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# taz.de -- Rückzug von Marco Wanderwitz: Die Bedrohten
> Der CDU-Mann Marco Wanderwitz verlässt die Politik, und er ist nicht der
> Einzige. Der Aufschrei ist groß – aber auch die Frage, was zu tun ist.
Bild: Marco Wanderwitz hat viel ausgehalten – bis es irgendwann nicht mehr gi…
Berlin taz | Am Samstag soll [1][Marco Wanderwitz] im Alten Schlachthof in
Stollberg auftreten, in seiner Heimat im sächsischen Erzgebirge. Der
CDU-Mann will dort über den [2][AfD-Verbotsantrag] reden – sein letztes
politisches Projekt. Eine vorherige Diskussion in Zwönitz musste wegen
Bedrohungen bereits abgesagt werden. In Stollberg wird nun
sicherheitshalber nicht abends, sondern am Vormittag diskutiert. „Dann
müssen die Krakeler zumindest ihr Gesicht im Hellen zeigen“, sagt
Wanderwitz.
So geht es seit Jahren. Wo auch immer der 49-Jährige auftritt, [3][schlagen
ihm Wut und Hass entgegen], von der AfD, von Coronaleugnern, den Freien
Sachsen, anderen Rechtsextremen. Stets hielt Wanderwitz dagegen, plädierte
für strikte Ausgrenzung und bei der AfD zuletzt für ein Verbot. Anfang
vergangener Woche aber gab er bekannt, [4][dass er sich zurückzieht]. „Ich
muss meine Familie und mich körperlich und seelisch schützen“, sagte er
seiner Lokalzeitung, der Freien Presse. „Die Angriffe der brutalen
Schreihälse sind immer heftiger geworden.“ Vor allem, seit die AfD in die
Parlamente einzog.
Sein Rückzug war absehbar, auch weil Wanderwitz schon länger die
Rückendeckung in der eigenen Partei fehlte. Mit Sachsens Ministerpräsident
Michael Kretschmer hat sich der liberale Christdemokrat überworfen. Den
Kreisvorsitz hat er längst abgegeben, auch für den Kreistag nicht mehr
kandidiert. Und er ist nicht der einzige Bundestagsabgeordnete, der
ständigen Anfeindungen ausgesetzt war.
Im Sommer begründete bereits seine Partnerin, die
CDU-Bundestagsvizepräsidentin Yvonne Magwas, ihren Rückzug aus der Politik
damit, dass „gelogen, diskreditiert, gehetzt“ werde. Sie habe „viel an
Beleidigungen, Bedrohungen, aber leider auch viel Gleichgültigkeit erlebt –
das raubt Kraft“. Die Grünen-Abgeordnete Tessa Ganserer, als trans Person
immer wieder von Rechtsextremen attackiert, kandidiert ebenfalls nicht
mehr. Sie wolle ihrem Leben nochmal eine andere Richtung geben, erklärte
sie. Aber auch dass ihr der Hass „gewaltig an die Nieren gegangen ist“.
## „Gut, dass ich bald raus bin“
Auch die Linken-Abgeordnete Martina Renner hört auf, erhielt immer wieder
Todesdrohungen, etwa in der [5][„NSU 2.0“-Serie]. Der Rückzug habe andere
Gründe, sagt sie. Aber auch: „Das war natürlich eine Belastung und hat viel
Zeit gefressen.“ Und der SPD-Abgeordnete Michael Roth, der ebenfalls
aufhört, warnt dieser Tage, die demokratische Kultur „gerät immer mehr
unter die Räder“: „Gut, dass ich bald raus bin.“
Karamba Diaby kennt das. Der 62-Jährige sitzt seit 11 Jahren im Bundestag,
für die SPD. Zuletzt wurden dem Hallenser und seinen Mitarbeitenden in
einem Schreiben angedroht: „Sie enden erhängt an der Laterne.“ Vor vier
Jahren wurde auf sein Bürgerbüro geschossen, vor einem Jahr ein
Brandanschlag verübt. Acht Monate waren die verrußten Räume unbenutzbar.
