# taz.de -- Verkehrswende ohne Autos: Überzeugungstäter der Straße | |
> Andreas Knie ist einer der bekanntesten Mobilitätsforscher im Land. Er | |
> wirbt für autofreien Verkehr – und zeigt in Berlin, wie es gehen kann. | |
Es wirkt alltäglich, als Andreas Knie an einem Dienstag im Dezember in der | |
Kantine des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung (WZB) auf | |
einer Mobilitäts-App auf seinem Smartphone herumtippt, und doch könnte es | |
ein entscheidender Schritt hin zu einer nachhaltigen Verkehrswende sein. | |
Es ist Mittagszeit. Knie sitzt an einer der langen Tischreihen, ganz hinten | |
an der Wand und sucht nach einem Mietfahrrad in der Nähe des WZB. Seine | |
grauen Haare wirken etwas zerzaust und stehen in alle Richtungen. Er ist | |
spät dran. Einige Kolleginnen grüßen freundlich zum Leiter der | |
Forschungsgruppe „Digitale Mobilität und gesellschaftliche Differenzierung“ | |
herüber und ziehen mit ihren Tabletts mit Essen vorbei. Knie schaut kurz | |
auf, hebt die Hand zum Gruß und wischt dann weiter auf seiner App herum. | |
Gleich will er mit dem nächsten frei werdenden Leihfahrrad zu einem Termin | |
im 2,7 Kilometer entfernten Bezirksamt Friedrichshain-Kreuzberg radeln. Das | |
WZB begleitet dort einen Modellversuch, der den Autoverkehr in der Stadt | |
senken und dabei helfen soll, klimafreundlicher zu werden. | |
Im Berliner Graefekiez – einem gepflegten Altbauviertel in Kreuzberg mit | |
Cafés und Buchläden an der Ecke – [1][sollen bald Parkplätze von rund 700 | |
bis 800 Autos verschwinden]. Knie und dem WZB schwebt vor, dass sich das | |
Viertel zwischen Volkspark Hasenheide und Landwehrkanal dadurch in ein | |
Areal so wie die sogenannten Superblocks in Barcelona verwandeln könnte. | |
## Testphase eins für die Parkflächen in Berlin-Kreuzberg | |
Wo einst Autos parkten, sind dort, in der spanischen Großstadt, längst | |
idyllische Grünflächen mit Sitzgelegenheiten für AnwohnerInnen entstanden. | |
Ähnliche Versuche gibt es in der belgischen Hafenstadt Gent, in Hamburg | |
oder auch mit dem so genannten Kiezblock in der nahegelegenen Wrangelstraße | |
in Berlin-Kreuzberg. | |
Das WZB und Knie arbeiten an dem klimafreundlichen Modellversuch am | |
Graefekiez in insgesamt drei Testphasen mit. T1, T2, T3 heißt es in der | |
Wissenschaft. Gerade stecken sie noch ganz am Anfang: Testphase eins. Aber | |
Knie, 62 Jahre alt, hat bereits sein halbes Leben damit verbracht, zu | |
erforschen, wie der Verkehr der Zukunft aussehen soll. | |
Er gilt als einer der bekanntesten Mobilitätsforscher hier im Land. Seit | |
den späten achtziger Jahren arbeitet er mit Unterbrechung am renommierten | |
WZB, lehrt zusätzlich an der Technischen Universität in Berlin. [2][Knie | |
rief das erste Carsharing Deutschlands mit ins Leben], war 16 Jahre bei der | |
Deutschen Bahn AG, erfand dort die Bahnräder für die letzte Meile bis vor | |
die Haustür, gründete die Agora Verkehrswende mit – einen heute angesehenen | |
Thinktank, in dem sich Forschende mit Bundesministerien in kleinem Kreis | |
austauschen. Und die Liste könnte lange so weitergehen. | |
Knie trägt im Gegensatz zu vielen anderen WissenschaftlerInnen auch mal | |
kein Jackett und nie Schlips und ist wohl das, was viele in der | |
Wissenschaftslandschaft als unkonventionell bezeichnen würden. Er ist mit | |
vielen sozialen Bewegungen eng verknüpft, selbst Mitglied bei Scientists | |
for Future. | |
Wenn er in den „Tagesthemen“ oder im ZDF die aktuelle Verkehrspolitik | |
