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# taz.de -- Karneval in Uruguay: Eine Murga kann sich jeder leisten
> Von Januar bis März wird in Montevideo getrommelt. Doch die Murga, eine
> politisch-satirische Straßenoper, gibt es das ganze Jahr über.
Bild: Straßenkarneval in Montevideo.
In der Altstadt von Monteviedeo befindet sich in einer Gasse hinter dem
Hafen, völlig unscheinbar und nur über einen Eingang zu betreten, ein
großer Hinterhof mit einer Freilichtbühne. Es ist eines dieser kleinen
Amphitheater, die es in fast allen Stadtvierteln gibt. Geschützt vor den
kühlen Nachtwinden des Atlantiks, sitzen die Menschen auf den von der Sonne
noch warmen Steinstufen unter wolkenlosem Sternenhimmel.
Die meisten Leute scheinen sich zu kennen, sind Nachbarn oder Freunde. Sie
lassen den traditionellen Matebecher herumgehen, jenen bitter schmeckenden
grünen Kräutertee, ohne den ein Uruguayer nicht auf die Straße geht. Neben
der Bühne brutzeln auf dem obligatorischen Grill Riesensteaks, Rippchen und
Würste. Viele Jugendliche stehen Schlange, scherzen und warten geduldig auf
den Eiweißschub und den Beginn der Aufführung.
Einige Touristen haben auch hierher gefunden und schauen dem Treiben
fasziniert zu. Vielleicht waren sie vorher im Karnevalsmuseum gleich um die
Ecke und wollen nun live sehen, was sie dort theoretisch erfahren haben:
Die Murga kam Anfang des 20. Jahrhunderts aus dem spanischen Cádiz nach
Uruguay.
Es ist eine Art Straßenoper, die Humor und Protest, Chorgesänge und
Theatereinlagen kombiniert. Sie ist traditionelle Karnevalsveranstaltung
und moderner, humorvoller Ausdruck von Gesellschaftskritik. Auf der Bühne
des Amphitheaters treten heute drei verschiedene Murgas auf.
## Kritik öffentlich machen
Der Eintritt kostet 50 Pesos, knapp 2 Euro, und damit weniger als ein
Espresso im Café. Die Murgas werden staatlich subventioniert, genauso wie
Museen, Theater und andere kulturelle Events. Sie finden in den Theatern,
auf der Straße und am Strand statt, in Montevideo und in der Provinz. Für
die Jugendlichen ist es eine Möglichkeit, sich zu treffen und Spaß zu
haben, ohne viel Geld auszugeben. Die Bars und Diskotheken sind für die
meisten unerschwinglich. Das Mindesteinkommen betrug 2014 rund 400
US-Dollar, bei Lebensmittelpreisen, die den deutschen sehr nahe kommen.
Eine Murga hingegen kann sich jeder leisten. Sie ist ein willkommener
Anlass, über Politik zu reden und zu lachen, sagt Marcelo, der drei Straßen
weiter wohnt. Er geht in dieser Jahreszeit fast täglich auf eine Murga.
Nicht nur er: In der Karnevalszeit werden mehr Eintrittskarten für Murgas
verkauft als im ganzen Jahr für Fußball. Und das will was heißen in
Uruguay!
Der fünfzigjährige Marcelo ist heute mit seiner ganzen Familie gekommen. Er
liebe die Murga, sagt er, weil sie rüberbringe, was die Leute auf der
Straße denken. Es sei ein populäres Instrument, um Politik im Alltag
erfahrbar zu machen und Kritik daran zu üben. Und hinterher wird
diskutiert. Über Politik und Fußball lässt sich trefflich und ausdauernd
streiten in Uruguay, die Mate-Kalebasse in der einen und die Thermoskanne
in der anderen Hand.
Mayra, 24 Jahre alt, macht selbst mit in der Murga „Cayó la Cabra“ (“Es
stolperte die Ziege“). Kurz vor ihrem Auftritt holt sie sich an der Bar
schnell noch einmal heißes Wasser für ihren Mate. Sie hat noch eine andere,
augenzwinkernde, Erklärung für das politische Interesse der Uruguayer: „Wir
haben Wahlpflicht in Uruguay. Sich zu informieren und auf dem Laufenden zu
sein, ist wie Hausaufgaben machen. Wen willst du wählen wenn du nicht
Bescheid weißt?“, lacht sie.
