| # taz.de -- Friedensaktivisten in Nicaragua: Eine wilde, spannende Zeit | |
| > Vor 30 Jahren kamen acht junge Deutsche frei. Sie gehörten zur | |
| > Solidaritätsbewegung für das freie Nicaragua – und wurden deshalb von den | |
| > Contras entführt. | |
| Bild: 15. Juli 2016: Der Jahrestag der Sandinistischen Revolution wird in Nicar… | |
| Reingard Zimmer war gerade 18 Jahre alt, als sie im Frühjahr 1986 nach | |
| Nicaragua reiste. „Ich war neugierig und wollte wissen, wie der Alltag in | |
| einem revolutionären Land funktioniert“, sagt sie heute – 30 Jahre später. | |
| Vor Ort will sie mit aufbauen, was die Konterrevolutionären Truppen, die | |
| sogenannten Contras, zerstören. Sie schließt sich einer der vielen Brigaden | |
| an, die sich solidarisch mit dem revolutionären Nicaragua zeigen. Ihr | |
| Einsatzort ist Jacinto Baca im Südosten des Landes. | |
| Die Bedingungen vor Ort sind minimalistisch. Zu Essen gibt es fast nur Reis | |
| und Bohnen. Das Brigadenhaus ist einfach, ohne fließend Wasser oder Strom. | |
| Sie schlafen in Hängematten, eine Latrine vor der Tür, eine Kochstelle im | |
| Freien, einen Bach zum Waschen. Unter den Bodendielen ist ein Refugium | |
| ausgehoben, ein Unterschlupf zur Sicherheit, sollte die Contras angreifen. | |
| „Es war wild und spannend“, sagt sie und lacht laut während ihrer | |
| Mittagspause in einem kleinen Café. Die junge Brigadistin von 1986 lehrt | |
| heute an der Hochschule für Wirtschaft und Recht in Berlin, hält Vorträge | |
| über die Auswirkungen des geplanten TTIP-Abkommens auf Arbeits- und | |
| Sozialstandards. | |
| ## Kooperative im Kriegsgebiet | |
| „Über die Sicherheitslage hatten wir damals sehr viel diskutiert. Es war ja | |
| eine landwirtschaftliche Kakaokooperative im Kriegsgebiet“, erinnert sich | |
| Zimmer. Der direkte Arbeitseinsatz im Land gehörte zum Konzept der | |
| Aktivisten. Ebenso wie der Schutz der lokalen Bevölkerung durch die | |
| Anwesenheit internationaler „Brigadistas“. | |
| Ein Mechanismus, der bis heute an weltweiten Brennpunkten funktioniert: | |
| Stößt internationalen Friedens- und Menschenrechtsaktivisten etwas zu, | |
| bedeutet das Ärger auf internationaler Ebene – diplomatische | |
| Verstrickungen, die die meisten Länder scheuen. | |
| Der Begriff „Brigaden“ war bewusst gewählt. Er bezog sich auf die | |
| Internationalen Brigaden, die 1936 nach Spanien gereist waren, um dort die | |
| Republik gegen Franco zu verteidigen. | |
| Zimmer und ihre Brigade waren damals Teil einer gesellschaftlich breit | |
| aufgestellten Solidaritätsbewegung für das sandinistische Nicaragua, die in | |
| den Achtziger Jahren neben der Friedens-, der Anti-AKW- und mancherorts | |
| auch der Hausbesetzer-Bewegung den widerständigen Alltag der Bundesrepublik | |
| prägten. | |
| ## Wirtschaftsblockade | |
| Im Juli 1979, nach dem Sturz von Anastasio Somoza Debayle, dem verhassten | |
| letzten Diktator des Somoza-Clans, unter dessen Herrschaft das | |
| mittelamerikanische Land schamlos ausgeplündert worden war, versprach die | |
| siegreiche Sandinistische Nationale Befreiungsfront (FSLN) ein unabhängiges | |
| Nicaragua aufzubauen, soziale Gerechtigkeit mit sozialistischen | |
| Grundpfeilern, außerhalb des Sowjetblocks. | |
| Die US-Regierung jedoch sah in den Sandinisten eine Gefahr für ihre | |
| nationale Sicherheit, fürchtete ein zweites Kuba, und sorgte für ein Heer | |
| von „Freiheitskämpfern“, den Contras. | |
