# taz.de -- Reisebericht aus Nicaragua: Taumel und Euphorie | |
> Revolution, Bürgerkrieg und Iran-Contra-Affäre sind längst Geschichte. | |
> Und doch tut sich in Nicaragua Unglaubliches. Ein Reisebericht. | |
Bild: Ein maskierter Tänzer am Tag des Heiligen Sebastian | |
Zu Beginn schreien die Vögel. Zu Tausenden sitzen sie auf den Bäumen vor | |
dem Augusto-César-Sandino-Flughafen von Managua und stoßen kurze, spitze | |
Kreischer aus, die verschmelzen zu einem unablässigen Schrei. Auf dem Weg | |
in die Stadt wird es rasch dunkel und an der sechsspurigen Einfallstraße | |
scheinen Bäume auf. Gelb, rot, blau, grün, groß und aus Metall, erleuchtet | |
von einer Vielzahl kleiner LED-Lichter – und kein Vogel traut sich, auf | |
ihnen zu sitzen. Dazwischen stehen angestrahlte Riesenplakate, auf rosa | |
Grund ist der einstige Revolutionär und inzwischen ewige Staatspräsident | |
Daniel Ortega zu sehen, zusammen mit seiner Frau, der Dichterin Rosario | |
Murillo, die soeben zur Vizepräsidentin ernannt wurde. | |
Auffällig sind auch die vielen großen, modernen Tankstellen. Am zentralen | |
Kreisverkehr ragt eine Lichtskulptur auf, über einer bunten Aztekensonne | |
thront der verstorbene venezolanische Präsident Hugo Chávez, gezeichnet als | |
Cartoon und farbtief beleuchtet. Schon zum dritten Mal fahren wir um ihn | |
herum, wir können unsere Unterkunft nicht finden. Seit dem schweren | |
Erdbeben 1972, das Managua zu 90 Prozent zerstört hatte, sind die Straßen | |
in der Hauptstadt kompliziert bezeichnet, und auch Apple und Google helfen | |
nicht richtig. | |
Dieses große Beben hatte indirekt die sandinistische Revolution beflügelt, | |
denn Diktator Anastasio Somoza, der sein Land in dritter Generation brutal | |
unterdrückte und ausbeutete, war dreist genug, auch die internationalen | |
Hilfsgelder in sein Familienvermögen einzugliedern. Mit den wichtigen | |
Reisegefährten Geduld und Glück schaffen wir es schließlich im feinen | |
Viertel Bolonia, ein wenig den Hügel hinauf, das Pandora Hostel zu finden. | |
Auf einem ersten Spaziergang später am Abend ist es schon so dunkel und so | |
leer in den kleinen Straßen, dass mein Begleiter und ich zurück auf der | |
einen großen Straße landen und vorbei am Comic-Comandante Chavez hinunter | |
zur Plaza de la Revoluciòn gehen. Auch hier sind nur noch wenige Menschen | |
unterwegs. An der Ecke vor dem Centro Cultural liegt einer auf dem Boden | |
und genießt seinen Rausch, zumindest sieht sein Gesicht so aus. Die Alte | |
Kathedrale, seit dem Erdbeben eine Ruine, ist in rosa, grün, blau, rot | |
erleuchtet. Im Park gegenüber drängen sich die Denkmale verstorbener | |
Revolutionshelden. | |
## Die Reagans überlebt | |
Nur Daniel Ortega und Rosario Murillo schauen munter von ihrem Plakat. | |
Ortega mit Oberlippenbart hat eine graue Jacke über seinem blauen T-Shirt | |
an, seine rechte Hand ist zur Faust erhoben. Murillo, der Exzentrik und | |
Esoterik vorgeworfen wird, ist stark geschminkt. Sie trägt ein buntes | |
Oberteil, einen Hut und viel Schmuck. Die Frau mag Farben, und sie ist es, | |
die für die bunten Bäume verantwortlich ist, sogenannte Lebensbäume, einem | |
Bild von Gustav Klimt nachempfunden. Ihre Erzfeinde, die Reagans, haben sie | |
