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# taz.de -- Verkehrswende ohne Autos: Überzeugungstäter der Straße
> Andreas Knie ist einer der bekanntesten Mobilitätsforscher im Land. Er
> wirbt für autofreien Verkehr – und zeigt in Berlin, wie es gehen kann.
Es wirkt alltäglich, als Andreas Knie an einem Dienstag im Dezember in der
Kantine des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung (WZB) auf
einer Mobilitäts-App auf seinem Smartphone herumtippt, und doch könnte es
ein entscheidender Schritt hin zu einer nachhaltigen Verkehrswende sein.
Es ist Mittagszeit. Knie sitzt an einer der langen Tischreihen, ganz hinten
an der Wand und sucht nach einem Mietfahrrad in der Nähe des WZB. Seine
grauen Haare wirken etwas zerzaust und stehen in alle Richtungen. Er ist
spät dran. Einige Kolleginnen grüßen freundlich zum Leiter der
Forschungsgruppe „Digitale Mobilität und gesellschaftliche Differenzierung“
herüber und ziehen mit ihren Tabletts mit Essen vorbei. Knie schaut kurz
auf, hebt die Hand zum Gruß und wischt dann weiter auf seiner App herum.
Gleich will er mit dem nächsten frei werdenden Leihfahrrad zu einem Termin
im 2,7 Kilometer entfernten Bezirksamt Friedrichshain-Kreuzberg radeln. Das
WZB begleitet dort einen Modellversuch, der den Autoverkehr in der Stadt
senken und dabei helfen soll, klimafreundlicher zu werden.
Im Berliner Graefekiez – einem gepflegten Altbauviertel in Kreuzberg mit
Cafés und Buchläden an der Ecke – [1][sollen bald Parkplätze von rund 700
bis 800 Autos verschwinden]. Knie und dem WZB schwebt vor, dass sich das
Viertel zwischen Volkspark Hasenheide und Landwehrkanal dadurch in ein
Areal so wie die sogenannten Superblocks in Barcelona verwandeln könnte.
## Testphase eins für die Parkflächen in Berlin-Kreuzberg
Wo einst Autos parkten, sind dort, in der spanischen Großstadt, längst
idyllische Grünflächen mit Sitzgelegenheiten für AnwohnerInnen entstanden.
Ähnliche Versuche gibt es in der belgischen Hafenstadt Gent, in Hamburg
oder auch mit dem so genannten Kiezblock in der nahegelegenen Wrangelstraße
in Berlin-Kreuzberg.
Das WZB und Knie arbeiten an dem klimafreundlichen Modellversuch am
Graefekiez in insgesamt drei Testphasen mit. T1, T2, T3 heißt es in der
Wissenschaft. Gerade stecken sie noch ganz am Anfang: Testphase eins. Aber
Knie, 62 Jahre alt, hat bereits sein halbes Leben damit verbracht, zu
erforschen, wie der Verkehr der Zukunft aussehen soll.
Er gilt als einer der bekanntesten Mobilitätsforscher hier im Land. Seit
den späten achtziger Jahren arbeitet er mit Unterbrechung am renommierten
WZB, lehrt zusätzlich an der Technischen Universität in Berlin. [2][Knie
rief das erste Carsharing Deutschlands mit ins Leben], war 16 Jahre bei der
Deutschen Bahn AG, erfand dort die Bahnräder für die letzte Meile bis vor
die Haustür, gründete die Agora Verkehrswende mit – einen heute angesehenen
Thinktank, in dem sich Forschende mit Bundesministerien in kleinem Kreis
austauschen. Und die Liste könnte lange so weitergehen.
Knie trägt im Gegensatz zu vielen anderen WissenschaftlerInnen auch mal
kein Jackett und nie Schlips und ist wohl das, was viele in der
Wissenschaftslandschaft als unkonventionell bezeichnen würden. Er ist mit
vielen sozialen Bewegungen eng verknüpft, selbst Mitglied bei Scientists
for Future.