kommentiert, ist hinter ihm auch mal eine einfache weiße Wand zu sehen und | |
kein prestigeträchtiges meterhohes Bücherregal. Gefühlt ist Knie einfach | |
bei allen Terminen und Veranstaltungen dabei, wenn es um das Thema Verkehr | |
und Klimaschutz geht. Er sagt, seine Forderungen als Verkehrsforscher | |
hätten sich über die Jahrzehnte dabei eigentlich kaum bis gar nicht | |
geändert: „Ich will, dass wir endlich mit deutlich weniger Autos | |
auskommen.“ | |
An seiner Person zeigt sich dabei wie unter einem Brennglas, was beim Thema | |
Verkehr und Klimaschutz für die Gesellschaft als Ganzes gilt. In nahezu | |
keinem anderen Feld scheint eine so breite Lücke zu klaffen. Zwischen | |
einerseits dem, was man in der Forschung seit Jahren darüber weiß und wie | |
man es ändern könnte, und andererseits dem, was tatsächlich passiert. | |
Seit den 1990ern ist der CO2-Ausstoß im Verkehr nahezu gleich geblieben. | |
Der größte Anteil des klimaschädlichsten Treibhausgases, das maßgeblich für | |
die Erwärmung unseres Planeten verantwortlich ist, entsteht dabei täglich | |
durch Pkws und Motorräder auf unseren Straßen. | |
Während in anderen Bereichen, etwa in der Landwirtschaft oder in der | |
Industrie, längst klimafreundliche Alternativen gefunden und vermehrt | |
genutzt werden, um die Emissionen zu senken, änderte sich beim Verkehr in | |
den letzten Jahrzehnten bis heute wenig bis nahezu nichts. Woran aber liegt | |
das? Was muss sich ändern, damit der Verkehr endlich klimafreundlicher | |
wird? Und vor allem: Was lief in der Vergangenheit eigentlich falsch? | |
## Knie macht einen Schritt heraus aus der Rauchwolke | |
Es ist ein Dezembervormittag in Kreuzberg, unweit von dem Viertel, in dem | |
bald der neue Modellversuch starten soll. Auf der Kreuzung vor Knie ist ein | |
großer schwarzer SUV vor einer Ampel zum Halten gekommen. Die Luft ist | |
klirrend kalt und Knie ist inmitten der weißen Abgaswolke eingehüllt, die | |
aus dem brummenden Motor dringt. Man kann die Mischung aus Benzin und | |
Stickoxid in der Luft förmlich riechen. Das klimaschädlichste Abgas aber | |
nicht – das CO2. | |
Knie macht einen Schritt aus der Rauchwolke hin in Richtung Böckhstraße. Es | |
ist eine der Straßen, die von hier aus direkt in den Graefekiez | |
hineinführen. An verschiedenen Orten sollen in dem Viertel bald kleine | |
Messtationen aufgestellt werden, um die Luftwerte zu messen. | |
Damit ließe sich sehen, wie viel sauberer und besser die Luft in der Stadt | |
mit weniger Autos ist, meint Knie. Gelingt es, dass in dem Viertel bald | |
weniger Autos parken und fahren, würde für Knie ein lang gefordertes Ziel | |
erreicht werden. Schon in den späten achtziger Jahren hat der | |
Verkehrsforscher als junger Wissenschaftler damit begonnen, ein autofreies | |
Westberlin zu fordern. Damals war die Stadt noch geteilt und die Berliner | |
Stadtautobahn Avus galt als unangefochtene Rennstrecke, sagt Knie. Er kann | |
sich bis heute gut an die Widerstände erinnern, die ihm mit Forderungen | |
wie diesen damals entgegengebracht worden sind. | |
„Das Auto galt damals noch als viel unumstößlicher als heute“, erinnert er | |
sich. Selbst sein eigener Vater – ein Autofreund, aber sehr toleranter | |
Mensch, wie Knie ihn beschreibt – habe ihn damals gefragt: „Mensch Junge, | |
muss das denn sein?“ | |
Knie dringt auch dort, wo die großen Veränderungen angestoßen werden | |
könnten, nur schwer durch bis in die Bundespolitik hin zum | |
Verkehrsministerium. Dort dreht sich viel um das Verkehrsaufkommen auf den | |