| Diese von den USA finanzierten Contras verübten Terroranschläge, verminten | |
| Häfen, brannten Schulen und Gesundheitszentren nieder, zerstörten | |
| landwirtschaftliche Kooperativen oder Kaffeeplantagen. Dazu verhängte die | |
| USA eine weitreichende Wirtschaftsblockade gegen Nicaragua. | |
| Die Bundesregierung unter Helmut Kohl stand politisch aufseiten von | |
| US-Präsident Ronald Reagan. Man wollte es sich mit dem Bündnispartner nicht | |
| verscherzen. | |
| 1986 ist die Euphorie für das sozial gerechte Modell Nicaragua in der | |
| Bevölkerung längst einem Überlebenskampf gewichen. Die Läden sind leer, | |
| außer notwendigen Grundnahrungsmitteln sind andere Waren nur schwer zu | |
| bekommen. | |
| ## Angriff der Contras | |
| Bei den Angriffen der Contras sterben Tausende: Lehrerinnen im Unterricht, | |
| Ärzte und Krankenschwestern in Gesundheitszentren, Bäuerinnen und Bauern in | |
| den landwirtschaftlichen Kooperativen. Soldaten auf beiden Seiten. | |
| Und doch oder gerade deswegen reisen seit Ende 1983 noch immer Tausende | |
| nach Nicaragua. Auch aus der Bundesrepublik Deutschland. Sie kommen aus | |
| Kirchengemeinden, aus Friedens- oder Gewerkschaftsgruppen, aus | |
| Nachbarschaftsvereinen oder der linksalternativen Szene, aus der | |
| Hausbesetzer- und Anti-Akw-Bewegung, aus Unterstützergruppen nationaler | |
| Befreiungs- und Unabhängigkeitsbewegungen aus und linksradikalen Gruppen. | |
| Das Informationsbüro Nicaragua in Wuppertal organisiert für die unabhängige | |
| Solidaritätsbewegung die Reisen der Arbeitsbrigaden, auch der Brigade von | |
| Reingard Zimmer. | |
| 17. Mai 1986. Dominik Diehl sitzt auf den Holzplanken vor dem Brigadenhaus. | |
| Daran erinnert er sich 30 Jahre später. Er war damals 24 Jahre alt, | |
| studierte in Berlin Medizin, hatte sich ein Freisemester genommen und war | |
| mit der Brigade nach Jacinto Baca gereist. | |
| Er habe Nachtwache geschoben und sich damit beschäftigt die Geräusche der | |
| Tropen für sich einzuordnen, als plötzlich in der Ferne Lichter aufgetaucht | |
| seien, sagt er. Dieser Moment bewegt ihn noch heute, trotz wohlbehüteter | |
| Umgebung am Küchentisch seiner Neubauwohnung. | |
| ## Überall Schüsse | |
| Recht schnell sei ihm damals klar geworden, dass da etwas nicht stimme. | |
| Verunsichert weckt er die anderen. Dann: überall Schüsse. „Ich hatte | |
| eigentlich damit gerechnet, dass wir das nicht überleben“, sagt er. | |
| Auch Reingard Zimmer erinnert sich an diesen Moment: „Es war klar, jetzt | |
| greift die Contra die Kooperative an. Wir sind schnell ins Refugium nach | |
| unten und haben der Dinge geharrt, die da so kommen würden.“ Im stickigen | |
| Unterschlupf hoffen sie, die Schießerei möge vorbeigehen und die Miliz von | |
| Jacinto Baca die angreifenden Contras zurückdrängen. Aber es kommt anders. | |
| Die „Alemanes“ sollen rauskommen, rufen die Angreifer. Sie befolgen den | |
| Befehl. Ein Brigadist wird angeschossen, und drei aus der Gruppe können | |
| fliehen. Die restlichen acht Brigadistas werden als Geiseln von den Contras | |
| verschleppt. | |
| Die Entführung wird zu einer Herausforderung für die deutsche Regierung. | |
| Das Auswärtige Amt bildet einen Krisenstab. In Managua besetzen rund 70 | |
| Internationalistas – wie sich die ausländischen UnterstützerInnen damals | |
| nennen – zwei Tage lang die Deutsche Botschaft. | |
| Sie verlangen, die Bundesregierung solle die US-Regierung dazu auffordern, | |
| den Contras zu befehlen, die Entführten freizulassen. In Deutschland | |