Wenn er in den „Tagesthemen“ oder im ZDF die aktuelle Verkehrspolitik
kommentiert, ist hinter ihm auch mal eine einfache weiße Wand zu sehen und
kein prestigeträchtiges meterhohes Bücherregal. Gefühlt ist Knie einfach
bei allen Terminen und Veranstaltungen dabei, wenn es um das Thema Verkehr
und Klimaschutz geht. Er sagt, seine Forderungen als Verkehrsforscher
hätten sich über die Jahrzehnte dabei eigentlich kaum bis gar nicht
geändert: „Ich will, dass wir endlich mit deutlich weniger Autos
auskommen.“
An seiner Person zeigt sich dabei wie unter einem Brennglas, was beim Thema
Verkehr und Klimaschutz für die Gesellschaft als Ganzes gilt. In nahezu
keinem anderen Feld scheint eine so breite Lücke zu klaffen. Zwischen
einerseits dem, was man in der Forschung seit Jahren darüber weiß und wie
man es ändern könnte, und andererseits dem, was tatsächlich passiert.
Seit den 1990ern ist der CO2-Ausstoß im Verkehr nahezu gleich geblieben.
Der größte Anteil des klimaschädlichsten Treibhausgases, das maßgeblich für
die Erwärmung unseres Planeten verantwortlich ist, entsteht dabei täglich
durch Pkws und Motorräder auf unseren Straßen.
Während in anderen Bereichen, etwa in der Landwirtschaft oder in der
Industrie, längst klimafreundliche Alternativen gefunden und vermehrt
genutzt werden, um die Emissionen zu senken, änderte sich beim Verkehr in
den letzten Jahrzehnten bis heute wenig bis nahezu nichts. Woran aber liegt
das? Was muss sich ändern, damit der Verkehr endlich klimafreundlicher
wird? Und vor allem: Was lief in der Vergangenheit eigentlich falsch?
## Knie macht einen Schritt heraus aus der Rauchwolke
Es ist ein Dezembervormittag in Kreuzberg, unweit von dem Viertel, in dem
bald der neue Modellversuch starten soll. Auf der Kreuzung vor Knie ist ein
großer schwarzer SUV vor einer Ampel zum Halten gekommen. Die Luft ist
klirrend kalt und Knie ist inmitten der weißen Abgaswolke eingehüllt, die
aus dem brummenden Motor dringt. Man kann die Mischung aus Benzin und
Stickoxid in der Luft förmlich riechen. Das klimaschädlichste Abgas aber
nicht – das CO2.
Knie macht einen Schritt aus der Rauchwolke hin in Richtung Böckhstraße. Es
ist eine der Straßen, die von hier aus direkt in den Graefekiez
hineinführen. An verschiedenen Orten sollen in dem Viertel bald kleine
Messtationen aufgestellt werden, um die Luftwerte zu messen.
Damit ließe sich sehen, wie viel sauberer und besser die Luft in der Stadt
mit weniger Autos ist, meint Knie. Gelingt es, dass in dem Viertel bald
weniger Autos parken und fahren, würde für Knie ein lang gefordertes Ziel
erreicht werden. Schon in den späten achtziger Jahren hat der
Verkehrsforscher als junger Wissenschaftler damit begonnen, ein autofreies
Westberlin zu fordern. Damals war die Stadt noch geteilt und die Berliner
Stadtautobahn Avus galt als unangefochtene Rennstrecke, sagt Knie. Er kann
sich bis heute gut an die Widerstände erinnern, die ihm mit Forderungen
wie diesen damals entgegengebracht worden sind.
„Das Auto galt damals noch als viel unumstößlicher als heute“, erinnert er
sich. Selbst sein eigener Vater – ein Autofreund, aber sehr toleranter
Mensch, wie Knie ihn beschreibt – habe ihn damals gefragt: „Mensch Junge,
muss das denn sein?“
Knie dringt auch dort, wo die großen Veränderungen angestoßen werden
könnten, nur schwer durch bis in die Bundespolitik hin zum
Verkehrsministerium. Dort dreht sich viel um das Verkehrsaufkommen auf den
Straßen, um Verkehrssicherheit oder um Lenkung des Verkehrs – [3][den
Ausbau und die Sanierung von Autobahnen]. Klimaschutz als eigenständiges
Thema sei überhaupt erst seit fünf, sechs Jahren ein Thema im
Verkehrsministerium, heißt es – wenn man mit Knie, aber auch anderen
WissenschaftlerInnen darüber spricht.