Straßen, um Verkehrssicherheit oder um Lenkung des Verkehrs – [3][den | |
Ausbau und die Sanierung von Autobahnen]. Klimaschutz als eigenständiges | |
Thema sei überhaupt erst seit fünf, sechs Jahren ein Thema im | |
Verkehrsministerium, heißt es – wenn man mit Knie, aber auch anderen | |
WissenschaftlerInnen darüber spricht. | |
Es fällt auf, dass nicht alle die Verkehrspolitik der vergangenen Jahre mit | |
solch scharfen Worten kritisieren wie Knie. Im Kern aber zeichnen sie alle | |
ein ähnliches Bild. Knie beschreibt es unter anderem so: Für ihn sei in den | |
1990er Jahren das Verkehrsministerium in erster Linie ein reines | |
Verkehrsbauministerium gewesen, das einzig und allein auf eine autogerechte | |
Verkehrsplanung ausgelegt gewesen sei. Überlegungen, wie man über den | |
Verkehr nachdenken, ihn gar neu organisieren könne, wurden damals nicht | |
angestellt. | |
Das WZB berät seit 1996 regelmäßig das Bundesforschungsministerium, wo Knie | |
auf mehr Offenheit stößt. Er arbeitet dort etwa an einer Studie zu Verkehr | |
in Ballungsräumen mit. Als Knie das erste Mal Projekte im | |
Bundesverkehrsministerium vorstellt, ist Wolfgang Tiefensee von der SPD | |
Bundesverkehrsminister. Er kommt 2005 ins Amt. | |
Wie stark der alte Geist des Ministeriums aber noch fortwirkt, manifestiert | |
sich für Knie und andere WissenschaftlerInnen auch am Organigramm des | |
heutigen Bundesministeriums für Digitales und Verkehr (BMDV). Noch immer | |
gibt es große Abteilungen, die sich mit dem Straßenverkehr und den | |
Bundesfernstraßen beschäftigen. 13.000 Kilometer Autobahnen durchziehen | |
derzeit das Land. Knie sagt, für ihn sei das Ministerium bis heute eine | |
„Trutzburg“ geblieben, die auf eine autogerechte Planung setzt. Aber lässt | |
sie sich überdenken? Jetzt, wo sich der Planet immer mehr erwärmt? | |
## Bundesverkehrsminister muss sich kritischen Fragen stellen | |
Kurz vor Weihnachten und dem Jahreswechsel 2022/23 steht | |
Bundesverkehrsminister Volker Wissing (FDP) im Ministerium am Invalidenpark | |
– wie immer aufrecht, dunkler Anzug, rote Krawatte, das Haar mit akkuraten | |
Scheitel – vorne in der Mitte eines langgezogenen, grauen Pultes. Eine | |
kleine Weihnachtskugel ist von dem Tannenbaum hinter ihm heruntergefallen | |
und liegt einsam auf dem dunkelblauen Teppichboden. Wissing muss sich | |
rechtfertigen. JournalistInnen von ZDF, dpa, RTL/ntv und FAZ sitzen vor | |
ihm. Sie fragen an diesem Mittag besonders kritisch nach. | |
Seit Tagen streiten die Ampelpartner auf offener Bühne. Vor allem | |
Verkehrsminister Volker Wissing und die Umweltministerin Steffi Lemke von | |
den Grünen. Es geht um das Planungsbeschleunigungsgesetz für den | |
Verkehrsbereich, einen Entwurf aus Wissings Haus. Wissing will, dass die | |
Zeit für Planungs- und Genehmigungsverfahren künftig halbiert wird, damit | |
Infrastrukturvorhaben schneller umgesetzt werden. | |
Wissing zählt zu diesen Projekten aber nicht nur den Bau von Schienen und | |
Ersatz maroder Brücken wie seine Koalitionspartner, die Grünen. „Neben der | |
Bahn müssen wir uns eben auch dringend Autobahnen und die Brücken | |
anschauen“, sagt der Minister auch an diesem Vormittag in ruhigem und | |
sachlichem Ton. Denn geht es nach Wissing, soll in Zukunft auch der Bau von | |
Autobahnen schneller gehen. Noch am gleichen Abend soll es ein Treffen | |
zwischen Wissing, Lemke und dem Kanzler Olaf Scholz gegeben haben. Ohne | |
Einigung. | |
Für viele ist der wochenlange Streit längst zu einem wirkmächtigen | |
