# taz.de -- Gewaltbereite Netzwerke im Osten: Aufgeilen am schwachen Staat | |
> In Ostdeutschland erstarkt der Rechtsextremismus nicht wegen | |
> Impfpflichtdebatten. Sondern weil der Staat ihn verharmlost und sich | |
> zurückzieht. | |
Bild: Polizei regelt: Demo gegen Coronamaßnahmen in Halberstadt am Montag | |
Bei der Radikalisierung von Impfgegner:innen, so schien es zuletzt, | |
muss jemand auf Vorspulen gedrückt haben. Vor gut einer Woche [1][zogen | |
Menschen mit Fackeln vor das Haus von Sachsens Gesundheitsministerin Petra | |
Köpping]. Politiker:innen aller Parteien äußerten Entsetzen. | |
Verschiedene Innenminister, darunter der da noch amtierende Horst Seehofer, | |
warnten: Das Einführen einer Impflicht könne zu weiterer Radikalisierung | |
führen. Wenige Tage später, am Mittwoch, reagierte Sachsens | |
Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU) auf Morddrohungen gegen seine | |
Person. Er sagte, man müsse „mit allen juristischen Mitteln gegen solche | |
Entgrenzung vorgehen“. Männer hatten in einer Chatgruppe auf Telegram sowie | |
bei Treffen erörtert, [2][wie sie Kretschmer töten könnten]. Eine | |
Impfpflicht haben sie dafür nicht gebraucht. | |
Die rasche Abfolge von Fackelmarsch und – durch journalistische Recherche, | |
nicht etwa durch polizeiliche Ermittlung öffentlich gewordenen – | |
Mordfantasien stehen für die Eindrücke der vergangenen Wochen. | |
Verantwortliche Politiker:innen dackeln mitsamt ihrer Behörden einem | |
immer selbstbewusster und radikaler auftretenden Mix aus Gegner:innen | |
der Coronapolitik und Vertreter:innen rechtsextremer Milieus hinterher. | |
Aufhalten? Regeln durchsetzen? Das geschah nur vereinzelt. | |
Aus diesem Zurückweichen des Staates, diesem Nicht-behelligt-werden | |
schöpfen Impfgegner:innen ein Gefühl großer Selbstwirksamkeit. Man | |
sollte zudem nie den Lustgewinn an einer Revolte unterschätzen, die für | |
einen selbst kaum Risiken birgt: Das gegenseitige Aufgeilen an der eigenen | |
Unangepasstheit, für die man nicht mal nach Hause geschickt wird. Zugleich | |
gibt sich zumindest ein Teil der gemeinschaftlichen Halluzination hin, | |
Verfolgte einer Diktatur zu sein, die sie per Impfung auslöschen kann und | |
will. Manche Menschen, die die DDR noch erlebt haben, geben dabei die | |
Kronzeugen und bestärken die Opfererzählung. | |
Diese als Gemeinde zelebrierte Ohnmachtsillusion und die real erfahrene | |
Wirkmacht des eigenen Handelns sind nur scheinbar Gegensätze. Sie verbinden | |
sich wie die Stränge der Doppelhelix zur politischen DNA der Proteste. Die | |
Mordpläne einzelner sind da eine erwartbare Konsequenz. Gewaltbereite | |
Impfgegner:innen sehen die diktatorische Bedrohung als so stark, den | |
Staat dagegen als so schwach, dass ihnen ein Anschlag erfolgversprechend | |
erscheint. | |
## Das Zurückweichen vor den Rechten hat Tradition | |
Politiker:innen werden in Ostdeutschland, aber auch im Westen, nicht | |
erst seit vergangener Woche bedroht. Einschneidend war der Mord an Walther | |
Lübcke 2019. Aber vorher schon erlebten Kommunalpolitiker:innen | |
monate- und jahrelang Drohungen und Schikanen rechter bis rechtsextremer | |
Milieus, weil sie sich für zwischenmenschliche Selbstverständlichkeiten | |
eingesetzt hatten: Markus Nierth in Tröglitz, Karin Larisch in Güstrow, | |
Martina Angermann in Arnsdorf, die Liste ließe sich fortsetzen. Ostdeutsche | |
Politiker:innen fanden darauf oft keine angemessenen Antworten, bis | |
heute werden Rechtsextreme verharmlost und zum Gespräch eingeladen. | |
Die Proteste gegen die Coronamaßnahmen waren in vielen Teilen | |
Ostdeutschlands übrigens nie weg, es gehen gerade nur wieder sehr viel mehr | |
Leute auf die Straße. In Halberstadt über 1.500, in Magdeburg 1.000, in | |
