# taz.de -- Angriff auf Kommunalpolitiker: „Viele sind innerlich härter gewo… | |
> Bürgermeister Markus Nierth trat 2015 zurück, weil die NPD vor seinem | |
> Haus aufmarschieren wollte. Nun will er sein Dorf in Sachsen-Anhalt | |
> verlassen. | |
Bild: Markus Nierth in Tröglitz: Jetzt will er wegziehen | |
Tröglitz taz | Markus Nierth steht in seinem Hof und sagt: „Im Grunde | |
genommen sind wir jetzt Binnenflüchtlinge.“ [1][Der ehemalige Bürgermeister | |
von Tröglitz] ist 2015 zurückgetreten, vor genau zehn Jahren. „Ab 2017 war | |
uns klar, dass wir gehen müssen, weil wir innerlich kaputtgehen.“ Wie es | |
Nierth sagt, lässt einen frösteln. | |
Doch eine Überraschung ist es nicht. Dafür ist in den vergangenen Jahren zu | |
viel passiert. Dass einer in seinem Dorf, das er gestalten wollte, heute | |
gemieden wird, ist beklemmend. Markus Nierth selbst berührt das alles nicht | |
mehr sehr. Er redet schon so, als wäre er an einem anderen Ort. Nierth | |
blinzelt in die Sonne. „Wir sind Meeresfische“, beginnt er blumig. „Das w… | |
mal reines Wasser hier. Jetzt ist es Brackwasser geworden.“ Den alten | |
„Lindenhof“, den er Ende der Neunziger erworben hat, will er verlassen. | |
Es ist ein Ensemble mit Fachwerk, Kletterrosen, wildem Wein und auf dem Hof | |
die Linde, die dem historischen Wirtshaus am Rande von Tröglitz in | |
Sachsen-Anhalt seinen Namen gab. Man ahnt, wie viel Lebenszeit Markus | |
Nierth, er ist jetzt 56 Jahre alt, hier investiert hat – und wie viel Geld. | |
Hierhin sollte der „Abendspaziergang“ führen, den die NPD Anfang März 2015 | |
anmeldete und dem sich Tröglitzer anschließen wollten, um vor dem Haus des | |
Ortsbürgermeisters gegen den Plan zu protestieren, fünfzig Flüchtlinge im | |
Dorf unterzubringen. Nierth trat zurück, zwei Tage bevor sich der Haufen in | |
Bewegung setzen wollte. Nicht aus Angst. Nierth war enttäuscht vom Landrat, | |
der zögerte, den Aufmarsch zu verbieten oder zumindest Auflagen zu | |
erteilen. | |
## Ermittlungen wurden eingestellt | |
Die NPD, inzwischen in „Die Heimat“ umbenannt, scheint in Tröglitz nach | |
zehn Jahren am Ziel. Die Nierths gehen fort. Einen zweiten Erfolg feierte | |
die NPD bereits kurz nach Nierths Rücktritt. Die Flüchtlinge kamen nie in | |
der Unterkunft an. In der Nacht zum 4. April 2015 stand das bereits | |
angemietete Wohnhaus in Flammen. Das Landeskriminalamt war zuversichtlich, | |
den oder die Täter zu finden, die mit Brandbeschleunigern in das Haus | |
eingedrungen sein mussten. Die Beamten befragten jeden der 1.700 | |
volljährigen Tröglitzer und verhafteten nach Monaten einen Verdächtigen. | |
Sechs Tage später mussten sie ihn wieder laufen lassen und nach 15 Monaten, | |
im Juli 2016, wurden die Ermittlungen ohne Ergebnis eingestellt. | |
Obwohl es Weinberge gibt, ist Tröglitz kein beschaulicher Flecken, sondern | |
eine Arbeitersiedlung, in der ab den 1930er Jahren Braunkohle zu | |
kriegswichtigen Kraft- und Schmierstoffen hydriert wurde, mitsamt | |
angeschlossenem KZ für die Arbeitssklaven. Nach 1945 wurde das | |
„Hydrierwerk“ zu einem sozialistischen Großbetrieb. Ab 1990 wurden die | |
meisten Chemiearbeiter vom alten SED-Werksleiter gekündigt und auf dem | |
Gelände entstand ein Chemiepark, der mit einem Bruchteil der Beschäftigten | |
auskam. | |
Es war Idealismus, der Markus Nierth, der seine Jugend im Hessischen | |
verbrachte, Ende der Neunzigerjahre in seine Heimat zurückführte. Er, der | |
Pfarrerssohn und Theologe, reparierte mit Jugendlichen Mopeds und baute mit | |
