# taz.de -- Pandemien und Paranoia: Triumph des Irrationalen | |
> Ob Aids oder Corona: Pandemien mobilisieren Ängste und Ohnmachtsgefühle. | |
> Da ist es fast zwangsläufig, dass Verschwörungsmythen florieren. | |
Bild: Das Weiße Haus am Welt-Aids-Tag: HIV und Corona sind grundverschieden, a… | |
Die Herren waren aus Bremen angereist. [1][US-Physiker Ernest Sternglass] | |
und sein Berufskollege [2][Jens Scheer], beides angesehene Autoritäten der | |
[3][Anti-Atombewegung], standen in der taz-Redaktion, um Tacheles zu reden. | |
Es war Mitte der 1980er Jahre, Aids begann zu wüten, und die beiden | |
Professoren wussten genau, warum: Das Immunschwächesyndrom sei die tödliche | |
Folge radioaktiver Niedrigstrahlung durch den weltweiten Ausbau der | |
Atomkraft. HIV sei der gigantische Vertuschungsversuch einer | |
Atomkatastrophe. | |
Es war nicht die einzige Verschwörungstheorie, die sich um Aids rankte. Mal | |
wurde die Immunschwäche als Folge der Umweltkrise erklärt, mal als | |
Krankheit der Armut, natürlich auch als Strafe des zürnenden Gottes. | |
US-Forscher Peter Duesberg versammelte eine riesige Anhängerschar, die | |
teilweise bis heute überzeugt ist, dass Aids nichts mit Viren zu tun hat. | |
Auch zur Herkunft des Erregers zirkulierten schillernde Thesen. Die | |
Bekannteste: HIV sei eine aus dem Ruder gelaufene, laborgezüchtete Biowaffe | |
des US-Militärs. Ähnlich irrationale Positionen bestimmten die | |
Aidsbekämpfung. Selbst der Spiegel war infiziert und machte im | |
Schulterschluss mit CSU-Mann Peter Gauweiler in Panik, um potenzielle | |
Virusträger zu testen, auszusondern, wegzusperren. | |
HIV und [4][Coronavirus] sind grundverschieden, aber sie haben eines | |
gemeinsam. Sie mobilisier(t)en weltweit Angst, Unsicherheit, | |
Ohnmachtsgefühle und [5][gemeingefährlichen Irrsinn in erstaunlichem | |
Ausmaß]. | |
Viren sind eine lautlose, unsichtbare und damit heimtückische Bedrohung. | |
Bei [6][HIV] waren vor allem sogenannte Risikogruppen gefährdet, bei Corona | |
sind wir alle dran. Aber die einen sterben an Covid, die anderen spüren | |
nicht mal ein Kratzen im Hals. Gleichzeitig [7][mutiert das Virus] | |
permanent, nimmt immer gefährlichere Formen an. Als Folge blüht die | |
Kriegsrhetorik, Politiker wie Macron und Johnson erklären den Kampf gegen | |
Sars-CoV-2 zur Mutter aller Schlachten, [8][den deutschen Coronakrisenstab | |
kommandiert ein General]. | |
In dieser Gemengelage ist eine paranoide Weltdeutung die fast schon | |
logische Konsequenz. Der Verlust wissenschaftlicher Faktizität, der | |
Untergang des Arguments gehören zur Pandemie wie die tägliche Arithmetik | |
der Ansteckung. Dass aber ein naheliegendes Schutzkonzept wie die Impfung | |
von jedem fünften Erwachsenen in Deutschland verweigert oder verschludert | |
wird, überrascht dann doch. Sind wir so vernagelt, so idiotisch im | |
griechischen Sinne? | |
## Die Triage beginnt | |
Statt die Viruslast durch konsequente Impfdisziplin gegen Null zu drücken, | |
steuert das Land wegen des Bettennotstands der Intensivmedizin auf eine | |
[9][Triage] zu, die in zarten Anfängen schon begonnen hat. Wer kommt | |
frühzeitig und wer etwas später auf die Intensivstation, wer wird per | |
Hubschrauber in andere Kliniken verlegt und wer nicht, wen versorgt das | |
