziger Straße müssen schließen: eine | |
| Änderungsschneiderei, ein Goldschmied, ein Fotofachgeschäft und die Contact | |
| Bar. | |
| Allesamt sind sie Urgesteine des Viertels. Ende 2021 wurden ihre | |
| Mietverträge gekündigt. Die Contact Bar musste in der vergangenen Woche das | |
| Geschäft räumen, bis Ende September müssen alle anderen Gewerbetreibenden | |
| raus. Der Grund ist ein Besitzerwechsel – die Mietwohnungen werden in | |
| Eigentumswohnungen umgewandelt. | |
| Eines der vier Geschäfte führt der Goldschmied Mohammed Shafaad seit | |
| zwanzig Jahren. Der 64-Jährige ist 1994 aus dem [2][Iran] nach Deutschland | |
| gekommen. Nach seiner Ankunft in Hamburg hatte er Schwierigkeiten, seine | |
| Ausbildung anerkennen zu lassen. Er beschloss, sich selbstständig zu | |
| machen. | |
| Auf der Suche nach einem passenden Ort für sein Geschäft traf er ein | |
| älteres Ehepaar, das den Laden in der Danziger Straße verkaufen wollte. Der | |
| Raum, der ihm zur Verfügung stand, war für seine Werkstatt zu groß – aber | |
| er fand eine Lösung: Er baute den hinteren Raum zu einer Werkstatt um und | |
| nutzte den Verkaufsraum mit den breiten Fenstern als An- und Verkaufsladen. | |
| ## Die Kündigung kam per Post, ohne Vorwarnung | |
| Seitdem ist sein Laden ein kleines, buntes Universum, in dem man alles | |
| finden kann – von Schmuck und Dekoartikeln über alte Lampen bis hin zu | |
| kleineren Elektrogeräten. | |
| Hinter dem Tresen, an dem er sonst seine Kunden bedient, steht Shafaad und | |
| erzählt von dem Moment, als er per Brief von der Kündigung erfahren hat. | |
| Ihn schmerzt es, das Viertel verlassen zu müssen. „Zwanzig Jahre sind keine | |
| kurze Zeit. Im Viertel kenne ich alle und alle kennen mich.“ Der Laden ist | |
| nicht nur seine Existenz – er ist sein Zuhause. Seine Familie ist in | |
| Teheran, keiner seiner Verwandten lebt in Deutschland. Aber hier in St. | |
| Georg hat er sich ein Netzwerk aufgebaut. | |
| Shafaad hat vor allem das Gefühl überwältigt, mit der Situation allein zu | |
| sein. Als ihn der [3][Einwohnerverein St. Georg] kontaktiert, ist er | |
| dankbar, dass er sich auf ihre Unterstützung verlassen kann. Er nimmt an | |
| den Veranstaltungen teil und macht sich gemeinsam mit den anderen | |
| gewerbetreibenden für den Erhalt seines Ladens stark. | |
| Am 9. Juni versuchen sie zusammen mit dem Einwohnerverein, die Eigentümerin | |
| zu kontaktieren. Sie verfassen gemeinsam einen Brief und sammeln | |
| Unterschriften in der Hoffnung, einen Gesprächstermin vereinbaren zu können | |
| – vergebens. Dennoch lässt die Gruppe nicht nach. Der Verein will durch die | |
| Aktionen auch Aufmerksamkeit für die Situation in St. Georg erzeugen, sagt | |
| Joscha Metzger, der zweite Vorsitzende des Einwohnervereins St. Georg. | |
| ## Wunsch nach persönlicher Begegnung | |
| Am schlimmsten empfindet Shafaad, dass er die Kündigung per Brief bekommen | |
| hat – ohne Vorwarnung und ohne Grund. Jahrelang habe er einen guten Kontakt | |
| zum vorherigen Eigentümer gepflegt. „Jetzt werden wir einfach so | |
| rausgeschmissen“, sagt Shafaad. | |
| Er wünscht sich eine persönliche Begegnung – die Chance, im Dialog mit der | |
| Eigentümerin seine Interessen zu vertreten. Schließlich ist sein Laden ein | |
| Teil der Geschichte des Gebäudes. Doch die Eigentümerin meldet sich nicht | |
| bei ihm. Im Gespräch mit der taz will sie sich nicht zu den Kündigungen | |
| äußern. | |
| Für einen neuen Anfang in einem anderem Viertel fehlt Shafaad die Kraft. | |
| Aber seine Beschäftigung aufzugeben, sei auch keine Option, sagt er. „Ich | |
| will weiter arbeiten. Was soll ich sonst machen – nach Hause gehen und | |
| fernsehen?“ Als er durch den Raum blickt, wird seine Traurigkeit spürbar. | |
| Und doch bemüht er sich, zu lächeln. „Ich bin stark. Ich gebe nicht auf.“ | |
| 9 Jul 2022 | |
| ## LINKS | |
| [1] https://ev-stgeorg.de/wp-content/uploads/2022/07/LD_362_online.pdf | |
| [2] /Prozess-gegen-Deutsch-Iraner-in-Teheran/!5862893 | |
| [3] https://ev-stgeorg.de/wohnungspolitik/protestaktion-des-ev-wg-kuendigungen-… | |
| ## AUTOREN | |
| Valeria Bajaña Bilbao | |
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