| # taz.de -- Wohnen im Wahlkampf: Die neue soziale Frage | |
| > Die Wohnungsfrage ist so alt wie der Kapitalismus. Aktuell kämpfen | |
| > Mieter:innen darum, das Wohnen dem Markt zu entziehen. | |
| Mit dem Wahlwochenende steht in Berlin die Entscheidung an: Sollen die | |
| Bestände der großen Immobilienunternehmen vergesellschaftet werden? | |
| Im Vorfeld des [1][Volksentscheids] sprachen sich mehr als 350.000 | |
| Berliner*innen dafür aus, die Bestände der großen Immobilienunternehmen | |
| wie Vonovia, Deutsche Wohnen & Co in Gemeineigentum zu überführen. Das | |
| waren mehr Stimmen als jede Partei im Abgeordnetenhaus bei den letzten | |
| Wahlen erhalten hatte, wie Mieterinitiativen feststellten. Gleichzeitig | |
| gehen Zehntausende für bezahlbare Mieten auf die Straße, kämpfen dafür, | |
| ihre Häuser dem privaten Wohnungsmarkt zu entziehen oder protestieren gegen | |
| Zwangsräumungen. Der wesentliche Kern des Protests ist die Infragestellung | |
| des Warencharakters von Wohnraum und die Frage, wie dieser abseits des | |
| Marktes organisiert werden kann. | |
| Die Wohnungsfrage ist dabei kein neues Phänomen, sondern so alt wie der | |
| Kapitalismus selbst. Bereits zu Beginn der kapitalistischen Expansion | |
| konnte die Zuspitzung der sozialen Frage in Form der Wohnungsnot beobachtet | |
| werden. Die Industrialisierung und die Verdichtung von Warenströmen in den | |
| Städten beförderten einen Zuzug von Arbeitskräften. Viele zogen in die | |
| Stadt und in Wohnungen, die oft den Fabrikbesitzern gehörten, die sie zu | |
| einem hohen Preis an ihre Beschäftigten vermieteten. Friedrich Engels | |
| stellt in seiner frühen Schrift über die arbeitende Klasse in England mit | |
| Blick auf die Wohnungsfrage fest, dass Wohnraum im Kapitalismus die Form | |
| einer normalen Ware annimmt, deren Tauschwert in letzter Instanz durch | |
| Angebot und Nachfrage bestimmt wird. Dies führt allerdings dazu, dass der | |
| Tauschwert in Widerspruch zu ihrem Gebrauchswert gerät und eine zunehmende | |
| räumliche und soziale Polarisierung in den Städten entsteht. | |
| Dementsprechend gibt es seit jeher Bestrebungen von Mieter*innen, sich zu | |
| organisieren und Wohnraum den Warencharakter zu entziehen. So kämpften | |
| bereits in der Weimarer Republik [2][Mieter*innen] um den Erhalt ihrer | |
| Wohnungen und gegen Zwangsräumungen. Die ohnehin kargen Löhne und knappen | |
| Haushaltseinkommen wurden oftmals von der Miete aufgefressen, sodass | |
| insbesondere unter den Arbeitern nicht selten die Frage „Miete oder Essen“ | |
| im Raum stand. Die damalige Mieterbewegung beantwortete diese Frage | |
| deutlich: „Erst das Essen, dann die Miete“. | |
| In der Nachkriegszeit bestimmten dann andere wohnungspolitische Fragen die | |
| gesellschaftspolitische Debatte. Der Klassenkompromiss der Bonner Republik, | |
| der das „deutsche Wirtschaftswunder“ ermöglichte, befriedete temporär auch | |
| die soziale Zuspitzung. Durch eine sozialstaatliche Politik der | |
| Wohnungsversorgung, einen stark regulierten Wohnungsmarkt und starke | |
| Gewerkschaften blieben soziale Aspekte des Wohnens weitgehend nachgeordnet, | |
| während Fragen der Stadtplanung in den Vordergrund traten. | |
| So protestierten etwa in den 1960er Jahren Mieter*innen in Westberlin | |
| gegen die geplante Kahlschlagsanierung und den Abriss ihrer Häuser | |
| zugunsten der autogerechten Stadt. In den 1970er Jahren besetzten in vielen | |