„Nach solchen Dingen gehst du natürlich nicht zur Tagesordnung über“, sagt
Diaby. Er habe sich aber nie einschüchtern lassen wollen – und jedes Mal
sehr viel Solidarität erfahren. „Deswegen habe ich immer weitergemacht. Es
gibt eine kleine Minderheit, die aggressiv und laut ist. Aber die Mehrheit
ist anders.“
2021 holte er das Direktmandat in Halle, mit dem besten SPD-Ergebnis
landesweit. Jetzt hört er auf. Dafür gebe es viele Gründe, sagt Diaby, aber
die Bedrohungen seien auch nicht wegzureden. Deshalb tritt auch Diaby für
ein AfD-Verbot ein, für ein Demokratiefördergesetz und mehr politische
Bildung.
Das BKA zählt für das Jahr 2023 bundesweit 3.626 Straftaten gegen
Mandatsträger oder Parteirepräsentanten, auch solche in Landtagen und
Kommunen. In diesem Jahr waren es im ersten Halbjahr bereits 1.965 Delikte.
Schon seit den Pegida- und Anti-Asyl-Protesten vor zehn Jahren, als mit
Galgen für Politiker*innen auf die Straße gegangen wurde, gerät etwas
ins Rutschen. Als in der Folge Bürgermeister*innen in Tröglitz,
Arnsdorf und anderswo wegen Bedrohungen zurücktraten. Zuletzt sorgten im
Europawahlkampf Angriffe unter anderem auf den [6][sächsischen
SPD-Spitzenkandidaten Matthias Ecke] für Entsetzen. Für den nun beginnenden
Bundestagswahlkampf sind es, in erneut polarisierten Zeiten, düstere
Aussichten. Manche Landesverbände wollen bei dem nun beginnenden
Bundestagswahlkampf etwa nicht mehr im Dunkeln plakatieren.
## „Es reicht ein Durchgeknallter“
Marco Wanderwitz zog 2002 das erste Mal in den Bundestag ein, mit 26
Jahren. Fünfmal verteidigte er sein Direktmandat im sächsischen Erzgebirge,
sein bestes Ergebnis waren 49,6 Prozent, bis 2021 im Wahlkreis ein AfDler
gewann. Zuvor hatte es Wanderwitz bis zum Staatssekretär und zum
Ostbeauftragten der Bundesregierung unter Angela Merkel gebracht – der
erste in diesem Amt, der mit den Ostdeutschen durchaus hart ins Gericht
ging.
Bei sich zu Hause beobachtete der vierfache Familienvater, wie die AfD in
Sachsen immer stärker und radikaler wurde. „Das kann auch kippen“, sagte er
der taz schon 2021. Leute würden erwägen wegzuziehen, weil sich die
Rechtsextremen immer mehr ausbreiteten, weil der neue Sporttrainer der
Kinder in der NPD sei. Unternehmen würden sich wegen der Stärke der AfD
nicht ansiedeln. „Ich will hier auch in Zukunft noch gut leben können“,
sagte er damals. Deshalb sei er in „den Kampfanzug gestiegen“. Aber so ein
Kampfanzug scheint auf Dauer nicht genug zu sein.
Wanderwitz setzt bei Anhänger*innen der AfD auf Konfrontation statt
Verständnis. Vier Monate vor der letzten Bundestagswahl bezeichnete er in
einem Interview die Ostdeutschen als „diktatursozialisiert“ und sagte, dass
ein Teil von ihnen für die Demokratie verloren sei. Das brachte viele gegen
ihn auf, auch in der eigenen Partei. In Schreiben wurde ihm nun gedroht:
„Wenn wir dich kriegen, Rübe ab.“ In einem anderen hieß es, seine Kinder
seien dran, falls der „erste Ausländer“ hier ein Kind vergewaltige. Auf
sein Parteibüro wurde ein Böllerangriff verübt, an einem öffentlichen
Wahlstand aufzutreten, war ihm zuletzt wegen der Bedrohungslage nicht mehr
möglich.
