Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Essay Lateinamerikas Linke in der Krise: Ein erschöpfter Kontinent
> In Lateinamerika sind die Linksregierungen gescheitert. Die neue Politik
> der Rechten wird auf Kosten der Armen gehen.
Bild: Kopf der neuen Rechten in Argentinien: Mauricio Macri
Am vergangenen Wochenende war es so weit: Mit einem knappen, aber doch
eindeutigen [1][Sieg des konservativen Kandidaten Mauricio Macri in der
Stichwahl um die argentinische Präsidentschaft] ging nach zwölf Jahren die
Ära der Kirchner-Regierungen zu Ende. Damit verlieren Lateinamerikas
verbliebene Linksregierungen einen wichtigen Verbündeten. Nicht wenige
glauben, das argentinische Wahlergebnis sei nur der Anfang vom Ende linker
Regierungsmacht in Lateinamerika überhaupt.
Am 6. Dezember wird in Venezuela ein neues Parlament gewählt. Manche
Umfragen sehen voraus, die regierende Sozialistische Einheitspartei
Venezuelas (PSUV) werde ihre Mehrheit verlieren – allerdings sind solche
Umfragen in dem seit Jahren zutiefst polarisierten Land immer fragwürdig.
Unstrittig hingegen ist, dass sich der Chavismus, nach [2][dem Tod Hugo
Chávez’ im März 2013] angeführt von seinem Nachfolger Nicolás Maduro, in
der schwersten Krise seit Chavez’ erstem Wahlsieg im Dezember 1998
befindet.
In Ecuador regiert Präsident Rafael Correa, 2007 als Hoffnungsträger zum
Präsidenten gewählt, seit Jahren immer autoritärer. Außenpolitisch auf
linke Bündnisse bedacht, ist im Land selbst vom linken Anspruch nicht so
viel übrig geblieben. Organisationen der (indigenen) Zivilgesellschaft,
Umweltschützer und jegliche Protestbewegung werden kriminalisiert,
kritische Medien unter Kontrolle gebracht.
In Bolivien versucht Evo Morales, 2006 als erster Indigener zum Präsidenten
gewählt, sich derzeit über eine Verfassungsänderung das Recht auf
nochmalige Wiederwahl zu sichern.
## Korruptionsskandale in Brasilien und Chile
In Brasilien steht die sozialdemokratische PT-Präsidentin Dilma Rousseff
mit dem Rücken zur Wand: Die vielen [3][Korruptionsskandale] haben ihre
Regierung an den Rand des Absturzes gebracht. Es liegt nur an den
Konservativen, sie per Amtsenthebungsverfahren aus dem Präsidentenpalast zu
entfernen. Die politische Agenda bestimmen unterdessen rechtskonservative
Abgeordnete, die einen Entwurf nach dem nächsten im Parlament zur
Abstimmung bringen.
In Chile, wo die sozialistische Präsidentin Michelle Bachelet weiterhin in
einer großen Koalition regiert, sind auch in den vergangenen Jahren die
großen Themen der sozialen und ökonomischen Ungleichheit unbearbeitet
geblieben. Gleichzeitig haben Korruptionsaffären in Bachelets Familie ihre
Glaubwürdigkeit erschüttert.
In Nicaragua haben Präsident Daniel Ortega und seine Frau Rosario Murillo
inzwischen den Regierungsstil von Familienpotentaten entwickelt. Gegen
Proteste vieler betroffener Gemeinden versucht Ortega das mit einem
dubiosen chinesischen Großinvestor vereinbarte Projekt eines neuen
interozeanischen Kanals umzusetzen.
Im kleinen Uruguay wiederum hat [4][der neue Präsident Tabaré Vazquez],
wiewohl aus dem gleichen progressiven Parteienbündnis stammend wie sein
Vorgänger Pepe Mujica, einen deutlichen Bremserkurs bei linken Reformen
eingeschlagen.
Kurz: Lateinamerikas Linksregierungen geht es nicht wirklich gut, und den
meisten der von ihnen regierten Ländern auch nicht.