Chemnitz 400. Teilweise waren die Protestzüge nicht angemeldet, | |
beziehungsweise konnte die Polizei keine Anmelder:innen auftreiben. | |
Mobilisiert hatten in Teilen rechtsextreme Netzwerke wie die „Freien | |
Sachsen“, oft per Telegram. In Chemnitz fanden Beamt:innen am | |
Montagabend hingegen Zeit, [3][sich zirka 30 linke | |
Gegendemonstrant:innen rabiat vorzuknöpfen]. | |
Das Zurückweichen der Polizei vor rechten bis rechtsextremen Protesten ist | |
in Ostdeutschland erlernt. Seit den frühen 90er Jahren, als in Hoyerswerda, | |
Rostock und anderswo Vertragsarbeiter:innen und | |
Asylbewerber:innen angegriffen wurden – und die sogenannten | |
Sicherheitsbehörden ihnen keine Sicherheit gaben. | |
Im Zweifel erscheint das als fremd gelesene, das als dekadent empfundene, | |
die Abweichung, das Linke, das Migrantische eher bekämpfenswert als die | |
angebliche Mitte der Gesellschaft, die sich vielleicht gerade nur verlaufen | |
hat in den Wirren des Lebens. So funktionierten schon die DDR-Behörden. | |
## „Texas von Deutschland“ | |
Viele, die für die Proteste mobilisieren und an ihnen teilnehmen, wurden | |
damals sozialisiert oder kennen entsprechende Geschichten. Die AfD macht | |
mit Slogans wie „Vollende die Wende“ tatsächliche und vermeintliche | |
völkische Elemente der Revolution von 1989 für sich nutzbar. | |
Der Staat ist in Ostdeutschland auch in der Fläche zurückgewichen, aus | |
Kostengründen. Als ich letztes Jahr ein paar Monate im südlichen | |
Brandenburg gewohnt habe, tanzte man dort noch in Massen, als das längst | |
verboten war. Niemand rechnete mit Kontrollen. „Wir sind das Texas von | |
Deutschland“, sagten mir Alte wie Junge. Eine Chiffre für ein Land, in dem | |
die Staatsgewalt die weiße Mehrheit nicht mehr berührt. | |
Die Impfgegner:innen reagieren in ihren Netzwerken jedenfalls | |
fassungslos wütend auf die Möglichkeit von Kontrolle. Diese Netzwerke sind | |
im Umfeld der Pegida-Märsche entstanden, aus dem sogenannten | |
[4][Trauermarsch von Chemnitz 2018] heraus, bei rassistischen | |
Bürgerinitiativen. Der Magdeburger Rechtsextremismusexperte David Begrich | |
spricht am Telefon von „Protestplattformen“. Rechtsextreme stellen | |
Impfgegner:innen Kanäle und ihre Erfahrung beim Organisieren von | |
Aktionen zur Verfügung. | |
Natürlich nicht uneigennützig: Rechtsextreme Ideologie ist | |
Umsturzideologie, Rechtsextreme suchen immer Verbündete. Die personell oft | |
gar nicht so scharf zu trennenden Gruppen verbinden sich aufgrund ihrer | |
gemeinsamen Wahrnehmung, dass es nötig und möglich sei, ein System zu | |
stürzen. „Die wollen total zerstören“, sagte mir eine Reporterin, die in | |
Sachsen viel unterwegs ist. | |
Das erlernte Verhalten und die erprobten Strukturen der Umsturzgläubigen | |
verschwinden nicht von selbst – und sicher nicht durch gutes Zureden. | |
Selbst das jetzt diskutierte härtere Vorgehen gegen [5][Telegram] oder | |
härteres Durchgreifen der Polizei in einigen Städten wird nichts | |
grundlegend ändern. Wenn das jahrzehntelange Verharmlosen und Normalisieren | |
von Rechtsextremen in Teilen der ostdeutschen Politik nicht endlich | |
aufhört, werden jene, mit denen man so unbedingt das Gespräch sucht, eines | |
Tages vor der eigenen Haustür stehen. | |
11 Dec 2021 | |
## LINKS | |
[1] /Reaktionen-auf-Fackelmarsch-in-Sachsen/!5820438 | |
[2] https://www.zdf.de/nachrichten/politik/corona-leugner-sachsen-kretschmer-mo… | |
[3] /Rechte-Gewalt-in-Ostdeutschland/!5540833 | |
[4] /Andreas-Loesche-ueber-Rassismus/!5540829 | |
[5] https://www.rnd.de/politik/morddrohungen-gegen-kretschmer-bundesjustizminis… | |
## AUTOREN | |
Daniel Schulz | |
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