Es fällt auf, dass nicht alle die Verkehrspolitik der vergangenen Jahre mit
solch scharfen Worten kritisieren wie Knie. Im Kern aber zeichnen sie alle
ein ähnliches Bild. Knie beschreibt es unter anderem so: Für ihn sei in den
1990er Jahren das Verkehrsministerium in erster Linie ein reines
Verkehrsbauministerium gewesen, das einzig und allein auf eine autogerechte
Verkehrsplanung ausgelegt gewesen sei. Überlegungen, wie man über den
Verkehr nachdenken, ihn gar neu organisieren könne, wurden damals nicht
angestellt.
Das WZB berät seit 1996 regelmäßig das Bundesforschungsministerium, wo Knie
auf mehr Offenheit stößt. Er arbeitet dort etwa an einer Studie zu Verkehr
in Ballungsräumen mit. Als Knie das erste Mal Projekte im
Bundesverkehrsministerium vorstellt, ist Wolfgang Tiefensee von der SPD
Bundesverkehrsminister. Er kommt 2005 ins Amt.
Wie stark der alte Geist des Ministeriums aber noch fortwirkt, manifestiert
sich für Knie und andere WissenschaftlerInnen auch am Organigramm des
heutigen Bundesministeriums für Digitales und Verkehr (BMDV). Noch immer
gibt es große Abteilungen, die sich mit dem Straßenverkehr und den
Bundesfernstraßen beschäftigen. 13.000 Kilometer Autobahnen durchziehen
derzeit das Land. Knie sagt, für ihn sei das Ministerium bis heute eine
„Trutzburg“ geblieben, die auf eine autogerechte Planung setzt. Aber lässt
sie sich überdenken? Jetzt, wo sich der Planet immer mehr erwärmt?
## Bundesverkehrsminister muss sich kritischen Fragen stellen
Kurz vor Weihnachten und dem Jahreswechsel 2022/23 steht
Bundesverkehrsminister Volker Wissing (FDP) im Ministerium am Invalidenpark
– wie immer aufrecht, dunkler Anzug, rote Krawatte, das Haar mit akkuraten
Scheitel – vorne in der Mitte eines langgezogenen, grauen Pultes. Eine
kleine Weihnachtskugel ist von dem Tannenbaum hinter ihm heruntergefallen
und liegt einsam auf dem dunkelblauen Teppichboden. Wissing muss sich
rechtfertigen. JournalistInnen von ZDF, dpa, RTL/ntv und FAZ sitzen vor
ihm. Sie fragen an diesem Mittag besonders kritisch nach.
Seit Tagen streiten die Ampelpartner auf offener Bühne. Vor allem
Verkehrsminister Volker Wissing und die Umweltministerin Steffi Lemke von
den Grünen. Es geht um das Planungsbeschleunigungsgesetz für den
Verkehrsbereich, einen Entwurf aus Wissings Haus. Wissing will, dass die
Zeit für Planungs- und Genehmigungsverfahren künftig halbiert wird, damit
Infrastrukturvorhaben schneller umgesetzt werden.
Wissing zählt zu diesen Projekten aber nicht nur den Bau von Schienen und
Ersatz maroder Brücken wie seine Koalitionspartner, die Grünen. „Neben der
Bahn müssen wir uns eben auch dringend Autobahnen und die Brücken
anschauen“, sagt der Minister auch an diesem Vormittag in ruhigem und
sachlichem Ton. Denn geht es nach Wissing, soll in Zukunft auch der Bau von
Autobahnen schneller gehen. Noch am gleichen Abend soll es ein Treffen
zwischen Wissing, Lemke und dem Kanzler Olaf Scholz gegeben haben. Ohne
Einigung.