## Diskreditierte politische Klasse
Als zu Beginn der 2000er Jahre die kleine Welle linker Wahlsiege durch
Lateinamerika rollte, war das auch eine Reaktion auf den ungezügelten
Neoliberalismus der 1990er Jahre. Mit dem Abgang des Diktators Augusto
Pinochet in Chile 1990 war die Phase der Wiederherstellung demokratischer
Regierungsformen nach den Militärdiktaturen im ganzen Kontinent
abgeschlossen. Doch das von den Militärs installierte Wirtschaftsmodell
blieb überall erhalten.
Schlimmer noch: Argentinien zum Beispiel erlebte unter Präsident Carlos
Menem einen solch heftigen – und noch dazu korrupten – Ausverkauf des
Staates, dass am Ende nur die totale Krise blieb und Tausende auf den
Straßen von Buenos Aires „Que se vayan todos!“ (Sie sollen alle abhauen!)
skandierten. Die politische Klasse, die nach dem Ende der Diktaturen die
politische Macht übernommen hatte, war ebenso diskreditiert wie die
Anpassungsprogramme des Internationalen Währungsfonds.
Hugo Chávez war der erste Linke, der aus dieser Situation heraus 1998 in
Venezuela zum Präsidenten gewählt wurde. Die anderen folgten. Schnell
unterschied die internationale Politikwissenschaft unterschiedliche Arten
von Linksregierungen: die moderaten, sozialdemokratischen, also
insbesondere die zunächst von Lula da Silva geführte PT-Regierung
Brasiliens, und die sozialistischen Regierungen Chiles; und diejenigen, die
sich mit Venezuelas Gedanken eines „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“
anfreundeten und vor allem den Geist des gegen die USA gerichteten
Antiimperialismus wieder aufleben ließen.
Die USA ihrerseits, im gesamten 20. Jahrhundert stets auf Interventionskurs
gegen progressive Regierungen dort, wo sie ihren Hinterhof vermuteten
(Guatemala 1954, Kuba 1961, Chile 1973, Contra-Krieg gegen Nicaragua
1979–90), hielten vergleichsweise still. Die Bush-Regierung in Washington
war im Antiterrorkrieg, schickte Truppen nach Afghanistan und Irak und
zeigte an Lateinamerika kein sonderliches Interesse.
Die in den USA entwickelte Idee einer gesamtamerikanischen Freihandelszone
wurde vor zehn Jahren beim Gipfel im argentinischen Mar del Plata offiziell
beerdigt. Stattdessen starteten die Linksregierungen neue Projekte der
Regionalkooperation ohne die USA. So unbehelligt wie in den letzten 15
Jahren hatten sich progressive Regierungsversuche in Lateinamerika kaum je
entwickeln können.
## Starke Ungleichheit
Und doch blieben die meisten hinter den Erwartungen weit zurück. Zwar
konnten alle so regierten Länder schnell mit einigen Fortschritten glänzen:
Die Sozialdaten besserten sich, Bildungs- und Gesundheitswesen wurden für
die armen Bevölkerungsteile zugänglicher, in Brasilien schafften Millionen
von Ausgeschlossenen den Weg zu bescheidenem materiellem Wohlstand. Doch
die Ungleichheit blieb in allen Ländern nahezu unverändert hoch.
Zwar setzten jene Länder, die über natürliche Ressourcen verfügten, auf
eine stärkere staatliche Abschöpfung der Erlöse, vor allem in Venezuela,
aber auch in Ecuador und Bolivien. Es wurde großzügig umverteilt, und so
sicherten sich die Regierungen gleichzeitig ihre Machtbasis in den
Armenvierteln, wo die Menschen auf jene Art der Unterstützung angewiesen
waren.
Die Struktur dieser Wirtschaften aber, meist reine Rentenökonomien, die vom
Verkauf einiger weniger Rohstoffe auf dem Weltmarkt abhängen, blieb überall
dieselbe. Die Abhängigkeit wurde sogar noch ausgebaut – und das erschien
angesichts des Booms der Rohstoffpreise und des großen chinesischen
Kaufinteresses vollkommen logisch.
Diese alsbald Neoextraktivismus titulierte Wirtschaftspolitik geriet jedoch
in dem Moment in die Krise, als die Preise wieder fielen. Venezuela hatte
es sich dank des hohen Ölpreises leisten können, die eigene Produktion zu
vernachlässigen – staatlich regulierte Preise für Agrarerzeugnisse sorgten
zusätzlich dafür, dass die Lebensmittelerzeugung unattraktiv wurde.