überlebt. | |
Obwohl Ortega 1990 sein Präsidentenamt verlor, eroberte er es siebzehn | |
Jahre später mit Hilfe seiner Frau und der katholischen Kirche zurück. | |
Christlich, sozialistisch, solidarisch lautet jetzt das Motto. Am Ende der | |
Straße sehe ich drei Gestalten, die auf den am Boden Liegenden eintreten, | |
und schon sind sie verschwunden. Es ist eine mondlose Nacht. In den | |
nächsten drei Wochen wird dieser Reise neben all den Farben, dem Trubel und | |
der Fröhlichkeit auch das Dunkle bleiben. | |
Am nächsten Morgen aber scheint die Sonne vom hellblauen Himmel. Die Straße | |
nach Las Penitas führt über sieben Hügel, während der Pazifik bereits in | |
die Windschutzscheibe blitzt. Am Straßenrand stehen Kinder und schauen dem | |
einzigen Auto hinterher. Wir überholen Ochsenkarren und Pferdefuhrwerke. | |
Ein Leben wie vor fünfzig Jahren sei es hier, sagen unsere Gastgeber, ein | |
junges Paar aus Spanien, das wegen der Wirtschaftskrise ausgewandert ist. | |
Der metallisch glänzende Strand streckt sich weit, wir haben ihn fast für | |
uns allein. Mächtig und von Schaum gekrönt rollen die Wellen. Das Dorf | |
verteilt sich langgezogen an einer Straße ohne Durchgangsverkehr. „Hola!“ | |
Alle Passanten grüßen. „Hola!“ Die Menschen wirken zufrieden und nicht | |
gestresst, obwohl Nicaragua nach Haiti das zweitärmste Land der westlichen | |
Hemisphäre ist. | |
## Geier schnappen | |
Am Ende der Dorfstraße, wo die Fischer ihre Boote anlanden, färbt Blut den | |
Strand. Kleine Jungen sitzen mit großen Macheten und mit leeren Gesichtern | |
im Sand und zerteilen Fische. Wartende Geier schnappen nach weggeworfenen | |
Innereien. Auf dem Rückweg entdecken wir einen gelben Schriftzug, | |
Evacuation Route, Tsunami. Stehen deshalb vor so vielen Häusern Schilder | |
„Zu Verkaufen“? Am Abend kommt die Dunkelheit plötzlich und fast ohne | |
Dämmerung, dann fällt der Strom aus und ist erst am nächsten Morgen wieder | |
da. | |
Ich stehe mit dem ersten Licht auf und laufe los, wie ein zu lange | |
Eingesperrter. Golden und warm ist die Sonne zurück. Vereinzelte | |
Morgenmenschen, der erste Bus Richtung Léon. Ein kleiner Junge kommt mir | |
entgegen, er ist vielleicht fünf, ein bisschen moppelig, Babyface, | |
orangefarbenes T-Shirt, und auf einmal sagt er: „One Dollar“. Dann schaute | |
er aber schnell weg und ich stelle mir vor, dass er sich schämt. Wir haben | |
einander längst zurückgelassen, als ich noch über ihn nachdenke. Hat er | |
einen Wunsch oder geschah es aus Abenteuerlust? Irgendwie bin ich mir | |
sicher, er hätte es nicht vor seinen Geschwistern oder vor Freunden gesagt, | |
und jetzt hat er ein Geheimnis mit mir. | |
Im Nachbarort Poneloya bellen Hunde und ich entdecke neben der | |
Bushaltestelle einen Aushang mit Ergebnissen der Anfang November | |
abgehaltenen Präsidentschaftswahl. FSLN steht ganz oben – die | |
Sandinistische Befreiungsfront und darunter stehen viele Namen. Aber wenn | |
die Opposition nicht antreten kann, nur einige Marionettenparteien, ist es | |
keine richtige Wahl. Ist Nicaragua auf dem Weg zurück in eine Diktatur? | |
Nach der Revolution, nach zehn Jahren Bürgerkrieg, der von der | |
Reagan-Regierung und der CIA angefeuert worden war, und endlich Frieden | |