Arbeitslosen einen weiteren Hof auf, um Gemeinschaft und Sinn zu geben und | |
von seinem Glauben zu erzählen. Im Tanzsaal organisierte er moderne | |
Gottesdienste. Es muss so etwas wie eine christliche Sozialarbeit gewesen | |
sein, wie Nierth es beschreibt. | |
„Große Gastfreundschaft und wirklich weite Herzen“ hat er damals erlebt, | |
erzählt er. Die Herzen, hat er sie erreicht? Er nickt. „Aber viele sind mit | |
den Jahren innerlich härter geworden.“ Was hat sich verändert? „Damals war | |
die NPD unser Problem, heute wollen hier 48 Prozent, dass die AfD herrscht | |
und endlich ‚aufräumt.‘“ | |
Derzeit verteilt die AfD in ganz Sachsen-Anhalt siegesgewiss ihre | |
Fraktionszeitung mit dem Namen „Aufbruch“. „Sicher, die Parteien haben | |
Fehler gemacht“, sagt Nierth. „Aber wer hat sich denn, von denen, die sich | |
beschweren, selbst politisch vor Ort eingebracht?“ Kommunalpolitik ist | |
Basisarbeit, hartes Brot. Kein Wunder, dass die AfD dafür kaum Leute | |
findet. | |
## Sehnsucht nach Gemeinschaft im Dorf | |
Markus Nierth, ganz Theologe, spricht wieder in Bildern. Die AfD – das sind | |
für ihn Wölfe, die sich die Schafe selbst gewählt haben, um bei ihnen in | |
der Herde Ordnung zu schaffen. Sie werden auch aufräumen, prophezeit | |
Nierth, und allen das Fell über die Ohren ziehen. Die alte, heile Welt als | |
neue Verheißung? Nierth schüttelt den Kopf. | |
Mit seinem Gemeinschaftsprojekt hatte er sich damals übernommen, | |
kräftemäßig war das auf Dauer nicht zu schaffen. Nierth wurde bald nach | |
seiner Rückkehr nach Tröglitz Trauerredner. Die Sehnsucht nach Gemeinschaft | |
sei auch in Trauergesprächen immer zu spüren, berichtet er. Doch was folgt | |
daraus? Nicht viel. „Die Menschen haben den Zugang zu sich selbst | |
verloren“, stellt Nierth fest. Viele, insbesondere Männer, reagierten schon | |
bei der Frage, ob die Oma vielleicht hin und wieder gebetet habe, panisch, | |
berichtet Nierth. Es sei, als ob der Zugang zum Himmel verstopft wäre. | |
Stattdessen laufe man dann Leuten wie Alice Weidel, Björn Höcke und den | |
AfD-Hanseln aus der Landtagsfraktion in Magdeburg nach, demonstriert auf | |
den Montagsdemos im nahen Zeitz gegen die „Altparteien“ oder lässt sich von | |
der „Weltanschauungspartei Dritter Weg“ einladen. Im nahen Weißenfels haben | |
sie erst kürzlich für ihre Volksgemeinschaft geworben: „Möchtest Du Teil | |
von etwas Großem sein und dem BRD-Alltag entfliehen?“ Das lag als Einladung | |
in vielen Postkästen. | |
Sein Geschäftsgebiet hat Nierth nach 2015 erheblich ausweiten müssen. In | |
Tröglitz gibt es noch heute für seine Grabreden nur wenig Bedarf. | |
Stattdessen wird er dort angequatscht, bei Penny etwa. Ihre Fresse kenn’ | |
ich aus dem Fernsehen, ist so ein Spruch. Oder: Ihren Einkaufwagen hat doch | |
die Merkel bezahlt. „Solche Wortgefechte aus dem Nichts heraus kosten so | |
viel Kraft“, sagt Nierth. Er will weg. „Die Rechten haben uns auf ihren | |
Listen.“ Zu warten, bis „aufgeräumt“ wird, sei keine gute Idee. | |
## Nierth will weg aus dem Ort, aber im Osten bleiben | |
Dass Markus Nierth überhaupt in seine Heimat zurückgekehrt ist, hat mit | |
seiner Familiengeschichte zu tun. Sein Vater, ein Pfarrer, geriet unter | |
Stasibeobachtung, als er 1977 eine oppositionelle Denkschrift für „Frieden | |
und Gerechtigkeit“ mit erarbeitete und bei Pfarrkollegen um Unterschriften | |
warb. Inspiriert von der Charta 77 in der Tschechoslowakei wollten sich | |
