| # taz.de -- Wahl in Venezuela: Wie viel Staat darf es sein? | |
| > Die Wirtschaft ist am Boden, die Venezolaner sind unzufrieden und die | |
| > Opposition uneins. Doch die Regierung ist hilflos. | |
| Bild: Unterstützerinnen von Präsident Nicolas Maduro mit den Augen von Hugo C… | |
| Buenos Aires taz | Vieles kann man am Chávismus kritisieren, nur nicht, | |
| dass er sich seine Legitimation regelmäßig an den Wahlurnen einholt. Zum | |
| 20. Mal seit Hugo Chávez 1989 das Präsidentenamt übernahm, gehen die | |
| VenezolanerInnen am Sonntag landesweit wieder zur Wahl. Gut möglich, dass | |
| sich der 2013 verstorbene Chávez am Wahlabend im Grab umdreht: Venezuelas | |
| Rechte scheint vor einem Sieg zu stehen. Seit Wochen sagen die Umfragen der | |
| Opposition einen triumphalen Erfolg bei der Abgeordnetenwahl für die | |
| Nationalversammlung vorher. | |
| Ihre AnhängerInnen glauben so sehr an den Sieg, dass eine Niederlage nicht | |
| einkalkuliert ist. Auch der sonst zurückhaltende ehemalige | |
| Präsidentschaftskandidat Henrique Capriles gibt sich siegessicher. „Ein | |
| Sieg der Regierung ist unmöglich.“ Doch die Anzeichen mehren sich, dass es | |
| am Ende knapp werden könnte. | |
| Zentrales Wahlkampfthema war lange die seit über zwei Jahren anhaltende | |
| katastrophale Wirtschafts- und Versorgungslage. Doch seit dem Mord an dem | |
| Lokalpolitiker Luis Manuel Díaz von der oppositionellen | |
| sozialdemokratischen Partei Acción Democrática überschattet die Gewalt den | |
| Wahlkampf. Luis Manuel Díaz war am 26.November bei einer | |
| Wahlkampfveranstaltung im Bundesstaat Guárico auf der Bühne erschossen | |
| worden. | |
| Wenige Meter neben Díaz stand Lilian Tintori, die Ehefrau des inhaftierten | |
| Oppositionspolitikers Leopoldo López von der rechtskonservativen Partei | |
| Voluntad Popular (Volkswille). Auch wenn sie nicht kandidiert, hat sich | |
| Tintori seit der Verhaftung ihres Mannes im Februar 2014 zu einer führenden | |
| Figur des harten Flügels der Opposition entwickelt. | |
| ## Das Dilemma der Opposition | |
| Doch gerade in ihr spiegelt sich das ganze Dilemma der Opposition. Sie ist | |
| weder Politikerin noch Wirtschaftsexpertin, außer der Forderung nach dem | |
| Abgang der Regierung von Präsident Maduro und der Freilassung der 2014 | |
| inhaftierten Oppositionellen bietet sie keine Alternative zu den | |
| regierenden Chavistas. | |
| Der kleinste gemeinsame Nenner des oppositionellen Bündnisses Tisch der | |
| demokratischen Einheit ist die Ablehnung der chavistischen Regierung und | |
| ihres Präsidenten Maduro. Schon bei der Frage, wie Regierung und Präsident | |
| aus ihren Ämtern scheiden sollen, regiert die Uneinigkeit. Der harte Flügel | |
| um María Corina Machado, Leopoldo López und Antonio Ledezma setzt auf den | |
| Druck der Straße. | |
| Dieses zeigte sich offen im Januar 2014, als die drei zum Gang auf die | |
| Straße aufriefen und so die Protestwelle des vergangenen Jahres mit | |
| anstießen. An deren Ende 43 Menschen tot waren, über 600 verletzt und 3.500 | |
| verhaftet wurden – die Regierung aber saß fest im Sattel. Die | |
| Mobilisierungskraft des harten Flügels der Opposition ist heute deutlich | |
| geschwächt. | |
| Machado wurde aus der Nationalversammlung geworfen, López zu fast 14 Jahren | |
| Haft verurteilt und Ledezma steht gegenwärtig vor Gericht und unter | |
| Hausarrest. Als wählbare Alternative hat dieser Teil der Opposition für die | |
| breite Masse nichts anzubieten. | |
| ## Die angebliche Bombe | |
| Bleibt der gemäßigte Flügel um Henrique Capriles. Auch der hatte es im | |
| Wahlkampf vermieden ein alternatives Projekt zur Abstimmung vorzustellen. | |
| Stattdessen erging er sich in allgemeinen Aussagen, wie Venezuela sei eine | |
| Bombe, die jederzeit explodieren könne und die Wahl am Sonntag sei ein | |
| Ventil, um den Druck zu mildern. | |
| Schaut man auf die Wirtschaftsdaten, kommt jedoch tatsächlich nichts | |
| anderes als eine Wahlschlappe der regierenden Chavistas in Frage. Für die | |
| bereits arg gebeutelte Ökonomie rechnet die UN-Wirtschaftskommission für | |
| Lateinamerika und die Karibik mit einem weiteren Einbruch von sieben | |
| Prozent des Bruttoinlandprodukts. Die Inflationsrate könnte schon bald die | |
| 200-Prozent-Hürde überspringen und die Devisenknappheit treibt den Verfall | |
| der heimischen Währung immer schneller voran. Hinzu kommt die Abhängigkeit | |