Venezuela muss heute außer Öl fast alles einführen – und mit schwindenden
Öleinnahmen führt das zu leeren Supermarktregalen.
## Geschichte ist nicht zu Ende
Ecuador hat in Correas Regierungszeit den Staat ständig weiter aufgebläht –
effizienter ist er nicht geworden. Und auch Correas Erfolg hängt am Öl.
Schon lange bevor das Projekt, die Ölreserven in einem Teil des
Yasuni-Nationalparks gegen internationale Kompensationszahlungen nicht
auszubeuten, offiziell beendet wurde, war es zur Makulatur geworden –
einfach weil bereits so viel zukünftig zu förderndes Öl an China verkauft
war, dass man darauf gar nicht mehr hätte verzichten können.
Umweltorganisationen, die gegen die Ausbeutung ein Referendum
organisierten, wurden und werden durch Betrug und Repression ausgebremst.
Die weltweite Linke, nach dem Ende des Staatssozialismus sowjetischer
Prägung um ein Alternativmodell gebracht, hätte es gern gesehen, wenn in
Lateinamerika funktionierende Alternativen zum Neoliberalismus entstanden
wären. Aber das hat nicht geklappt. Personenkult, Korruption und ein
bestenfalls dialektisches Verhältnis zu demokratischen Spielregeln sind
zwar wahrlich keine ausschließlichen Merkmale der Linken in Lateinamerika,
im Gegenteil. Nur kann der Neoliberalismus damit gut leben – für
emanzipatorische Projekte aber sind sie der Tod.
Nein, die Geschichte war nicht 1990 zu Ende, und sie ist es auch heute
nicht. Wenn es so kommen sollte, dass weitere linke Regierungen in den
nächsten Jahren die Macht wieder verlieren, kann das in einigen Ländern
auch die Chance zur Neufindung von Parteien sein, die in der
Regierungsverantwortung degeneriert sind. Die Zeche für den Rollback, den
die Rechten in der Zwischenzeit inszenieren, bezahlen wiederum die Armen.
28 Nov 2015
## LINKS
[1] /Stichwahl-in-Argentinien/!5254735
[2] /Nachruf-Hugo-Chavez/!5071932
[3] /Petrobras-Skandal-in-Brasilien/!5255530
[4] /Praesidentschaftswahl-in-Uruguay/!5027323
## AUTOREN
Bernd Pickert
## TAGS
Lateinamerika
Argentinien
Kanal
Nicaragua
Nicaragua
Schwerpunkt Polizeigewalt und Rassismus
Nicaragua
Argentinien
Karneval
Argentinien
Guatemala
Kuba
Venezuela
Argentinien
Brasilien
Ecuador
Venezuela
Venezuela
Ecuador
Brasilien
Lateinamerika
Argentinien
Argentinien
Bolivien
## ARTIKEL ZUM THEMA
Anschlag auf jüdische Gemeinde 1994: Argentiniens Menem freigesprochen
Mitte der 90er explodierte eine Bombe vor einem jüdischen Gemeindehaus in
Argentinien. Nun wurden 13 Angeklagte verurteilt, der Expräsident dagegen
nicht.
Kanalbau in Mittelamerika: Damoklesschwert über Nicaragua
Von der Karibikküste bis zur Mündung des des Río Brito auf der Pazifikseite
soll „El Gran Canal“ gehen. Er stößt auf Kritik, auch bei Ernesto Cardena…
Demokratie in Nicaragua: Auf dem Weg zur Dynastie
Seit Jahren steht Rosario Murillo als First Lady im Zentrum der Macht.
Jetzt will Daniel Ortega seine Frau zur Vizepräsidentin machen.
Friedensaktivisten in Nicaragua: Eine wilde, spannende Zeit
Vor 30 Jahren kamen acht junge Deutsche frei. Sie gehörten zur
Solidaritätsbewegung für das freie Nicaragua – und wurden deshalb von den
Contras entführt.
Proteste gegen Bildungsreformen in Chile: Showdown in Valparaíso
Im Kongress zieht die chilenische Präsidentin ihre Jahresbilanz – draußen
toben gewalttätige Demos: Brände, Plünderungen, Festnahmen.