kirchliche Kreise für Menschenrechte einsetzen. Über mehrere Jahre wurde | |
Nierths Vater von der Stasi zersetzt und reiste, herzkrank geworden, mit | |
seiner Familie in die Bundesrepublik aus. | |
So war Markus Nierth mit 16 Jahren das erste Mal entwurzelt. Mit seiner | |
Tröglitzer Sozialarbeit wollte er den frisch Entwurzelten helfen, ihren | |
Familien und Kindern. Und nun ist Nierth erneut entwurzelt. „Sie haben sich | |
selbst verloren“, seufzt er über „seine Landsleute“ und schiebt ein paar | |
Holzscheite in den Herd. | |
Seine Frau Susanna kommt die Treppe herunter. Im Saal, wo einst | |
Gottesdienste stattfanden, gibt Susanna Nierth Tanzunterricht. Es ist ein | |
Angebot für den Körper und für die Seelen der meist kleinen Eleven. Auch | |
das wird bald enden. Ob die beiden an ihrem neuen Wohnort, einer Kleinstadt | |
ebenfalls in Sachsen-Anhalt, ihre Arbeit fortführen können, ist ungewiss. | |
Die Entscheidung, im Osten zu bleiben, habe familiäre Gründe. Nierths | |
wollen in der Nähe der erwachsenen Töchter bleiben. [2][In Sachsen-Anhalt | |
ist die AfD bei der Bundestagswahl auf 37 Prozent gekommen.] Die nächste | |
Landtagswahl steht im Herbst 2026 an. Der CDU droht ein Debakel. Es gab | |
auch die Überlegung, in den Westen zu ziehen, räumt Nierth ein. Doch nun | |
sind es die Töchter, die sagen: Wir kämpfen, jetzt erst recht! | |
## „Mein Zögern sehe ich heute als Fehler“ | |
2015 waren viele über Nierths Rücktritt bestürzt. Als die | |
Flüchtlingsunterkunft brannte, kamen internationale Kamerateams. Nierth war | |
bei „Lanz“ zu Gast, später schrieb er zusammen mit einer Journalistin das | |
Buch „Brandgefährlich. Wie das Schweigen der Mitte die Rechten stark | |
macht“. Markus und Susanna Nierth erhielten im Lutherjahr 2017 den Preis | |
„Das unerschrockene Wort“ der 16 deutschen Lutherstädte. Markus Nierth ist | |
als gesellschaftspolitischer Referent aktiv und mit seiner Frau im Verein | |
Gegen Vergessen, für Demokratie engagiert. | |
Nach zehn Jahren und [3][Dutzenden weiteren Angriffen gegen | |
Kommunalpolitiker] bis hin zum Mord an dem Kasseler Regierungspräsidenten | |
Walter Lübcke im Jahr 2019 ist Tröglitz wieder ein gewöhnliches | |
2.000-Einwohner-Dorf im Burgenlandkreis in Sachsen-Anhalt. „Mein Zögern | |
sehe ich heute als Fehler, als meinen Fehler“, schreibt Götz Ulrich zu den | |
Ereignissen von 2015. Ulrich, damals neu als Landrat im Amt, unterband als | |
Chef der Versammlungsbehörde den NPD-Aufzug nicht. | |
„Im letzten Jahr“, schreibt Ulrich weiter, „habe ich selbst erlebt, wie es | |
sich anfühlt, wenn eine rechtsextreme Partei ankündigt, vor dem eigenen | |
Haus zu demonstrieren.“ Die AfD hatte im März 2024 einen „Hausbesuch“ | |
angekündigt, weil sich der CDU-Politiker für Flüchtlinge einsetzte, im | |
Grunde so wie bei Markus Nierth. Dazu kam es nicht. Die Versammlungsbehörde | |
hat die Route untersagt. | |
Wenn der Umzugswagen vom „Lindenhof“ abgefahren ist, bleibt das Einzige, | |
was noch an das Frühjahr 2015 erinnert, das Haus in der | |
Ernst-Thälmann-Straße. Ein zweigeschossiger Bau in immer noch frischem | |
Gelb. Das Spitzdach, wo die Flammen herausschlugen, ist mit Platten | |
geflickt. Das Gebäude wirkt unschlüssig, entweder noch nicht vollendet oder | |
bereits im Zerfall begriffen – so wie der gesamte Landstrich. | |
3 Apr 2025 | |
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## AUTOREN | |
Thomas Gerlach | |
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