| großen Städten Jugendliche leerstehende Häuser, um selbstorganisierten | |
| Wohnraum und Jugendzentren zu schaffen, wobei etwa in Berlin die | |
| leerstehenden Wohnungen der landeseigenen Wohnungsunternehmen im Zentrum | |
| der Auseinandersetzungen standen. Die Thematisierung des Leerstandes und | |
| der Zustand der Wohnungen wurde zum zentralen Thema der | |
| Mieter*innenbewegung in ganz Westdeutschland. | |
| Mit der Aufkündigung des Klassenkompromisses der Nachkriegszeit | |
| verschärften sich zunehmend die sozialen Missstände auf dem Wohnungsmarkt. | |
| Die Aufhebung der Mietpreisbindung in Westberlin im Jahr 1988, die | |
| Abschaffung der Wohnungsgemeinnützigkeit ein Jahr später und die daraus | |
| resultierenden, rasant steigenden Mieten verschärften die soziale | |
| Ungleichheit. Sie führten zur Beschleunigung jenes Prozesses, den Engels im | |
| 19. Jahrhundert bereits als die Verdrängung der Arbeiterklasse aus den | |
| Städten beschrieb und den wir heute als Gentrifizierung kennen. Die soziale | |
| Wohnungsfrage kam zurück in die gesellschaftliche Debatte. | |
| Angeheizt wurde sie durch die Privatisierungen der öffentlichen | |
| Wohnungsbestände ab den 1990er Jahren. Sie führten bundesweit zu einem | |
| Rückgang der kommunalen Wohnungsbestände von etwa 20 Prozent am | |
| Gesamtwohnungsmarkt in den 1980er Jahren auf unter 6 Prozent Mitte der | |
| 2000er Jahre. Dabei stellt der Stadtstaat Berlin ein besonders negatives | |
| Beispiel dar: Allein durch den Verkauf der damals größten landeseigenen | |
| Wohnungsbaugesellschaft GSW im Jahr 2004 wurde der Wohnungsbestand im | |
| Besitz des Landes auf einen Schlag um 65.000 Wohnungen verringert. Die | |
| umfassende Privatisierungsstrategie der Landesregierung und die | |
| Umstrukturierung der Wohnungspolitik ab den 1990er Jahren führte nach | |
| Angaben des Stadtsoziologen Andrej Holm zwischen 1991 und 2008 zu einer | |
| Reduzierung des landeseigenen Berliner Wohnungsbestands um nahezu 50 | |
| Prozent. Auch die Liegenschaftspolitik wurde in dieser Zeit entlang | |
| marktwirtschaftlicher Kriterien ausgerichtet. Das Land Berlin versuchte | |
| seinen chronisch überschuldeten Landeshaushalt dadurch auszugleichen, dass | |
| es sein Tafelsilber höchstbietend verkaufte. | |
| Eine Vielzahl der damals veräußerten Wohnungen befinden sich mittlerweile | |
| im Eigentum der börsennotierten „Deutsche Wohnen“ beziehungsweise in | |
| absehbarer Zeit im Besitz des größten deutschen Immobilienunternehmens | |
| Vonovia. Die sogenannte Finanzialisierung des Wohnungsmarktes, das heißt, | |
| das Eindringen großer börsennotierter Unternehmen in den Wohnungsmarkt, | |
| verschärfte die Situation weiter, da die Renditeerwartungen des | |
| Finanzmarktes eine Strategie der Kostenoptimierung bei gleichzeitigen | |
| Mietsteigerungen erzwingen. Der Rückzug des Landes aus der Wohnungspolitik, | |
| die Deregulierung und Finanzialisierung des Wohnungsmarktes und die | |
| Diversifizierung der Eigentümerstruktur: All dies führte schließlich zu | |
| einem drastischen Anstieg der Miet- und Immobilienpreise, bei dem die | |
| Einkommen nicht mehr Schritt halten konnten. | |
| In der Folge formierte sich Protest, zunächst in den Kiezen, dann gegen | |
| geplante Großbauprojekte und Leuchtturmmodelle wie das Investorenprojekt | |
| Mediaspree in Friedrichshain-Kreuzberg oder Pläne für eine Bebauung des | |