Symbolbild geronnen – für eine fehlgeleitete Verkehrspolitik. Wissings | |
Verkehrsministerium begünstigt noch immer die Pkws auf unseren Straßen | |
stärker als andere Verkehrsmittel. | |
## Knies „libidinöse Beziehung“ zum Automobil | |
Knie sagt, das Verkehrsministerium setze die gelebte bundesrepublikanische | |
Realität der 1950er und 1960er Jahre fort. Er selbst wächst als Teil der | |
Boomer-Generation in einer Familie auf, in der das Automobil noch etwas | |
galt. Der Vater, vom Beruf Vertriebler, fuhr erst mit dem Opel Rekord, dann | |
mit dem Ford, schließlich mit dem eigenen Mercedes durchs westfälische | |
Siegerland. Selbst das Päckchen Zigaretten vom Automaten holte sich der | |
Vater lieber mit dem Rekord als zu Fuß. Er war ein regelrechter „Autonarr“, | |
so beschreibt es Knie heute. Das habe auch ihn geprägt, meint er. | |
Knie spricht in Interviews gern von einer sogenannten „libidinösen | |
Beziehung“. Auch für ihn gab es einmal die Liebe zum Automobil, die den | |
Deutschen als Land, das durch das Auto zum Exportweltmeister wurde, bis | |
heute besonders gerne nachgesagt wird. Knie kaufte sich bald nach seinem | |
Führerschein einen Opel Kadett, pinselte liebevoll Rallyestreifen an seine | |
Längsachsen. | |
Es ist nur schwer vorstellbar, wenn man den Andreas Knie von heute vor sich | |
sieht. Der Verkehrsforscher besitzt kein Auto und noch nicht mal mehr ein | |
eigenes Rad. Alles leiht er sich für seine Wegstrecken bei Bedarf. „On | |
demand“, wie Knie sagt. | |
Der Moment, als Knie merkte, er brauche eigentlich kein eigenes Auto mehr, | |
kam für ihn während seines Studiums. Erst im mittelhessischen Marburg, | |
später an der Freien Universität in Westberlin beginnt er mit seinen | |
Kommilitonen Fahrgemeinschaften zu bilden. Zeitgleich schreibt Knie seine | |
ersten Verkehrsgutachten für die Grünen, damals noch die Alternative Liste. | |
Nach Vorlesungsende trifft er sich in der Uni mit den anderen um sechs Uhr | |
vor der Mensa und fährt gemeinsam in das Wohnviertel zurück. Knie | |
verschrottet schließlich kurz nach der Wende seinen Mercedes/8, für damals | |
25 D-Mark. Es ist sein letztes Auto. | |
## Die guten Anfänge in der E-Mobilität wurden nicht genutzt | |
Wirft man einen Blick auf die Website des Bundesverkehrsministeriums, | |
werden dort der Masterplan Ladeinfrastruktur II, das autonome Fahren, ein | |
attraktiverer ÖPNV, das Deutschlandticket und die anstehende Reform der | |
Deutschen Bahn als Maßnahmen für den Klimaschutz angepriesen. Die | |
Antriebswende und der Umstieg auf E-Autos scheinen im Verkehrsministerium | |
dabei besonders großes Gewicht zu genießen. Wissing betont es fast bei | |
jeder seiner Reden, die er öffentlich hält. | |
Knie findet, die Bundesregierung habe die guten Anfänge in der | |
Elektromobilität aber nicht wirklich genutzt. Bereits Anfang der 2000er | |
Jahre beginnt die Regierung damit, sich ernsthaft mit E-Mobilität | |
auseinanderzusetzen. Knie erinnert sich gern an diese Zeit zurück, spricht | |
gar von einer Sternstunde in seiner Wissenschaftslaufbahn als | |
Verkehrsforscher. „Da kam plötzlich Bewegung ins Verkehrsministerium“, so | |
beschreibt er es heute. | |
Die Bundesregierung schien bei dem Schritt allerdings weniger den | |
Klimaschutz im Auge zu haben als vielmehr den Wirtschaftsstandort | |
Deutschland, der nicht hinter China zurückfallen soll – so berichten es | |
WissenschaftlerInnen heute im Rückblick. Dort konzentrierte sich die | |
Autoproduktion schon seinerzeit mehr und mehr auf E-Autos. 2010 wird | |
