| # taz.de -- Verkehrswende in Amsterdam: Im Schattenreich der Fahrradstadt | |
| > Im Hafen von Amsterdam liegt einer der unbeliebtesten Orte der Stadt. | |
| > Tausende falsch geparkte und abgeschleppte Fahrräder stehen im | |
| > Fietsdepot. | |
| Bild: Ein Parkhaus nur für Fahrräder im Amsterdamer Hauptbahnhof | |
| Der Wind kennt keine Gnade. Mit einer neuen Böe nimmt er Anlauf, mich | |
| [1][endgültig vom Board zu fegen]. An Vorwärtskommen ist kaum zu denken, | |
| und so werden all die Vorratshallen, die Logistikzentren, die | |
| Zubringerbrücken zum Standbild. Erst als der Wind kurz abflaut, rolle ich | |
| weiter durch die Einöde von Westpoort, einem [2][Gewerbegebiet im | |
| Amsterdamer Hafen]. Noch zwei Kilometer. Ich verfluche den Wind, das | |
| Fietsdepot, den Samstagmorgen. Keine Menschenseele scheint hier draußen zu | |
| sein, bis auf einen türkischen Lkw-Fahrer, der auf einmal an einer Kreuzung | |
| vor mir steht. „Gibt es hier irgendwo etwas zu essen zu kaufen?“, will er | |
| wissen. Gibt es nicht. | |
| Was mich bei diesem Wetter hier heraustreibt und das auch noch auf dem | |
| Skateboard, ist [3][mein Fahrrad.] Das ließ ich vor einigen Tagen durchaus | |
| fahrlässig vor der Centraal Station zurück, pünktlich zu Beginn des | |
| Parkverbots. In Amsterdam beginnt 2023 die Zukunft der Fahrradmobilität. | |
| Zwei neue Parkhäuser wurden zuletzt am Hauptbahnhof eröffnet, weiträumig, | |
| unterirdisch und architektonisch ansprechend. Medien überschlagen sich vor | |
| Begeisterung, nur: Jede andere Art von Parken ist nun verboten und führt | |
| dazu, dass das betreffende Rad auf einem Pick-up der Kommune nach Westpoort | |
| transportiert wird, 10 Kilometer vor den Toren der Stadt, ins Fietsdepot. | |
| Das Depot fasst 12.000 Räder auf über 7.500 Quadratmetern. So abgelegen es | |
| ist, so zentral ist seine Rolle im Plan der Stadt, ihren Radler*innen | |
| Parkmanieren beizubringen. An immer mehr Orten Amsterdams tauchen in den | |
| letzten Jahren Beamte auf, um jene Räder, die nicht in Ständern stehen oder | |
| längere Zeit nicht vom Platz bewegt wurden, in dieses vom Wind gepeinigte | |
| Straflager zu bringen. Bis zum Bahnhof Sloterdijk kann man den Zug nehmen. | |
| Für die letzten gut vier Kilometer gibt es keinen öffentlichen Verkehr. | |
| ## Keine Umerziehungsmaßnahme | |
| Das Rad zurückholen kostet also Zeit. So viel, dass es einem den Tag | |
| versauen kann. Wobei eine Sprecherin der Stadt auf Anfrage per E-Mail | |
| betont, es habe mit Strafe oder Umerziehung nichts zu tun. Vielmehr seien | |
| Areale in dieser Dimension näher an der bewohnten Welt schlicht nicht | |
| vorhanden. Da die Kommune einem Interviewwunsch mit Ortstermin nicht | |
| entsprechen kann, schickte ich also mein Rad voraus an diesen Ort, der in | |
| einer Deutsche-Welle- Reportage einst als „Fahrrad-Fegefeuer“ bezeichnet | |
| wurde. | |
| Während ich mich in den Wind lege, denke ich an den Beamten in seiner | |
| neongelben Jacke, der mit zwei Kollegen am Bahnhof das neue Parkverbot | |
| ausführte. Scannen, Schloss durchtrennen und ab auf die Ladefläche, das ist | |