| Tempelhofer Feldes. Es folgten Proteste von Sozialmieter*innen gegen | |
| steigende Mieten und auslaufende Sozialbindungen, von Senior*innen gegen | |
| die Räumung ihrer Freizeittreffs und von Gewerbetreibenden gegen die | |
| Kündigung ihrer Läden. | |
| Die Mieterbewegung hat diese Themen zurück auf den Tisch geholt und auch | |
| einige reale politische Zugeständnisse erwirkt: Mit dem | |
| Mietenvolksentscheid 2016 wurde die Frage nach einer sozialen Mietpolitik | |
| und demokratische Mitbestimmung in den öffentlichen Wohnungsunternehmen neu | |
| verhandelt. Seit einiger Zeit liegen zudem die Forderung nach einer | |
| (Re-)Kommunalisierung von Wohnungsbeständen auf dem Tisch. | |
| Die Forderung nach einer (Rück-)Überführung von Infrastrukturen in die | |
| öffentliche Hand gibt es in anderen Bereichen bereits seit Jahren. | |
| Volksentscheide haben die Rückübertragung der Netzkonzession der | |
| [3][Wasser- und Energieversorgung] in Hamburg und Berlin direkt oder | |
| indirekt erwirkt. Gleichzeitig werden bundesweit neue Stadtwerke und | |
| Stadtwerksverbände gegründet. Was in anderen Bereichen der öffentlichen | |
| Infrastrukturen bereits gang und gäbe ist, ist im Bereich des Wohnens | |
| Neuland: Zwar können bundesweit vereinzelt Neugründungen von | |
| Wohnungsbaugesellschaften beobachtet werden mit dem Ziel, die | |
| Privatisierungsfehler der Vergangenheit auszumerzen, eine breite | |
| (Rück-)Überführung von Wohnungsbeständen in Gemeineigentum ist jedoch | |
| bisher nicht zu beobachten. | |
| Die aktuellen Entwicklungen in Berlin sind daher umso bemerkenswerter. | |
| Während einige Berliner Bezirke das kommunale Vorkaufsrecht aktiv nutzen, | |
| kaufen Hausgemeinschaften ihre Häuser mithilfe einer Stiftung an. Andere, | |
| wie die Mieter*innen der Karl-Marx-Allee, erdenken Modelle wie den | |
| gestreckten Erwerb, bei dem die Mieter*innen mit Krediten der | |
| Investitionsbank Berlin ihre Wohnungen individuell angekauft und dann in | |
| das Eigentum einer öffentlichen Wohnungsbaugesellschaft weitergereicht | |
| haben. Andere setzen kollektive Planungsprozesse um oder stoppen den | |
| Verlauf von Grundstücken zum Höchstpreisverfahren wie etwa am Kreuzberger | |
| Dragoner Areal, einem gemischt genutzten Gewerbeareal mitten in der Stadt. | |
| All diese verschiedenen Strategien haben es sich zum Ziel gemacht, Wohnraum | |
| dem Markt zu entziehen und ihm den Warencharakter zu nehmen. Gleichzeitig | |
| stellt sich die Frage: Wohin mit dem dekommodifizierten Wohnraum? Die | |
| Praxis reicht von Hausgemeinschaften mit basisdemokratischen Modellen der | |
| Selbstverwaltung wie in Syndikatsprojekten über Modellprojekte zwischen | |
| kommunaler Eigentümerschaft und Mietermitbestimmung, Genossenschaftsmodelle | |
| bis hin zur Eigentümerschaft durch die landeseigenen Wohnungsunternehmen. | |
| Jetzt liegt die Forderung nach der Vergesellschaftung großer | |
| Wohnungsunternehmen auf dem (heimischen Küchen-)Tisch beziehungsweise an | |
| der Wahlurne und spitzt die Fragen der vergangenen Jahre deutlich zu: (Wie) | |
| kann Wohnraum dem privaten Markt entzogen werden? Und welche öffentlichen | |
| Besitz- und Verwaltungsformen können die beste Antwort auf die | |
| Wohnungsfrage geben? | |
| 25 Sep 2021 | |
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| ## AUTOREN | |
| Inga Jensen | |
| Felix Syrovatka | |
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