medizinische Personal mal mehr, mal weniger aufopferungsvoll? Das wird in | |
den Coronahotspots täglich entschieden. | |
Die Wut auf die Ungeimpften wächst. Sie sind es vor allem, die unsere | |
medizinischen Ressourcen auffressen; auf manchen Stationen belegen sie 90 | |
Prozent der Covid-Intensivbetten. Sie sorgen dafür, dass dringende | |
Operationen verschoben werden. | |
Die Konstellationen sind bizarr. Pflegepersonal und Ärzte werden jetzt | |
gesetzlich verdonnert, sich impfen zu lassen, damit sie die wachsenden | |
Heerscharen der Ungeimpften in den Krankenhausbetten bestens versorgen | |
können. | |
Die meisten der nicht geimpften Krankenhaus-Patienten sind „Umkehrer“. Sie | |
machen sich Vorwürfe oder bedauern aufrichtig, dass sie die Vakzine | |
verweigert haben. Sie setzen sich damit ihren Schamgefühlen aus. Doch es | |
gibt auch die zweite Kategorie. Menschen, die selbst nach lebensrettender | |
Intensivbehandlung ihrer paranoiden Sicht treu bleiben. | |
Der Triumph des Irrationalen mache selbst vor dem Tod nicht halt, sagt der | |
Aachener Psychoanalytiker Micha Hilgers. Es geht nicht nur um Corona, es | |
geht um die eigene Identität, die bei diesen Menschen unauflöslich mit der | |
Ablehnung staatlicher und wissenschaftlicher Instanzen verknüpft ist; | |
Misstrauen, Bitterkeit und oft auch Hass sind grenzenlos. | |
## Wenn es um Leben und Tod geht | |
Der Vertrauensverlust gegenüber der [10][Coronapolitik] wird noch dadurch | |
befördert, dass die Pandemie mit ihrer Unberechenbarkeit zwangsläufig zu | |
Widersprüchen, auch zu gravierenden Fehleinschätzungen führt. Auch die | |
Wissenschaft spricht nie mit einer Stimme, anfangs hatte sogar das Robert | |
Koch-Institut das Tragen von Masken abgelehnt. Zuletzt provozierte die | |
Auflösung der epidemischen Notlage Kopfschütteln bis Entsetzen. | |
Zugleich ist gerade die Medizin – dort wo es um Krankheit, Leben und Tod | |
geht – schon immer anfällig für Argwohn und für Verirrungen bis hin zur | |
Behandlung beim Geistheiler. Das hochtechnisierte, von immer stärkeren | |
ökonomischen Zwängen getriebene Gesundheitssystem trägt selbst viel dazu | |
bei, Misstrauen zu schüren. Man muss nicht an todbringende 5G-Strahlung und | |
implantierte Microchips im Impfkanal glauben, um eine kritische Distanz | |
gegenüber der Medizin und Coronapolitik einzunehmen. | |
Häme und Hiebe der Medien verstärken den Argwohn. Der Historiker und | |
frühere taz-Redakteur Götz Aly kritisiert zurecht die mediale Begeiferung | |
jeder staatlichen Maßnahme der Coronapolitik „als übertrieben, zu spät oder | |
zu früh, als völlig unbegründet, ungerecht, planlos, als Angriff auf die | |
Grund- und Freiheitsrechte“. Im Dauersirenenton zerlegen Medien genüsslich | |
das „Impfchaos“. Dass das deutsche Coronamanagement lange Zeit relativ | |
erfolgreich war, ist kein Thema. Auch die globale Perspektive fehlt. | |
Da braucht es einen Schriftsteller wie Ian McEwan, der Corona als Auftakt | |
neuer biosphärischer Kollisionen sieht. Für ihn ist Covid „unser | |
Massen-Tutorial“, und: „Generalprobe und Vorgeschmack für kommende | |
Katastrophen im planetarischen Maßstab“. | |
13 Dec 2021 | |
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## AUTOREN | |
Manfred Kriener | |
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