Für viele ist der wochenlange Streit längst zu einem wirkmächtigen
Symbolbild geronnen – für eine fehlgeleitete Verkehrspolitik. Wissings
Verkehrsministerium begünstigt noch immer die Pkws auf unseren Straßen
stärker als andere Verkehrsmittel.
## Knies „libidinöse Beziehung“ zum Automobil
Knie sagt, das Verkehrsministerium setze die gelebte bundesrepublikanische
Realität der 1950er und 1960er Jahre fort. Er selbst wächst als Teil der
Boomer-Generation in einer Familie auf, in der das Automobil noch etwas
galt. Der Vater, vom Beruf Vertriebler, fuhr erst mit dem Opel Rekord, dann
mit dem Ford, schließlich mit dem eigenen Mercedes durchs westfälische
Siegerland. Selbst das Päckchen Zigaretten vom Automaten holte sich der
Vater lieber mit dem Rekord als zu Fuß. Er war ein regelrechter „Autonarr“,
so beschreibt es Knie heute. Das habe auch ihn geprägt, meint er.
Knie spricht in Interviews gern von einer sogenannten „libidinösen
Beziehung“. Auch für ihn gab es einmal die Liebe zum Automobil, die den
Deutschen als Land, das durch das Auto zum Exportweltmeister wurde, bis
heute besonders gerne nachgesagt wird. Knie kaufte sich bald nach seinem
Führerschein einen Opel Kadett, pinselte liebevoll Rallyestreifen an seine
Längsachsen.
Es ist nur schwer vorstellbar, wenn man den Andreas Knie von heute vor sich
sieht. Der Verkehrsforscher besitzt kein Auto und noch nicht mal mehr ein
eigenes Rad. Alles leiht er sich für seine Wegstrecken bei Bedarf. „On
demand“, wie Knie sagt.
Der Moment, als Knie merkte, er brauche eigentlich kein eigenes Auto mehr,
kam für ihn während seines Studiums. Erst im mittelhessischen Marburg,
später an der Freien Universität in Westberlin beginnt er mit seinen
Kommilitonen Fahrgemeinschaften zu bilden. Zeitgleich schreibt Knie seine
ersten Verkehrsgutachten für die Grünen, damals noch die Alternative Liste.
Nach Vorlesungsende trifft er sich in der Uni mit den anderen um sechs Uhr
vor der Mensa und fährt gemeinsam in das Wohnviertel zurück. Knie
verschrottet schließlich kurz nach der Wende seinen Mercedes/8, für damals
25 D-Mark. Es ist sein letztes Auto.
## Die guten Anfänge in der E-Mobilität wurden nicht genutzt
Wirft man einen Blick auf die Website des Bundesverkehrsministeriums,
werden dort der Masterplan Ladeinfrastruktur II, das autonome Fahren, ein
attraktiverer ÖPNV, das Deutschlandticket und die anstehende Reform der
Deutschen Bahn als Maßnahmen für den Klimaschutz angepriesen. Die
Antriebswende und der Umstieg auf E-Autos scheinen im Verkehrsministerium
dabei besonders großes Gewicht zu genießen. Wissing betont es fast bei
jeder seiner Reden, die er öffentlich hält.
Knie findet, die Bundesregierung habe die guten Anfänge in der
Elektromobilität aber nicht wirklich genutzt. Bereits Anfang der 2000er
Jahre beginnt die Regierung damit, sich ernsthaft mit E-Mobilität
auseinanderzusetzen. Knie erinnert sich gern an diese Zeit zurück, spricht
gar von einer Sternstunde in seiner Wissenschaftslaufbahn als
Verkehrsforscher. „Da kam plötzlich Bewegung ins Verkehrsministerium“, so
beschreibt er es heute.