nach einem demokratischen Machtwechsel, wäre das tragisch. Wie konnte aus | |
der Schriftsteller-Revolution, für die sich Salman Rushdie so begeistert | |
hatte, wieder eine autokratische Clan-Regierung werden, die ihre Gegner | |
einschüchtert? | |
Zunächst aber machen wir das, was die Nicaraguaner auch machen, weiter mit | |
dem Leben. Wir fahren nach Léon, wo gerade die Kathedrale schneeweiß | |
gestrichen wird, und besuchen das Haus von Ruben Dario, dem berühmtesten | |
Schriftsteller des Landes. Wir essen Gallo Pinto, das traditionelle | |
Frühstück mit Reis und Bohnen, und mittags und abends zu viel Rindfleisch. | |
Wir steigen auf den Vulkan Cerro Negro und wir gewöhnen uns an den | |
allabendlichen Stromausfall. Wir trinken lieber Victoria- als Toña-Cerveza | |
und wir fahren auf der Panamericana nach Esteli, wo im Parque Central die | |
Schüler flirten. Wir hören Radio Tigre und wir fahren ins Hochland, nach | |
Jinotega, wo Kaffee geerntet wird, und nach Matagalpa, wo die schwarz-rote | |
Fahne der FSNL über der Stadt weht. | |
Wenn die Straße, über die wir fahren, mit grauem Verbundpflaster ausgelegt | |
ist, schaudert es mich, weil ich bei Rushdie las, Somoza zwang sein Land, | |
ihm diese Steine überteuert abzukaufen. Und auch Ortega steht im Verdacht, | |
sich und seine Familie zu bereichern. In den nächsten zwei Wochen erleben | |
wir ein Erdbeben, einen Tsunami-Alarm und einen Hurrikan, aber all das geht | |
glimpflich aus. Euphorie und Taumel. Durch Nebelregenwald steigen wir auf | |
den Vulkan Maderas, wo die wilden Affen wohnen. Auf dem Weg nach Granada | |
erleben wir, wie Polizisten unseren Bus anhalten und nach Demonstranten | |
durchsuchen. Schließlich reisen wir an die Karibikküste, wo der | |
Ortega-Staat nicht so mächtig ist. | |
## Die Kanoniere tanzen | |
Zurück in Managua bricht bereits am Nachmittag, als es noch hell ist, der | |
Krieg aus. Eine Serie von Explosionen und Schüssen, nicht endend und lauter | |
werdend. Bis wir sie sehen: vier kleine Jungs, Kinder, die an der Einfahrt | |
eines Parkplatzes stehen und aus gut gefüllten Plastiktüten Salven laut | |
explodierender Böller in die Einfahrt werfen. Zwei Wärter verschanzen sich | |
hinter einem Auto. Laut heult jetzt auch noch eine Alarmanlage los. Die | |
Kanoniere tanzen, wie muss sich das anfühlen. Euphorie und Taumel. | |
Entgegen unserer Eindrücke am Anfang hat Managua auch eine kapitalistische | |
Seite. Es gibt eine Schicht, die versucht dem American Way nachzueifern, | |
und sich über Konsum definiert. Zugleich findet auf den Straßen ein | |
hysterisches Fest anlässlich des Feiertages Mariä Empfängnis statt. Auf dem | |
Heimweg von einem letzten Abendessen kommen wir an eine Polizeisperre, die | |
Straße führt zur Residenz des Präsidenten. Angeblich ist er todkrank und | |
Rosario Murillo will ihm nachfolgen. In den Bergen an der Grenze zu | |
Honduras sollen sich wieder Rebellen zusammengetan haben und mit Anschlägen | |
versuchen, den Ortegarismus zu destabilisieren. Muss sich Geschichte | |
wirklich so brutal wiederholen? | |
Zum Schluss liegt der Mond waagerecht und schmal über der Stadt. | |
4 Feb 2017 | |
## AUTOREN | |
Henning Kober | |
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