| schreiben Angehörige und Solidaritätsgruppen offene Briefe, sie | |
| organisieren Kundgebungen vor US-Konsulaten, dem Auswärtigen Amt, besetzen | |
| öffentliche Räume, eine Gruppe der Angehörigen tritt in einen Hungerstreik. | |
| Unterstellung | |
| Die konservative Presse verbreitet unterdessen die von US-Außenminister | |
| George Shultz lancierte Ansage, nach der die acht deutschen Aufbauhelfer | |
| als militärische Kämpfer bezeichnet werden. | |
| Reingard Zimmer empörte sich schon damals über diese Unterstellung: „Wir | |
| waren zum Zeitpunkt unserer Entführung vollkommen unbewaffnet.“ Isoliert | |
| von der Außenwelt werden die acht von Weiler zu Weiler verschleppt, | |
| bekommen unregelmäßig zu essen, schlafen in Hängematten oder auf dem Boden. | |
| Die Angst bleibt ihr ständiger Begleiter. Sie versteht als Einzige der | |
| Gruppe einigermaßen Spanisch. Sie wird Sprecherin, muss zum täglichen | |
| Rapport. | |
| ## Befreiung | |
| Nach über zwei Wochen erfolgloser Verhandlungen schickt Hans-Dietrich | |
| Genscher seinen Büroleiter Michael Jansen als Unterhändler nach | |
| Tegucigalpa, die Hauptstadt von Honduras, begleitet vom Leiter der | |
| Internationalen Abteilung der Konrad-Adenauer-Stiftung, Josef Thesing. | |
| Dessen Kontakte zu den in Honduras sitzenden Contra-Führungsspitzen sollen | |
| die Gespräche erleichtern. | |
| Nach Managua reist SPD-Politiker Hans-Jürgen Wischnewski, um dort mit den | |
| Sandinisten zu verhandeln. Dann, am 6. Juni, scheitert die erste | |
| vereinbarte Übergabe der Geiseln. Der Helikopter des sandinistischen Heeres | |
| mit Wischnewski an Bord kann nicht landen und muss unverrichteter Dinge | |
| umkehren. | |
| Die Unsicherheit bei den Geiseln wächst. Drei lange und angstvolle Wochen | |
| ziehen ins Land bis sich endlich auch der Bundestagspräsident und die | |
| Fraktionsvorsitzenden von CDU/CSU, SPD und FDP zu einer Botschaft an den | |
| US-Kongress und den Senat aufraffen. Darin bitten sie die US-Instanzen, | |
| alle verfügbaren Möglichkeiten verstärkt zur baldigen und sicheren | |
| Freilassung der acht deutschen Staatsbürger einzusetzen. | |
| 10. Juni 1986. Unweit des kleinen Orts Presillitas lassen die Contras die | |
| Geiseln schließlich frei. „Die brachten uns zu einem Fluss“, erzählt | |
| Dominik Diehl. „Gegenüber sollte uns ein Pfarrer abholen. Und ich dachte, | |
| entweder werden wir jetzt Kugeln in den Rücken kriegen oder von vorne | |
| erschossen. Das waren die schwersten Schritte, die ich in meinem Leben | |
| gemacht habe. Doch dann war da tatsächlich ein Pfarrer.“ | |
| Die Erinnerung an diese Tage ist sowohl bei Diehl als auch bei Zimmer noch | |
| sehr präsent. Dabei gewesen zu sein, auch wenn der Versuch letztlich | |
| scheiterte, habe für sie große Bedeutung gehabt. | |
| „Sicherlich“, meint Diehl nachdenklich, „waren wir damals viel unkritisch… | |
| was linke Gesellschaftsmodelle anbelangt. Danach haben wir das Scheitern | |
| der realsozialistischen Systeme erlebt. Da sind unschöne Dinge zu Tage | |
| gekommen. Ein neuer, ernstgemeinter Versuch, die Welt zu verändern zu mehr | |
| Partizipation, zu mehr Gleichheit und zu mehr Gerechtigkeit muss die | |
| gemachten Erfahrungen berücksichtigen und verhindern, dass sich | |
| diktatorische, also sprich stalinistische Systeme je wieder etablieren | |
| können.“ | |
| 19 Jul 2016 | |
| ## AUTOREN | |
| Erika Harzer | |
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