Die Bundesregierung schien bei dem Schritt allerdings weniger den
Klimaschutz im Auge zu haben als vielmehr den Wirtschaftsstandort
Deutschland, der nicht hinter China zurückfallen soll – so berichten es
WissenschaftlerInnen heute im Rückblick. Dort konzentrierte sich die
Autoproduktion schon seinerzeit mehr und mehr auf E-Autos. 2010 wird
schließlich die GGEMO als einheitliche Anlaufstelle der Bundesregierung für
die Aufgaben im Bereich Elektromobilität gegründet. Die ersten
Schaufensterprojekte starten. Und Knie wird Teil des neu entstandenen
Beratungsgremiums der Bundesregierung, der „Nationalen Plattform
Elektromobilität“.
Aber schon in den Jahren 2014, 2015 laufen die staatlichen Förderungen in
Zusammenhang mit der E-Mobilität wieder aus. Der Industrie fehlt die
Planungssicherheit. Dies gilt bis heute als einer der Hauptgründe, warum
hierzulande noch immer zu wenig Ladesäulen für E-Fahrzeuge stehen.
## Nicht jeder müsse einen eigenen Wagen besitzen
Knie ist überzeugt davon, dass allein der Umstieg auf elektrisch
angetriebene Fahrzeuge das Problem mit dem Klima ohnehin nicht lösen könne.
Später an diesem Vormittag in Kreuzberg fährt er mit seinen Armen durch die
graue, kalte Luft, weist einzelne Flächen auf der gegenüberliegenden
Straßenseite in der Böckhstraße aus. Das Modellprojekt im Berliner
Graefekiez soll zunächst für einen Testzeitraum von sechs bis zwölf Monaten
ausgelegt sein.
Dort könnten dann bald Leihfahrräder und E-Roller stehen, um damit zur
nächstgelegenen U-Bahn- oder Bushaltestelle zu fahren, meint Knie. „Oder
dort“, sagt er und wandert mit seinem Arm ein Stück weiter, könnten Orte
begrünt werden, Sitzgelegenheiten geschaffen und die Straße wieder zu einem
Raum der Begegnung werden.
Knie zeichnet für sich an diesem Morgen die Zukunft der Verkehrswende in
die Luft. Geht es nach ihm, müsste das Auto gar nicht ganz verschwinden.
Auch während des Probelaufs können die Pkws im nahgelegenen Parkhaus am
Neuköllner Hermannplatz für 30 Euro im Monat abgestellt werden. Es sollen
etwa auch Lieferwägen weiter durch die Straßen im Viertel rollen, Menschen
mit Einschränkungen sicher von einem Ort zum nächsten gefahren werden
können.
Dennoch findet der Mobilitätsforscher, dass heute nicht einfach jeder
kostenlos seinen Pkw vor der Haustür parken könne – und dass auch nicht
jeder einen eigenen Wagen besitzen müsse. „Wir werden die Klimaziele nur
einhalten, wenn wir weniger Autos haben und die Menschen auf andere
Verkehrsmittel umsteigen“, sagt er.
## Wissings Verkehrsministerium musste im vergangenen Sommer nachbessern
Noch in der gleichen Woche, an einem Donnerstagabend, steht
Bundesverkehrsminister Volker Wissing am Rednerpult des Deutschen
Bundestages. Vor ihm im Halbrund sitzen dieses Mal die ParlamentarierInnen
auf ihren blauen Stühlen, stecken hier und da die Köpfe zusammen, tippen
auf ihren Smartphones herum oder horchen dem Minister. Es geht in der
Debatte um die Erhöhung der Regionalisierungsmittel für den ÖPNV der
Länder, die noch am selben Abend durchs Parlament gehen.
Im Bundeshaushalt 2023 soll Wissing allerdings 160 Millionen Euro mehr für
Straßen eingestellt haben als noch im Jahr zuvor. Dabei ist der Bau von
Bundesfernstraßen schon damals das größte Stück vom Kuchen. Die
Investitionen in die Schiene sinken im Vergleich zu 2022 dagegen um eine
halbe Milliarde Euro. Reichen die Mittel also für den Klimaschutz?