Schon als Kind hat Mayra ihre Eltern zur Murga begleitet. Damals sei die
Kritik allerdings rüder gewesen. Mit der Linksregierung sind die
Feindbilder ausgegangen. „Wir können ja schlecht kritisieren, was wir
jahrelang eingefordert haben“, sagt Mayra. „Heute funktioniert die Murga
so: Du nimmst das auf, was dir in deinem Leben auffällt und hinterfragst es
mit Humor. Wir sagen nicht: So ist es richtig und so ist es falsch. Wir
hinterfragen Alltägliches: Konsumgewohnheiten, Kommunikation,
Arbeitsalltag.“
Politik sei schließlich auch, wie die Gesellschaft mit den Ergebnissen von
Politik umgeht. Das ist auch der Grund, warum so viele junge Leute auf die
Murga abfahren. Sie identifizieren sich mit den Themen. Wir wollen anregen,
über Themen nachzudenken“, erklärt sie, zieht noch einmal an ihrem
Metallhalm für einen letzten Schluck Mate und verschwindet schnell hinter
der Bühne.
## Zum Beispiel gegen zuviel Konsum
Und dann geht es los. Siebzehn farbenprächtig geschminkte und kostümierte
Menschen betreten unter donnerndem Applaus singend und trommelnd die Bühne.
Die Zusammensetzung ist in jeder Murga gleich: ein Bühnendirektor, dreizehn
Sänger und drei Schlagzeuger. Die Darbietung, genannt cuplé, besteht aus
Liedern, Sprechgesängen, Tänzen und regelrechten Clowneinlagen,
unterbrochen von herzhaften Lachern und Applaus. In den Texten geht es um
lange Wartezeiten für den Facharzt, um übermäßigen Computerkonsum, um
Kredite und Kreditkarten und Konsum als Ersatzhandlung. Lustig, bissig und
manchmal auch richtig böse. Aber nicht immer leicht zu verstehen für
Outsider.
Einige Murgas bieten Libretos an, damit auch ausländische Gäste mitlachen
können. Aber selbst wer nichts versteht: Das musikalische und optische
Spektakel ist allemal unterhaltsam. Und es dauert. Drei Murgas à
fünfundvierzig Minuten. Dazwischen: humoristische Einlagen durch den
Moderator, Würstchen vom Grill und Spendenaktionen für das Stadtviertel.
Gegen ein Uhr morgens ist die Vorstellung zu Ende. Inzwischen ist es kühl
geworden. Lachend und kommentierend machen sich die Leute in Grüppchen auf
den Heimweg.
Uruguay ist ein kleines Land mit rund 3 Millionen Einwohnern und 12
Millionen Kühen. Seine Nachbarn: Brasilien, rund fünfzigmal so groß wie
Uruguay, und Argentinien, etwa fünfzehnmal größer. Dazwischen, wie in die
Zange genommen, Uruguay. Eine ziemlich ungemütliche Position. Manche
Uruguayer sagen, das sei einer der Gründe für ihren schwarzen Humor.
## Die Murga Joven
Am nächsten Tag besuche ich die Murga „Cayó la Cabra“ bei ihrer Probe. In
Villa Espanola, einem heruntergekommenen Stadtteil im Norden Montevideos,
treffen sich die Mitglieder in einer alten Lagerhalle. Ein schmuckloser
Raum, wo der Putz blättert und Feuchtigkeit sich fleckig auf den Wänden
ausbreitet, ein kaputtes Fenster, weiße Plastikstühle und an der Wand
Requisiten. Drei Frauen nähen und reparieren die prächtigen Kostüme,
allesamt selbst entworfen und selbst angefertigt.
Die anderen, ohne Schminke und Kostüme in ihren Jeans und Turnschuhen kaum
wiederzuerkennen, sitzen im Kreis und diskutieren über die Interpretation
eines Liedes. Das ganze Jahr über haben sie an dieser Murga gearbeitet:
Kostüme genäht, Lieder getextet, Texte verworfen, diskutiert, gestritten
und abgestimmt, Choreografien eingeübt und getrommelt. Und nach jeder
Aufführung wird wieder etwas angepasst, verändert, gestrichen oder
hinzugefügt. Eine Murga lebt, ist work in progress.
Cayó la Cabra ist eine sogenannte „Murga Joven“. Anders als die
Karnevalsmurga funktioniert sie das ganze Jahr über. Um als Murga Joven zu
gelten, müssen die Mitglieder alle unter dreißig sein. Zurzeit gibt es rund
sechzig Murga Joven in Uruguay. Sie sind besonders kritisch, satirisch und
immer aktuell. Und erfreuen sich wachsender Beliebtheit unter den
Jugendlichen.
Für Mayra ist die Murga wie ein zweites Zuhause. „Ein Indianerstamm, nur
ohne Häuptling“, so sehe sich die Gruppe. Mayra wohnt noch bei den Eltern,
zusammen mit zwei Geschwistern. Klar würde sie gerne ausziehen aber solange
sie in der Ausbildung ist: undenkbar! Mayra studiert Psychomotorik und
Logopädie. In einem Zentrum für Familien arbeitet sie mit Kleinkindern bis
drei Jahren.
