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# taz.de -- Coronapandemie in Sachsen: Kalter Bürgerkrieg
> Infektionsrekorde, radikale Impfskeptiker, Hass auf „die da oben“: Die
> Coronakrise verschärft in Sachsen Konflikte, die teils Jahrhunderte alt
> sind.
Bild: Weihnachtsmarkt im sächsischen Freiberg – in diesem Jahr nicht ohne Qu…
Sachsen ist endlich wieder einsame Spitze! Bis zum Herbst hat es gedauert,
ehe der Freistaat im Bundesvergleich das benachbarte Thüringen bei den
Corona-Infektionsquoten wieder auf den zweiten Platz verweisen konnte. Doch
seither liegt Sachsen uneinholbar vorn. Zu verdanken ist die
Tabellenführung auch dem nahezu stabilen Rekordanteil von 40 Prozent
Impfskeptikern, Impfverweigerern und militanten Impfgegnern.
In der Landeshauptstadt Dresden gilt seit vergangenem Mittwoch deshalb für
Ungeimpfte: „Nach zehn nur noch fernsehn.“ Mit dem Überschreiten der
Tausender-Inzidenzmarke und der folgenden Ausgangssperre aber erreicht
Dresden nicht einmal die Hälfte der 7-Tage-Inzidenz-Werte des benachbarten
Landkreises Meißen, dort kamen am Wochenende mehr als 2.200 Neuinfektionen
auf 100.000 Einwohner.
Die Schuld an den nun verordneten Covid-Restriktionen ([1][unter anderem
Gastronomieschließungen und 2G]) suchen manche Sachsen bei „denen da oben“
und nicht etwa bei einem relevanten Teil der Landesbürger selbst. Und das
ist nicht allein ein sächsisches, sondern ein ostdeutsches Phänomen. Mit
dem öffentlichen Jammern und Drohen – so scheint es – wollen „Ossis“
Aufmerksamkeit erreichen, die ihnen sonst gefühlt verweigert wird. Auch
deshalb stößt die AfD hier auf eine mehr als doppelt so hohe Resonanz
gegenüber den mental stabileren Westländern.
Am Montagabend dieser Woche konnte eine Schweriner Demonstration nur
hundert Meter vor dem Wohnhaus der Ministerpräsidentin von
Mecklenburg-Vorpommern, Manuela Schwesig (SPD), gestoppt werden. Sachsens
Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU) hat dasselbe bereits im Januar
dieses Jahres auf seiner „Ranch“ im Zittauer Gebirge erlebt. Kürzlich
[2][erfolgte zudem ein Angriff] auf das Haus seiner Sozialministerin Petra
Köpping (SPD) bei Grimma.
## Fußball-Fans gegen Kretschmer
Kretschmer selbst verliert trotz fortgesetzter Dialogbemühungen mit
Coronaskeptikern offenbar an Rückhalt. Bei der Wahl zum
CDU-Landesvorsitzenden im November stimmten nur noch drei Viertel der
Delegierten für ihn. In zwei mehrstündigen Videokonferenzen kamen in den
vergangenen beiden Wochen nicht nur die „üblichen Verdächtigen“ aus dem
Beraterfeld der Staatsregierung, sondern auch Kritiker Kretschmers zu Wort.
Die wenig stringente Coronapolitik des Kabinetts und die mangelnde
Vorbereitung auf die vierte Welle spiegelten sich in Unmutsbekundungen von
Veranstaltern, dem Gastgewerbe und anderen Interessenverbänden wider.
Derweil radikalisieren sich die Attacken gegen den Ministerpräsidenten. Am
ersten Novemberwochenende wurden beim Heimspiel des FC Erzgebirge Aue im
Stadion offen Hass-Spruchbänder gezeigt. „Kretschmer du willst Sachse sein?
Verhältst Dich wie ein Wessischwein!“, stand da zu lesen. Und: „Kretschmer
in den Westen – Abschieben sofort!“ Der Verein hatte Mühe, sich von seinen
eigenen Fans zu distanzieren.
Auf Telegram häufen sich direkte Tötungsaufrufe gegen Kretschmer und den
Landespolizeipräsidenten Horst Kretzschmar. Das Landeskriminalamt Sachsen
hat nach neuesten Angaben über 200 Bedrohungsdelikte registriert. Jetzt
geht man einer durch das ZDF-Magazin „Frontal“ aufgedeckten konkreten
Mordverschwörung gegen den Ministerpräsidenten in einer Telegram-Chatgruppe
nach. Für die zunehmende Militanz und Ignoranz gegenüber den Schutzregeln
machte Kretschmer rechtsextreme Kreise, konkret die „Freien Sachsen“,
verantwortlich.
## Die Polizei wirkt überfordert
Die kleine Partei der Corona-Ignoranten wird seit Sommer vom sächsischen
Verfassungsschutz beobachtet. Chef ist der von den Chemnitzer Krawallen
2018 bekannte Anwalt Martin Kohlmann von „Pro Chemnitz“. Auch der Name
Stefan Hartung ist bekannt. Der NPD-Kader organisierte schon im Winter
2013/14 sogenannte Lichtelläufe gegen die Flüchtlingsunterkunft im
erzgebirgischen Schneeberg.
Für wachsenden Unmut sorgten in Sachsen die Reaktionen beziehungsweise
Nichtreaktionen der Polizei auf die zunehmenden illegalen Demonstrationen
in Freiberg, Plauen, Bautzen und anderen Städten. Montags und am Wochenende
zogen teils mehrere hundert Gegner einer angeblichen „Coronadiktatur“ ohne
Masken und Abstand durch die Innenstädte. Die Polizei wirkte lange passiv
oder überfordert, obwohl sie das Überschreiten der Obergrenze von zehn
Personen bei Versammlungen eigentlich hätte ahnden müssen. Innenminister
Roland Wöller (CDU) geriet deshalb unter Beschuss – und zwar nicht nur bei
der Opposition.