Mehr noch als jeder andere Verkehrsminister vor ihm muss sich Wissing an
der Einhaltung dieser Ziele messen lassen. Zum einen, weil sich die
Klimakrise immer weiter verschärft. Zum anderen, weil noch unter der
Vorgängerregierung das Klimaschutzgesetz verabschiedet wurde. Dort ist
genau festgelegt, dass bis zum Jahr 2030 der CO2-Ausstoß im Verkehr auf 85
Millionen Tonnen sinken soll. Zum derzeitigen Zeitpunkt fallen bis zum Ende
des Jahrzehnts nach Schätzungen aber noch 261 Millionen Tonnen zu viel an.
Es ist eine gewaltige Menge.
Wissings Ministerium musste im vergangenen Sommer nachbessern. 13 Seiten
reichte das Bundesverkehrsministerium als Sofortprogramm ein. Viele, auch
Knie, werten das als regelrechte „Arbeitsverweigerung“. Selbst der
Klimaexpertenrat spricht von der Zeugnisnote „mangelhaft“, sagt, eine
eingängliche Prüfung sei gar nicht möglich gewesen.
## Das Verhalten der Menschen ist änderbar
Es ist ein Verriss auf offener Bühne, der erahnen lässt, wie viel in
Trümmern liegen muss. Eigentlich müsste jetzt innerhalb von 10 Jahren
aufgeholt werden, was in den letzten 30 Jahren verpasst wurde. Aber ist das
noch zu schaffen? Hinter verschlossenen Türen verhandelt die Regierung seit
Monaten darüber, die jährlichen Sektorziele im Klimaschutzprogramm ganz
abzuschaffen. Die FDP sagt, es gehe nicht darum, „Ziele aufzuweichen,
sondern nur darum, sie dorthin zu verlagern, wo sie schneller eingehalten
werden können“. Ein Sprecher des Bundesverkehrsministeriums sagte der taz,
die regierungsinterne Abstimmung zu den Eckpunkten und den dort zu
beschließenden Maßnahmen dauere noch an.
Dabei ist klar, das kein anderer Sektor so viel CO2-Emissionen einsparen
kann, dass er einen anderen in Zukunft ausgleichen könnte. Fragt man Knie,
woran es am meisten liege, dass sich beim Klimaschutz auch nach all den
Jahren des Stillstands heute so wenig bewege, muss er nicht lange
überlegen. Knie sagt, man höre aus dem Verkehrsministerium immer wieder,
dass man das Verhalten der Menschen im Verkehr nicht einfach ändern könne.
Knie ist nicht der Einzige, der das erzählt.
Dabei sei es doch gerade die Aufgabe von Politik „steuernd einzugreifen“,
um das Verhalten zu beeinflussen, findet Knie. Alles andere käme einer
Bankrotterklärung gleich. Seine Stimme wird lauter, wenn er darüber
spricht, er gestikuliert wild, echauffiert sich. Knie glaubt zudem, dass
Wissing die Gesellschaft mit der Annahme unterschätze, dass die Menschen
nur einfach immer weiter stur Auto fahren wollen.
Nach dem Beginn des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine etwa, ist
Knie sich sicher, wären die Menschen für ein Tempolimit bereit gewesen oder
für autofreie Sonntage. So wie einst während der Ölkrise in den 1970er
Jahren. Knie selbst kickte damals noch als kleiner Junge mit dem Fußball
über die mehrspurige Autobahn.
## Manchmal auch müde, die immer gleichen Forderungen zu wiederholen
Wissing betont auf öffentlichen Auftritten gerne, dass es nur darum gehen
könne, den Menschen „Angebote zu machen“. Aber Verbote? Wie ein Tempolimit?
Wie sehr das dem FDP-geführten Ministerium missfallen könnte, lässt sich
womöglich an Auftritten seines Parteikollegen Wolfgang Kubicki ablesen. Bis
heute beschwört der FDPler in abendlichen Politiktalkshows gerne das
Schreckensbild einer Verbotspartei herauf. Für Kubicki ist das bis heute
noch immer der Koalitionspartner, die Grünen. Knie dagegen findet, es sei
höchste Zeit, das Dienstwagenprivileg, die Pendlerpauschale oder die
Dieselsubventionierung abzuschaffen. Diese Begünstigungen für das Auto
seien falsch und müssten endlich verschwinden.