| der Dreischritt ihrer Arbeit. 800 Räder gelte es an diesem Tag zu | |
| entfernen, sagte er. Ihre bisher „größte Operation“, denn normal seien 10… | |
| In der Stadt werden laut der Gemeindesprecherin pro Jahr rund 70.000 | |
| Fahrräder entfernt. Man kann sich vorstellen, dass das Depot bisweilen zu | |
| platzen droht. | |
| Unterdessen, denke ich auf dem letzten Kilometer, fotografieren | |
| Tourist*innen weiterhin das romantische Motiv der Grachtenbrücken, deren | |
| Geländer von angeketteten Hollandrädern übersät sind – nicht wissend, dass | |
| diese Art des Parkens immer mehr zum sanktionierten Auslaufmodell wird. Und | |
| dass die betreffenden Räder wenig später an einem Ort landen können, der | |
| wie das Schattenreich der vermeintlichen Fahrradtraumstadt erscheint, eine | |
| Art Gegenentwurf zum Stereotyp der fröhlichen „Alles geht“-Stadt. | |
| ## 22,50 Euro Strafe | |
| Der Eifer, mit dem im Rathaus die Schrauben angezogen werden, irritiert | |
| nicht wenige Amsterdamer. Auf Facebook tauschen sich Menschen in einer | |
| Gruppe namens „Fietsdepotmaffia“ aus. Außerdem gibt es in der Stadt | |
| inzwischen rund 900.000 Fahrräder und damit mehr als Bewohner*innen. Von | |
| Letzteren benutzt eine halbe Million täglich das Rad. „Fietsjungle von | |
| Amsterdam“ schrieb die Lokalzeitung Het Parool schon 2019. Wenn sich diese | |
| Tendenz fortsetzt, müssen wir als Preis für nachhaltige Mobilität dann eine | |
| Regulierung unserer sorglos-anarchischen Fahrradkultur hinnehmen? | |
| Die Anpassung an die neue Mentalität fällt offenbar vielen in der Stadt | |
| nicht leicht. Während ich endlich in den Hof des Depots einbiege, kommt mir | |
| ein Mann um die 30 entgegen. Gemütlich tritt er in die Pedalen, einen | |
| Kaffeebecher in der Hand. Thomas ist hierhergejoggt, 11 Kilometer. Auch | |
| er ließ sein Rad am Bahnhof zurück, an dem Tag, als das Parkverbot wirksam | |
| wurde. Hat er die Schilder nicht gesehen, die es wochenlang ankündigten? | |
| „Ich kam einfach frühmorgens an, war noch müde und stellte mein Rad | |
| ordentlich in einen Ständer. An das Verbot dachte ich nicht.“ | |
| Dass er 22,50 Euro zahlen musste, um es nun zurückzuholen, widerstrebt ihm. | |
| Alternativ hätte er es sich auch liefern lassen können – für 35 Euro. | |
| Betrachtet man die Dimension von Verkehrsstrafgeldern in diesem Land, mutet | |
| beides freilich noch moderat an. Laut einem Beitrag des Lokalsenders AT5 | |
| deckt das die Kosten von 70 Euro pro Rad nur ansatzweise. Deshalb wurde die | |
| Zeit, in der sie im Depot für ihre Besitzer*innen aufbewahrt werden, | |
| drastisch reduziert: von einst drei Monaten auf zwei Wochen. Danach werden | |
| jene Räder, die in schlechtem Zustand sind, an Händler verkauft. Die machen | |
| sie wieder fahrtauglich. Die übrigen werden für soziale Zwecke gespendet, | |
| etwa ukrainischen Geflüchtete, schrieb die Sprecherin des Rathauses. | |
| In schlechtem Zustand sind alle Räder, die sich im Eingangsbereich | |
| befinden. Menge und Zustand des Möwenkots, der viele von ihnen überzieht, | |
| lassen erahnen, dass sie wohl nicht mehr abgeholt werden. Überhaupt | |