schließlich die GGEMO als einheitliche Anlaufstelle der Bundesregierung für | |
die Aufgaben im Bereich Elektromobilität gegründet. Die ersten | |
Schaufensterprojekte starten. Und Knie wird Teil des neu entstandenen | |
Beratungsgremiums der Bundesregierung, der „Nationalen Plattform | |
Elektromobilität“. | |
Aber schon in den Jahren 2014, 2015 laufen die staatlichen Förderungen in | |
Zusammenhang mit der E-Mobilität wieder aus. Der Industrie fehlt die | |
Planungssicherheit. Dies gilt bis heute als einer der Hauptgründe, warum | |
hierzulande noch immer zu wenig Ladesäulen für E-Fahrzeuge stehen. | |
## Nicht jeder müsse einen eigenen Wagen besitzen | |
Knie ist überzeugt davon, dass allein der Umstieg auf elektrisch | |
angetriebene Fahrzeuge das Problem mit dem Klima ohnehin nicht lösen könne. | |
Später an diesem Vormittag in Kreuzberg fährt er mit seinen Armen durch die | |
graue, kalte Luft, weist einzelne Flächen auf der gegenüberliegenden | |
Straßenseite in der Böckhstraße aus. Das Modellprojekt im Berliner | |
Graefekiez soll zunächst für einen Testzeitraum von sechs bis zwölf Monaten | |
ausgelegt sein. | |
Dort könnten dann bald Leihfahrräder und E-Roller stehen, um damit zur | |
nächstgelegenen U-Bahn- oder Bushaltestelle zu fahren, meint Knie. „Oder | |
dort“, sagt er und wandert mit seinem Arm ein Stück weiter, könnten Orte | |
begrünt werden, Sitzgelegenheiten geschaffen und die Straße wieder zu einem | |
Raum der Begegnung werden. | |
Knie zeichnet für sich an diesem Morgen die Zukunft der Verkehrswende in | |
die Luft. Geht es nach ihm, müsste das Auto gar nicht ganz verschwinden. | |
Auch während des Probelaufs können die Pkws im nahgelegenen Parkhaus am | |
Neuköllner Hermannplatz für 30 Euro im Monat abgestellt werden. Es sollen | |
etwa auch Lieferwägen weiter durch die Straßen im Viertel rollen, Menschen | |
mit Einschränkungen sicher von einem Ort zum nächsten gefahren werden | |
können. | |
Dennoch findet der Mobilitätsforscher, dass heute nicht einfach jeder | |
kostenlos seinen Pkw vor der Haustür parken könne – und dass auch nicht | |
jeder einen eigenen Wagen besitzen müsse. „Wir werden die Klimaziele nur | |
einhalten, wenn wir weniger Autos haben und die Menschen auf andere | |
Verkehrsmittel umsteigen“, sagt er. | |
## Wissings Verkehrsministerium musste im vergangenen Sommer nachbessern | |
Noch in der gleichen Woche, an einem Donnerstagabend, steht | |
Bundesverkehrsminister Volker Wissing am Rednerpult des Deutschen | |
Bundestages. Vor ihm im Halbrund sitzen dieses Mal die ParlamentarierInnen | |
auf ihren blauen Stühlen, stecken hier und da die Köpfe zusammen, tippen | |
auf ihren Smartphones herum oder horchen dem Minister. Es geht in der | |
Debatte um die Erhöhung der Regionalisierungsmittel für den ÖPNV der | |
Länder, die noch am selben Abend durchs Parlament gehen. | |
Im Bundeshaushalt 2023 soll Wissing allerdings 160 Millionen Euro mehr für | |
Straßen eingestellt haben als noch im Jahr zuvor. Dabei ist der Bau von | |
Bundesfernstraßen schon damals das größte Stück vom Kuchen. Die | |
Investitionen in die Schiene sinken im Vergleich zu 2022 dagegen um eine | |
halbe Milliarde Euro. Reichen die Mittel also für den Klimaschutz? | |
Mehr noch als jeder andere Verkehrsminister vor ihm muss sich Wissing an | |
der Einhaltung dieser Ziele messen lassen. Zum einen, weil sich die | |
Klimakrise immer weiter verschärft. Zum anderen, weil noch unter der | |
Vorgängerregierung das Klimaschutzgesetz verabschiedet wurde. Dort ist | |