Es sind Momente wie diese, in denen man merkt, dass selbst Knie, der so
unermüdlich daran glaubt, dass es immer eine Alternative zum Bestehenden,
immer die Möglichkeit der Veränderung gibt, der vor Energie in sich oft
fast förmlich vibriert, manchmal auch müde davon ist, die immer gleichen
Forderungen zu wiederholen.
In der Sendung „13 Fragen“ des ZDF Ende August ist unter den sechs Gästen
mit kontroversen Meinungen – die sich über bunte aufgemalte Felder auf dem
Boden mit Schritten aufeinander zubewegen können, wenn sie einer Aussage
des Gegenübers zustimmen – auch Andreas Knie.
Sie diskutieren über den ÖPNV. Knie steht eigentlich fast in der ersten
Reihe des Feldes, als es an einer Stelle plötzlich aus ihm herausbricht.
„Wir forschen schon seit 45 Jahren daran“, ruft er laut in den Raum, wirft
beide Arme in die Luft.
## Er hat an diesem Freitag im Dezember irgendwie schlechte Laune
In einem Café in Kreuzberg erzählt Knie später, wie er unlängst mit einem
Autofahrer diskutierte, der keinen Millimeter bereit war von seiner
Position abzurücken. Schon in seiner ersten Publikation, Erscheinungsjahr
1994, bezeichnet Knie dagegen das Auto als Klimasünder. Die Anekdote steht
fast paradigmatisch dafür, wie hitzig und hochemotional die Debatten über
den Verkehr – und vor allem das Auto – hierzulande noch immer geführt
werden. Wenn man Knie fragt, warum er trotz all der Widerstände über die
Jahre immer weitermache, antwortet er, dass man als Verkehrswissenschaftler
einfach Überzeugungstäter sein müsse. Er verstehe seinen Beruf als
Wissenschaftler auch als „Berufung“.
Tage später ist Knie beim Bezirksamt Friedrichshain-Kreuzberg, wegen des
Modellversuchs am Graefekiez. Er wirkt an diesem Freitag im Dezember auch
etwas gehetzt, hat irgendwie schlechte Laune. Aber so richtig rausrücken
mit der Sprache will er nicht. In der Lokalzeitung Berliner Morgenpost war
vor wenigen Tagen zu lesen: „Graefekiez ohne Parkplätze – Amt rüstet sich
für Klagen“. AnwohnerInnen haben über 1.000 Unterschriften gesammelt und
einen Antrag gegen den „Bullerbü-Plan“ eingereicht, heißt es. Das wird la…
Bezirk nun von den Zuständigen geprüft.
Eine Studie des WZB im Oktober 2022 ergab, dass die Mehrheit der Menschen
im Viertel für das Projekt sei. [4][Hinter Knie erstrecken sich die Straßen
des Berliner Graefekiezes]. Noch parken die Pkws an diesem Vormittag hier
dicht an dicht. Keine freie Lücke ist derzeit zu sehen.
Neulich, so sagt Knie, habe ihn eine Studentin nach einem seiner Vorträge
an der TU Berlin eine Frage gestellt: Wieso gibt es eigentlich überhaupt so
viele Autos? Er hält dabei ungläubig seine Hände an die Schläfen. „Darauf
muss man erst einmal kommen“, sagt er, „dass Autos eben keine
Selbstverständlichkeit sind.“ Knie scheint in diesem Moment noch immer
beeindruckt davon. Dann muss er plötzlich los, der Deutschlandfunk wolle
ihn zum 49-Euro-Ticket interviewen.
Die Stelle, an der Andreas Knie an diesem Vormittag im Dezember sein rotes
Mietfahrrad abgestellt hat, ist später von keinem parkenden Auto verdeckt.
Nur ein grünfarbener E-Scooter steht daneben.
23 Jan 2023
## LINKS
[1] /Parkplatzfreier-Kiez-in-Berlin-geplant/!5851517
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[3] /Beschleunigung-von-Verkehrsausbau/!5905228
[4] /Recht-auf-Stadt/!5902129
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Nikola Endlich
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