Sogar der ausgebildete Polizist Albrecht Pallas, innenpolitischer Sprecher
des Koalitionspartners SPD, kritisierte schriftlich: „Zurückhaltung, wie
sie Innenminister Wöller geäußert hat, ist jedoch bei illegalen und teils
gewalttätigen Ansammlungen fehl am Platz und gefährlich.“
Spricht man mit Polizeibeamten, schildern diese aber auch praktische
Probleme jenseits möglicher Führungsschwächen. Von einem
Hase-und-Igel-Spiel ist die Rede, mit dem die Polizei irritiert,
fehlgelenkt und falsch alarmiert werden soll. So geschehen bei der
ausgebliebenen Demonstration am vergangenen Montag vor dem Dresdner
Landtag, [3][als dieser die epidemische Notlage beschloss]. Spontan und
offenbar wohlorganisiert tauchten die Gruppen dafür an anderen Orten auf.
Wöller wird neben Kultusminister Christian Piwarz dem Triumvirat der
„Junge-Union-Connection“ um den ebenfalls seit vier Jahren amtierenden
Ministerpräsidenten Kretschmer zugerechnet. Bei Personalbesetzungen im
Verfassungsschutz machte der 51-Jährige in der Vergangenheit keine gute
Figur.
In der Asylpolitik zeigte der erzkonservative CDU-Mann mit teils brutalen
Abschiebungen in diesem Jahr jene Härte, die er nun gegenüber den
marschierenden, teils radikalen Impfgegnern vermissen ließ. Am vergangenen
Montag schritt dann die Polizei plötzlich in einem halben Dutzend Städten
konsequent ein, löste Demonstrationen auf und leitete Verfahren ein. „Es
geht also doch“, lobt sogar die Linken-Innenpolitikerin Kerstin Köditz das
„angemessene Vorgehen“.
Wöller selbst sprach gegenüber dem MDR von einem „schwierigen Geschäft“,
das „jedes Mal eine Gratwanderung“ sei, weil man das Versammlungsrecht
zumindest eingeschränkt gewährleisten und keine Eskalationen forcieren
wolle. Es dürfe aber auch nicht sein, „dass die Polizei nebenherläuft“,
räumte er ein.
## Kollektive Neurosen
Die öffentlichkeitswirksamen Demonstrationen sind jedoch nur der
sichtbarste Ausdruck einer verbreiteten Unzufriedenheit in der Bevölkerung.
Das sächsische Gemüt ist eben nicht so gemütlich, wie man im Freistaat gern
kolportiert. „Schon wieder Sachsen!“, seufzen nicht wenige Sachsen selbst.
Politikwissenschaftler Hans Vorländer von der Technischen Universität
Dresden sprach einmal von einem beleidigten Grundgestus der Sachsen – dem
trotzigen Gefühl, immer zu kurz zu kommen, vom Einigeln.
Man kann dieses Gefühl aus den Traumata der militärischen Niederlagen im
18. und 19. Jahrhunderts sowie aus dem erheblichen Gebiets- und
europäischen Bedeutungsverlust nach dem Wiener Kongress 1815 herleiten. Das
daraus resultierende Bedürfnis nach Anerkennung ist bis heute ebenso
spürbar wie eine latente Aggressivität.
Solche kollektiven Neurosen führen zu den nur scheinbar widersprüchlichen
Extremen von besonderem Opportunismus einerseits und Renitenz andererseits.
Sachsen war besonders braun und besonders rot im 20. Jahrhundert und ist
besonders blau in der Gegenwart. „Mit wem ich marschiere, ist mir egal,
Hauptsache, ich werde meinen Frust los“, sagen sich viele einfache Sachsen.
Die Impffrage hat zu einer weiteren Verschärfung des Reizklimas geführt.
Wie zuvor schon an rechtsnationalistischen Trends oder am Umgang mit
Flüchtlingen ablesbar, zieht sich ein immer tieferer Graben durch das Land.
Der Disput über den angemessenen Umgang mit der Pandemie führt zu einer
weiteren Polarisierung. Kollegen-, Freundes- und Familienkreise zerfallen
in Lager.
Sogar in den Künsten, bei Profi- und Laienensembles oder in der
Literatenszene brodeln die Konflikte über eine gegenseitig unterstellte
Ausgrenzung und Bevormundung. In Behörden und Institutionen werden sie
mühsam unter dem Radar der Öffentlichkeit gehalten, offizielle
Bestätigungen gibt es kaum.
Ein kalter Bürgerkrieg ist im Gange. Weniger denn je darf man in toto von
„den Sachsen“ sprechen. Vernünftige, die sich noch unter Kontrolle haben,
verabschieden sich um des Friedens willen ganz aus dem Diskurs und stecken
den Kopf in den Sand. Andere feiern „Bekehrte“ wie den eigentlich ins
Wutbürgermilieu abgedrifteten Kabarettisten Uwe Steimle, der sich nun doch
impfen ließ. Wer soll diesen Laden noch zusammenhalten?
13 Dec 2021
## LINKS
[1] /Dramatische-Coronalage-in-Sachsen/!5821508
[2] /Opferberater-ueber-Corona-Angriffe/!5817191
[3] /Corona-in-Sachsen/!5817190
## AUTOREN
Michael Bartsch
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