genau festgelegt, dass bis zum Jahr 2030 der CO2-Ausstoß im Verkehr auf 85 | |
Millionen Tonnen sinken soll. Zum derzeitigen Zeitpunkt fallen bis zum Ende | |
des Jahrzehnts nach Schätzungen aber noch 261 Millionen Tonnen zu viel an. | |
Es ist eine gewaltige Menge. | |
Wissings Ministerium musste im vergangenen Sommer nachbessern. 13 Seiten | |
reichte das Bundesverkehrsministerium als Sofortprogramm ein. Viele, auch | |
Knie, werten das als regelrechte „Arbeitsverweigerung“. Selbst der | |
Klimaexpertenrat spricht von der Zeugnisnote „mangelhaft“, sagt, eine | |
eingängliche Prüfung sei gar nicht möglich gewesen. | |
## Das Verhalten der Menschen ist änderbar | |
Es ist ein Verriss auf offener Bühne, der erahnen lässt, wie viel in | |
Trümmern liegen muss. Eigentlich müsste jetzt innerhalb von 10 Jahren | |
aufgeholt werden, was in den letzten 30 Jahren verpasst wurde. Aber ist das | |
noch zu schaffen? Hinter verschlossenen Türen verhandelt die Regierung seit | |
Monaten darüber, die jährlichen Sektorziele im Klimaschutzprogramm ganz | |
abzuschaffen. Die FDP sagt, es gehe nicht darum, „Ziele aufzuweichen, | |
sondern nur darum, sie dorthin zu verlagern, wo sie schneller eingehalten | |
werden können“. Ein Sprecher des Bundesverkehrsministeriums sagte der taz, | |
die regierungsinterne Abstimmung zu den Eckpunkten und den dort zu | |
beschließenden Maßnahmen dauere noch an. | |
Dabei ist klar, das kein anderer Sektor so viel CO2-Emissionen einsparen | |
kann, dass er einen anderen in Zukunft ausgleichen könnte. Fragt man Knie, | |
woran es am meisten liege, dass sich beim Klimaschutz auch nach all den | |
Jahren des Stillstands heute so wenig bewege, muss er nicht lange | |
überlegen. Knie sagt, man höre aus dem Verkehrsministerium immer wieder, | |
dass man das Verhalten der Menschen im Verkehr nicht einfach ändern könne. | |
Knie ist nicht der Einzige, der das erzählt. | |
Dabei sei es doch gerade die Aufgabe von Politik „steuernd einzugreifen“, | |
um das Verhalten zu beeinflussen, findet Knie. Alles andere käme einer | |
Bankrotterklärung gleich. Seine Stimme wird lauter, wenn er darüber | |
spricht, er gestikuliert wild, echauffiert sich. Knie glaubt zudem, dass | |
Wissing die Gesellschaft mit der Annahme unterschätze, dass die Menschen | |
nur einfach immer weiter stur Auto fahren wollen. | |
Nach dem Beginn des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine etwa, ist | |
Knie sich sicher, wären die Menschen für ein Tempolimit bereit gewesen oder | |
für autofreie Sonntage. So wie einst während der Ölkrise in den 1970er | |
Jahren. Knie selbst kickte damals noch als kleiner Junge mit dem Fußball | |
über die mehrspurige Autobahn. | |
## Manchmal auch müde, die immer gleichen Forderungen zu wiederholen | |
Wissing betont auf öffentlichen Auftritten gerne, dass es nur darum gehen | |
könne, den Menschen „Angebote zu machen“. Aber Verbote? Wie ein Tempolimit? | |
Wie sehr das dem FDP-geführten Ministerium missfallen könnte, lässt sich | |
womöglich an Auftritten seines Parteikollegen Wolfgang Kubicki ablesen. Bis | |
heute beschwört der FDPler in abendlichen Politiktalkshows gerne das | |
Schreckensbild einer Verbotspartei herauf. Für Kubicki ist das bis heute | |
noch immer der Koalitionspartner, die Grünen. Knie dagegen findet, es sei | |
höchste Zeit, das Dienstwagenprivileg, die Pendlerpauschale oder die | |
Dieselsubventionierung abzuschaffen. Diese Begünstigungen für das Auto | |
seien falsch und müssten endlich verschwinden. | |
Es sind Momente wie diese, in denen man merkt, dass selbst Knie, der so | |