Er machte trotzdem weiter, wurde zum Gesicht der [7][Initiative für einen
AfD-Verbotsantrag], den er inzwischen mit 112 weiteren Abgeordneten in den
Bundestag eingebracht hat. „Aber ich habe irgendwann gemerkt, dass ich das
nicht mehr so leicht abstreifen kann“, sagt Wanderwitz. Dass die Sorgen im
Kopf blieben, und ein Gedanke: „Es reicht ein Durchgeknallter.“
Petra Pau sitzt seit 26 Jahren für die Linken im Bundestag. Wie Wanderwitz
all die Jahre Rückgrat bewiesen habe, davor habe sie „höchsten Respekt“,
sagt sie. Auch ihr selbst wurde angedroht, sie „an einem Baum im Tiergarten
aufzuknüpfen“, die Morddrohungen kann sie nicht mehr zählen. Als sie sich
2014 für eine Geflüchtetenunterkunft in ihrem Berliner Stadtteil
Hellersdorf einsetzte, zogen rechte Demonstrierende bis vor ihren Balkon.
„Wenn es persönlich wird, ist eine Grenze überschritten“, sagt Pau.
Natürlich habe sie sich danach mit ihrer Familie beraten. „Aber ich hatte
immer ein Umfeld, das gesagt hat: Es ist gut, was du machst.“
Seit sich die AfD stärker etabliert hat, habe sich der Ton verschärft. „Die
Partei wirft verbale Brandsätze im Parlament und hofft, dass diese
außerhalb zünden“, sagt Pau. Auch sie tritt nun ab. Die Drohungen hätten
nicht den Ausschlag gegeben, sagt die 61-Jährige. Sie werde sich nun über
Vereine, in denen sie aktiv ist, gegen den Hass engagieren. Zugleich sei es
nötig, dass politische Bildung gestärkt werde und Polizei und Justiz „klare
Stoppzeichen“ setzten.
„Komplett schockierend“ seien die Gründe für Wanderwitz’ Rückzug, sagt…
die ehemalige Grünen-Vorsitzende Ricarda Lang. „Da ist etwas ins Rutschen
geraten und ich habe Angst, dass es unwiederbringlich kaputtgegangen ist.“
Lang selbst hat Hass und Hetze abbekommen wie wenig andere
Politiker*innen in den vergangenen Jahren. Brenzlig sei es gewesen,
als sie beim Politischen Aschermittwoch in diesem Jahr nicht nur von
Demonstrierenden beschimpft worden sei, sondern diese ihr „zügellos“ in
eine Unterführung nachgerannt seien. „Da dachte ich zum ersten Mal, wenn
die Polizei jetzt nicht kommt, könnte es körperlich gefährlich werden.“
Deshalb zurückzutreten, habe sie nie erwogen, sagt Lang. Zu Wanderwitz gebe
es wichtige Unterschiede: Zum einen trage sie nur Verantwortung für sich
selbst und nicht für Familie und Kinder. „Und dann ist wichtig, ob einem
da, wo man lebt, einzelne Menschen feindlich gesinnt sind, oder ob es die
Mehrheit ist.“ Das sei bei ihr in Schwäbisch-Gemünd anders als bei
Wanderwitz im Erzgebirge.
## Der Diskurs dreht sich
Auch Gesundheitsminister Karl Lauterbach kennt den Hass: Momentan stehen
fünf Reichsbürger in Koblenz vor Gericht, denen vorgeworfen wird, [8][einen
Umsturz geplant zu haben – und Lauterbachs Entführung]. „Wenn Politiker
aussteigen müssen, weil Radikale sie und ihre Familien bedrohen, ist das
immer eine Niederlage für die Demokratie“, sagt der Sozialdemokrat.