| strandet so manches Vehikel hier: von jenen, die die Stadt „verwahrlost“ | |
| nennt, werde nur 1 Prozent abgeholt. Von Fahrrädern, die wochenlang in | |
| Ständern geparkt waren, ohne abgeholt zu werden, seien es 7 Prozent, von | |
| falsch geparkten in gutem Zustand 53 Prozent. Offenbar führt die Summe aus | |
| Bußgeld plus Zeitaufwand bei vielen Radler*innen zu dem Schluss, lieber | |
| billig ein neues zu erstehen. | |
| ## Der Schlüssel muss passen | |
| Julia, eine junge Frau, die mit warmem Stirnband und verlorener Mine | |
| zwischen all den Räderreihen steht, gehört nicht zu ihnen. Ihr Blick zeugt | |
| von der Orientierungslosigkeit, die Bewohner*innen des Stadtzentrums | |
| hier im Logistik-Outback des Hafengebiets leicht überkommt. „Ich bin zum | |
| ersten Mal hier und hoffentlich auch zum letzten Mal“, sagt sie schnaubend. | |
| Ein Stück des Weges legte sie mit dem Bus zurück, den Rest zu Fuß. „Ich | |
| verstehe schon, dass sie die Räder so weit rausbringen, sie brauchen | |
| natürlich Platz. Aber es wäre schön, wenn es zumindest öffentliche | |
| Verkehrsmittel hierhin gäbe.“ Neben dem Unmut ist da allerdings auch etwas | |
| Neugier auf das Depot. „Ich will diesen Ort doch einmal sehen.“ | |
| Dessen ganzes Panorama entfaltet sich erst eine Ecke weiter. Zwischen | |
| Stadtautobahn, Windrädern und Lagerhallen erstrecken sie sich reihenweise, | |
| die verwaisten, verwahrlosten und falsch geparkten Räder dieser Stadt. | |
| Schilder mit den Buchstaben A bis Q unterteilen das Gelände und vermitteln | |
| so etwas wie Orientierung in einem Meer aus Rahmen, Speichen und | |
| Lenkstangen, in denen sich das bisschen Licht dieses Tages fängt. | |
| Im Rezeptions-Container muss ich ein paar Angaben zu meinem Rad machen. | |
| Doch da es sich nicht um ein Markenfabrikat handelt und es eine vage | |
| dunkelblaue Farbe hat, führen diese Angaben nicht direkt zu einem Treffer | |
| in der digitalen Kartei. Deswegen begleitet mich ein Mitarbeiter zu dem | |
| Abschnitt, wo die vielen Hundert Fahrräder stehen, die am betreffenden Tag | |
| hergebracht wurden. Die Suche dauert lange. Als ich es endlich entdeckt | |
| habe, folgt der Schlüsseltest: die Schlösser wurden zwar aufgebrochen, | |
| hängen aber noch immer an den Rädern. Nur wer seinen Karteiangaben den | |
| richtigen Schlüssel hinzufügen kann, fährt auf dem eigenen Sattel nach | |
| Hause. | |
| „22,50! Damit hättest du auch was anderes machen können. Zum Beispiel die | |
| Wirtschaft ankurbeln“, wirft mir der Mitarbeiter zu, als ich, nachdem ich | |
| meine Akte unterschrieben und die Schulden beglichen habe, aus der | |
| Rezeption trete. Er selbst, bemerkt er grinsend, musste auch schon zweimal | |
| den langen Bußgang nach Westpoort absolvieren. Der Weg zurück in die Stadt | |
| zieht sich hin. Immerhin habe ich Rückenwind. | |
| 7 Mar 2023 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Verkehrswende-in-den-Niederlanden/!5899353 | |
| [2] /Verkehrswende-in-den-Niederlanden/!5907825 | |
| [3] /EU-widmet-sich-dem-Radverkehr/!5912169 | |
| ## AUTOREN | |
| Tobias Müller | |
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