Unter der Linksregierung seien immer mehr dieser Zentren entstanden, um den
Kinder sozial benachteiligter Familien bessere Bildungschancen zu geben. Es
habe sich viel getan in den letzten zehn Jahren, sagt sie. Die
Legalisierung der Abtreibung, ein geradezu revolutionäres Gesetz in einem
südamerikanischen Land, habe dazu beigetragen, dass Abtreibungen nicht mehr
in Hinterhöfen stattfinden, sondern medizinisch betreut werden. Für die
Frauen bedeute das ein Riesenschritt nach vorn. Jetzt können sie sich frei
und ohne Druck für oder gegen ein Kind entscheiden.
„Für die Männer ist das auch besser“, sagt Emiliano, „schließlich geh�…
immer zwei dazu. Und wenn Frauen in der Vergangenheit ihre Gesundheit oder
vielleicht sogar ihr Leben riskierten, weil sie illegal abgetrieben haben,
dann betraf das schließlich auch den Mann.“
Auch die gleichgeschlechtliche Ehe habe in Uruguay zu weitreichenden
Veränderungen geführt. „Es ist ja nicht nur so, dass Männer jetzt Männer
und Frauen eine Frau heiraten dürfen. Heterosexuelle Paare können jetzt
wählen, ob sie den Familiennamen der Frau oder des Mannes wählen wollen.
Das ist eine Konsequenz aus dem Gesetz zur gleichgeschlechtlichen Ehe. Ich
glaube, dass solche tiefgreifenden Veränderungen mit der Zeit eben andere
Bewegungen mit sich bringen, also die Gesellschaft insgesamt verändern“,
erklärt Mayra.
## Weitreichende gesellschaftliche Veränderungen
Veränderungen sind das große Thema der Murga-Gruppe. Jedes Jahr gilt es,
eine neue Vorstellung auf die Beine zu stellen. Und sie haben stets einen
Bezug zur aktuellen Politik. Insofern, sagt Mayra, gestalten die Murgas
gesellschaftliche Prozesse mit. Die Texte der Aufführungen regen etwa dazu
an, über Vor- und Nachteile von Gesetzen nachzudenken. Die Legalisierung
der Abtreibung oder von Marihuana waren allemal dankbare Themen für die
Murga.
Mit José Mujica als Präsident von Uruguay sei es in den Murgas auch viel um
Konsumkritik gegangen. Mujica, den die Uruguayer liebevoll „El Pepe“
nennen, lehnte während seiner Amtszeit von 2010 bis 2015 Krawatten genauso
ab wie Protokolle. Der Präsident, der einen alten VW-Käfer fuhr und während
der Militärdiktatur 14 Jahre als politischer Gefangener einsaß,
beeindruckte nicht nur die Mächtigen dieser Welt mit seinen Reden, sondern
auch die Jugend von Uruguay:
„Wir haben die alten Götter geopfert und einen Tempel für ‚Gott Markt‚
erschaffen. Dieser organisiert für uns die Wirtschaft, die Politik, die
Gewohnheiten, das Leben und vermittelt uns mit Preislisten und Kreditkarten
ein Gefühl von Glück. Wie es aussieht, wurden wir nur geboren, um zu
konsumieren und zu konsumieren, und wenn wir das nicht können, bleibt die
Frustration, die Armut und die Ausgrenzung.“ (Pepe Mujica, September 2013,
New York)
Konsumkritik und Jugendwahn sind zentrale Themen der Murgas. In einem
cuplé, einer Szene, von Cayó la Cabra, heißt es:
Es ist Mode, jung zu sein.
Alle Moden fangen mit der Jugend an.
Wenn wir Kinder sind, imitieren wir sie.
Das Problem ist: Auch die Alten imitieren sie.
Mein Großvater hat sich ein Smartphone gekauft.
Er macht gern einen auf chic.
Jetzt liest er die Tageszeitung im Internet.
Und macht beim Blättern die Finger nass.
Die Mode nutzt die Jugend aus,
ohne Zweifel ihre besten Kunden,
sie sind für jeden Trend bereit
und kaufen alles, was du ihnen verkaufst.
Die Murga-Macher haben es nicht leicht heute. Da es kein klares Feindbild
gibt und die Kritik an der Konsumgesellschaft sich mit der Haltung des
ehemaligen Präsidenten und der weiterhin links stehenden aktuellen
Regierung deckt, kommt gelegentlich der Vorwurf auf, man sei der
offiziellen Seite zu nah. Aber die Murga kritisiert nun mal nicht nur die
Regierung, sondern die Gesellschaft. Die Murga kritisiert, was sie
kritisieren muss. Sagt Mayra. Und solange die Menschen darüber lachen
können, ist alles gut.
Während die Gruppe probt, dringen plötzlich Trommelrhythmen und Lärm von
der Straße durch die undichten Fenster. Eine Tanzgruppe zieht in voller
Kostümpracht vorbei. Irgendwo ist immer Karneval in Montevideo.
13 Feb 2016
## AUTOREN
Gitti Müller
## TAGS
Karneval
Cannabis
Lateinamerika
Dokumentarfilm
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