Wanderwitz’ Rückzug sei verständlich, aber bedauerlich. Er selbst habe das
Privileg, gut geschützt zu werden. „Mein Respekt gilt allen, die
Anfeindungen ohne diesen Schutz aushalten.“
Wanderwitz betont: „Wenn wir diese Anfeindungen nicht in den Griff kriegen,
bekommen wir ein großes Problem. Dann finden sich immer weniger gute Leute,
die diesen Job im Parlament zu machen bereit sind.“
Als Reaktion auf die zunehmende Gefährdung eröffnete Bundesinnenministerin
Nancy Faeser im August eine Ansprechstelle zum [9][Schutz kommunaler Amts-
und Mandatsträger], die Betroffenen konkret und vertraulich Hilfsangebote
vermitteln soll. Zuvor hatten sie und andere Innenminister eine harte
Strafverfolgung für Gewalttäter eingefordert. Die bleibt jedoch oftmals aus
– und wird nun sogar offen infrage gestellt. Rechtsaußenmedien und selbst
Abgeordnete wie FDP-Vize Wolfgang Kubicki unterstellen
Regierungspolitiker*innen politisches Kalkül, wenn sie Anzeige
wegen Bedrohungen oder Beleidigungen stellen.
Auch [10][Bundestagspräsidentin Bärbel Bas] ist über die Entwicklung
besorgt. „Die Zahl der Anfeindungen, Bedrohungen und Angriffe auf
Politikerinnen und Politiker nimmt in einem erschreckenden Ausmaß zu,
gerade auch in Wahlkampfzeiten“, sagte die Sozialdemokratin der taz. Es sei
„ein sehr ernstzunehmendes Warnsignal, wenn sich Abgeordnete deshalb von
der politischen Arbeit zurückziehen“.
Bas hatte sich auch für zusätzliche Kontrollen im Bundestag starkgemacht:
Mitarbeitende etwa sollen im Verdachtsfall auch vom Verfassungsschutz
überprüft werden können, bevor sie einen Ausweis für den Bundestag
bekommen. Die Eingangskontrollen für Mitarbeiter*innen und Gäste von
Abgeordneten wurden verschärft. Doch sowohl die Reform der Geschäftsordnung
als auch die Einführung eines Gesetzes für die 200 Beamt*innen der
Bundestagspolizei drohen nun an der vorgezogenen Neuwahl zu scheitern. Bas
sagt, Demokratinnen und Demokraten müssten Vorbild sein: „Bei allem Streit
und unterschiedlichen Meinungen: Wir müssen wieder mehr zuhören und auf den
anderen zugehen, denn nur so lassen sich Kompromisse finden.“
Marco Wanderwitz erzählt, er habe nach seinem angekündigten Rückzug vor
allem Zuspruch erfahren, von Bürgerinnen und Bürgern, durch alle Parteien
hinweg. „Das war sehr erbaulich, ein schöner Abschluss.“ Sachsens CDU aber
blieb weitgehend stumm. Auch Kretschmer, dem Wanderwitz zuletzt
„Putin-Versteherei“ vorwarf, soll sich noch nicht bei dem 49-Jährigen
gemeldet haben. Und die AfD ätzt auch jetzt weiter gegen Wanderwitz, vorn
mit dabei Maximilian Krah, der sich nun in Stellung für dessen Wahlkreis
bringt.
Wanderwitz bleiben jetzt nur noch ein paar Wochen im Bundestag, dann ist
Schluss mit Politik. Dann will er sich aus der Öffentlichkeit zurückziehen.
Was folgt, lässt er offen. „Das wird sich finden.“ Aber Wanderwitz betont:
„Ich werde natürlich nicht aufhören, Demokrat und Staatsbürger zu sein.“
22 Nov 2024
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## AUTOREN
Sabine am Orde
Konrad Litschko
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