unermüdlich daran glaubt, dass es immer eine Alternative zum Bestehenden, | |
immer die Möglichkeit der Veränderung gibt, der vor Energie in sich oft | |
fast förmlich vibriert, manchmal auch müde davon ist, die immer gleichen | |
Forderungen zu wiederholen. | |
In der Sendung „13 Fragen“ des ZDF Ende August ist unter den sechs Gästen | |
mit kontroversen Meinungen – die sich über bunte aufgemalte Felder auf dem | |
Boden mit Schritten aufeinander zubewegen können, wenn sie einer Aussage | |
des Gegenübers zustimmen – auch Andreas Knie. | |
Sie diskutieren über den ÖPNV. Knie steht eigentlich fast in der ersten | |
Reihe des Feldes, als es an einer Stelle plötzlich aus ihm herausbricht. | |
„Wir forschen schon seit 45 Jahren daran“, ruft er laut in den Raum, wirft | |
beide Arme in die Luft. | |
## Er hat an diesem Freitag im Dezember irgendwie schlechte Laune | |
In einem Café in Kreuzberg erzählt Knie später, wie er unlängst mit einem | |
Autofahrer diskutierte, der keinen Millimeter bereit war von seiner | |
Position abzurücken. Schon in seiner ersten Publikation, Erscheinungsjahr | |
1994, bezeichnet Knie dagegen das Auto als Klimasünder. Die Anekdote steht | |
fast paradigmatisch dafür, wie hitzig und hochemotional die Debatten über | |
den Verkehr – und vor allem das Auto – hierzulande noch immer geführt | |
werden. Wenn man Knie fragt, warum er trotz all der Widerstände über die | |
Jahre immer weitermache, antwortet er, dass man als Verkehrswissenschaftler | |
einfach Überzeugungstäter sein müsse. Er verstehe seinen Beruf als | |
Wissenschaftler auch als „Berufung“. | |
Tage später ist Knie beim Bezirksamt Friedrichshain-Kreuzberg, wegen des | |
Modellversuchs am Graefekiez. Er wirkt an diesem Freitag im Dezember auch | |
etwas gehetzt, hat irgendwie schlechte Laune. Aber so richtig rausrücken | |
mit der Sprache will er nicht. In der Lokalzeitung Berliner Morgenpost war | |
vor wenigen Tagen zu lesen: „Graefekiez ohne Parkplätze – Amt rüstet sich | |
für Klagen“. AnwohnerInnen haben über 1.000 Unterschriften gesammelt und | |
einen Antrag gegen den „Bullerbü-Plan“ eingereicht, heißt es. Das wird la… | |
Bezirk nun von den Zuständigen geprüft. | |
Eine Studie des WZB im Oktober 2022 ergab, dass die Mehrheit der Menschen | |
im Viertel für das Projekt sei. [4][Hinter Knie erstrecken sich die Straßen | |
des Berliner Graefekiezes]. Noch parken die Pkws an diesem Vormittag hier | |
dicht an dicht. Keine freie Lücke ist derzeit zu sehen. | |
Neulich, so sagt Knie, habe ihn eine Studentin nach einem seiner Vorträge | |
an der TU Berlin eine Frage gestellt: Wieso gibt es eigentlich überhaupt so | |
viele Autos? Er hält dabei ungläubig seine Hände an die Schläfen. „Darauf | |
muss man erst einmal kommen“, sagt er, „dass Autos eben keine | |
Selbstverständlichkeit sind.“ Knie scheint in diesem Moment noch immer | |
beeindruckt davon. Dann muss er plötzlich los, der Deutschlandfunk wolle | |
ihn zum 49-Euro-Ticket interviewen. | |
Die Stelle, an der Andreas Knie an diesem Vormittag im Dezember sein rotes | |
Mietfahrrad abgestellt hat, ist später von keinem parkenden Auto verdeckt. | |
Nur ein grünfarbener E-Scooter steht daneben. | |
23 Jan 2023 | |
## LINKS | |
[1] /Parkplatzfreier-Kiez-in-Berlin-geplant/!5851517 | |
[2] /Entscheidung-gegen-Carsharing-Regeln/!5868078 | |
[3] /Beschleunigung-von-Verkehrsausbau/!5905228 | |
[4] /Recht-auf-Stadt/!5902129 | |
## AUTOREN | |
Nikola Endlich | |
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