| von Lebensmittelimporten, die sich wegen der fehlenden Devisen in einer | |
| sich ausdehnende Leere in den Regalen und langen Schlangen vor den | |
| Supermärkten ausdrückt. | |
| 90 Prozent der staatlichen Einnahmen stammen aus dem Ölgeschäft. Im | |
| Staatshaushalt klafft mittlerweile ein riesiges Loch, denn der Etat wurde | |
| auf der Basis eines Ölpreises von 60 Dollar pro Fass erstellt. Nach Angaben | |
| des Erdölministeriums erreichte das Fass Öl Ende November seinen bisherigen | |
| Tiefstand von knapp 35 Dollar. | |
| Auch wenn das OPEC-Mitglied Venezuela mit seinen täglich rund 3 Millionen | |
| Fass Öl nach wie vor an fünfter Stelle der wichtigsten Erdölexportländer | |
| liegt und davon etwa 2,5 Millionen Fass vor allem an die in die USA und | |
| China verkauft, gab Präsident Maduro Anfang November bekannt, dass die | |
| Deviseneinnahmen aus dem Ölgeschäft im laufenden Jahr um 64 Prozent | |
| zurückgegangen sind. | |
| ## Die Regierung ist hilflos | |
| Keine Regierung der Welt könnte einen solchen Einbruch vertragen. Doch die | |
| Reaktion der Regierung Venezuelas vermittelt vor allem eines: | |
| Hilfslosigkeit. In Sachen Wirtschaft ist Nicolás Maduro zum | |
| Ankündigungspräsidenten verkommen. Kaum ein Tag vergeht, ohne dass er nicht | |
| neue Initiativen und neue Kommissionen ankündigt, von denen die wenigsten | |
| um- oder eingesetzt werden. | |
| Das prominenteste Beispiel dafür ist der Benzinverkauf im eigenen Land. Das | |
| Trinkgeld für den Tankwart liegt meist über dem Preis für den vollen Tank. | |
| Zaghaft hatte Maduro eine Debatte über den Benzinpreis angekündigt und über | |
| dessen Anhebung die Staatskasse entlastet werden sollte. Passiert ist | |
| nichts. | |
| Alle außenpolitischen Versuche von Maduro, die OPEC zu einer Senkung der | |
| Förderquoten zu bringen, um so den Preisverfall zu stoppen, sind | |
| gescheitert. Gebetsmühlenartig wird der Wirtschaftskrieg der rechten | |
| Bourgeoisie als wesentlicher Grund für die Misere gegeißelt. Ebenso der | |
| Schmuggel von subventionierten Lebensmitteln und Benzin in die | |
| Nachbarländer. Beides ist keine pure Propaganda. Die staatliche | |
| Subventions- und Währungspolitik bietet beim illegalen Handeln und Horten | |
| immense Profite. Weshalb seit Anfang September die Grenze zu Kolumbien | |
| geschlossen ist. Offen ist, wie lange und in welcher Form sich der | |
| venezolanische Staat seine Subventionspolitik überhaupt noch leisten kann. | |
| Kein Wunder, dass der Opposition ein hoher Sieg vorhergesagt wird. Oscar | |
| Schémel sieht dies anders. Der Leiter des Meinungsforschungsinstituts | |
| Hinterlaces beobachtet bei der Sonntagsfrage einen ganz anderen Trend: „Der | |
| Chavismus ist der einzig wachsende Wahlteilnehmer, die Opposition tritt auf | |
| der Stelle, in einigen Wahlbezirken hat sie sogar Verluste.“ Schémel | |
| prognostiziert einen äußerst knappen Wahlausgang, bei der zukünftigen | |
| Sitzverteilung könnte die Regierung sogar die Nase vorn haben. | |
| ## Vorsichtige Annäherung | |
| Warum? Der Chavismus habe die Gesellschaft nachhaltig verändert, er habe | |
| den hegemonialen Kampf um die Ideen gewonnen. „Venezuela ist kulturell und | |
| politisch chavistisch“, so Schémel. Und auf dieser Grundlage stelle die | |
| Opposition keine Alternative vor, mit der sie eine Mehrheit für sich | |
| mobilisieren könnte. Die Stimmen, die sie holt, sind die Stimmen der | |
| Unzufriedenen. | |
| Zwar sei die Wirtschafts- und Versorgungslage das entscheidende Thema, aber | |
| auf die Frage, ob Präsident Maduro die Probleme lösen soll oder eine | |
| Regierung der rechten Opposition, würden 60 Prozent Maduro vorziehen. Über | |
| 70 Prozent der Venezolaner wollten eine gemischte Wirtschaft, soziale | |
| Gerechtigkeit und einen starken Staat als Regulator. Die Mehrheit definiere | |
| sich als sozialistisch und humanistisch, sehe diese Werte als Vermächtnis | |
| von Chávez an und bewerte die Ära Chávez positiv. | |
| Dennoch sieht Schémel eine Annäherung. Die Chavistas beginnen einzusehen, | |
| dass es mit dem Staat allein nicht geht. Und die Opposition begreift, dass | |
| der Markt allein nicht genügt. An diesen Berührungspunkten bilde sich ein | |
| nationaler Konsens heraus. Nur die Anführer beider Seiten würden sich noch | |
| nicht bewegen, so Schémel. | |
| 5 Dec 2015 | |
| ## AUTOREN | |
| Jürgen Vogt | |
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