Umstrittenes Projekt Nicaragua-Kanal: Der Albtraum vom Kanal
Ein chinesischer Investor will in Nicaragua einen Kanal vom Pazifik zum
Atlantik bauen. Viele Anwohner hätten keine Lebensgrundlage mehr.
Streik in Argentinien: Proteste gegen Entlassungswelle
In Argentinien wird landesweit gegen Entlassungen demonstriert. Viele
Beschäftige im öffentlichen Dienst legten ihre Arbeit nieder.
Karneval in Uruguay: Eine Murga kann sich jeder leisten
Von Januar bis März wird in Montevideo getrommelt. Doch die Murga, eine
politisch-satirische Straßenoper, gibt es das ganze Jahr über.
Stromtarife in Argentinien: 700 Prozent höher
Die neue, konservative Regierung streicht die Subventionen für Strom im
Großraum Buenos Aires. Die Kosten erhöhen sich drastisch.
Verhaftungen in Guatemala: Offensive gegen schwerste Verbrechen
Für Menschenrechtsaktivsten ist es ein historischer Tag in Guatemala: Die
Staatsanwaltschaft verhaftet 14 hochrangige Ex-Militärs wegen Massakern.
Wirtschaftliche Entwicklung in Kuba: Wachstum für alle? 2016 eher nicht
Trotz besserer Beziehungen zu den USA steht Kuba ein hartes Jahr bevor. Es
muss gespart werden. Die geplanten Reformen ziehen bislang nicht.
Nach der Parlamentswahl in Venezuela: Die Pläne der Wahlgewinner
Ab dem 5. Januar kontrolliert die frühere Opposition das Parlament
Venezuelas. Jetzt hat sie ihre Prioritäten für die künftige Politik
vorgestellt.
Nach der Wahl in Argentinien: Proteste gegen Macri
Eine Woche nach dem Amtsantritt erlebt der konservative Präsident Mauricio
Macri erste Proteste. Gründe dafür gibt es mehrere.
Proteste in Brasilien: Jetzt für Rousseff
In mehreren Städten protestieren Zehntausende gegen die geplante Absetzung
von Präsidentin Dilma Rousseff. Zuvor demonstrierten bereits deren Gegner.
Debatte Umweltpolitik in Ecuador: Global heucheln, lokal bohren
In Paris forderte Ecuadors Präsident einen Internationalen
Umweltgerichtshof. Zu Hause geht Rafael Correa gnadenlos gegen Aktivisten
vor.
Kommentar zur Wahl in Venezuela: Nicht das Ende der Geschichte
Der Chavismus hat das Vertrauen der Mehrheit der VenezolanerInnen verloren.
Doch die Opposition bietet auch keine Alternativen.
Wahl in Venezuela: Wie viel Staat darf es sein?
Die Wirtschaft ist am Boden, die Venezolaner sind unzufrieden und die
Opposition uneins. Doch die Regierung ist hilflos.
Verfassungsänderungen in Ecuador: Durchmarsch der Regierungspartei
Unbeschränkte Wiederwahlmöglichkeit, mehr Kontrolle über Medien: Präsident
Correa sichert sich mit 15 Verfassungsänderungen die Macht ab.
Petrobras-Skandal in Brasilien: Fraktionschef verhaftet
Ein Senator der Regierungspartei, ein Banker und ein Anwalt wurden
festgenommen. Sie sollen die Ermittlungen in dem Skandal behindert haben.
Progressive Politik in Lateinamerika: Das linke Projekt in Endzeitstimmung
Der Wahlsieg der Konservativen in Argentinien ist ein Umbruchsignal für den
ganzen Kontinent. Viele linke Regierungen sind am Ende.
Kommentar Wahl in Argentinien: Die Chance, sich neu aufzustellen
Nach zwölf Jahren ist der „kirchnerismo“ abgewählt. Die Linke muss es jet…
schaffen, den wachstumsfixierten Mainstream zu durchbrechen.
Stichwahl in Argentinien: Neue Rechte siegt
Mauricio Macri wird argentinischer Präsident. Er vertritt eine neue,
neoliberale Rechte, die sich demokratisch legitimiert.
Besuch des bolivianischen Präsidenten: Kuschel-Session mit Evo
Evo Morales galt anfangs als Symbolfigur für den linken Widerstand in
Lateinamerika. Jetzt wird er Vorkämpfer für Wirtschaftsinteressen.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.