| # taz.de -- Motivation von Impfgegnern: Der Stolz der Störer | |
| > Die verschiedenen Impfgegner-Milieus eint ihre Egozentrik. Die können wir | |
| > als Echo der neoliberalen Forderung nach Selbstverantwortung lesen. | |
| Bild: Straßendemonstration von Impfgegner*innen in München im November 2021 | |
| Seit einigen Monaten haben Impfgegner ihre rhetorische Strategie geändert. | |
| Sie konzentrieren sich jetzt darauf, dass das Covid-19-Virus gegen | |
| Impfungen die Oberhand habe, bejubeln das Wort „Impfdurchbruch“ wie eine | |
| Errungenschaft. In Foren und Gruppen werden Fallzahlen gehandelt, die ihre | |
| Grundannahme belegen sollen – Impfung unwirksam, alles Betrug. Ein | |
| Impfgegner schrieb mir, was längst zum Gassenhauer der Szene geworden war: | |
| „Ihr seid verarscht worden.“ | |
| Ein Jahr hatten [1][Anti-Vaxer] behauptet, nur milde Grippe und Angstmache | |
| zu sehen. Längst hat sich ein Gruppenverständnis als Zusammenschluss derer | |
| herauskristallisiert, die sich für klüger halten. Kern der | |
| Impfgegnerschaft: Die Impfung diene nur der Person, die sich das Vakzin | |
| spritzen lasse. „Aber die Durchbrüche …“ ist die Jokerkarte, die Impfgeg… | |
| gegen politische und soziale Argumente spielen. | |
| So argumentieren esoterische Kreise, Lebensreformer*innen, Globuli-Trupps | |
| aus Süddeutschland. Das Lebensgefühl greift bis zum verminderten | |
| Freiheitsbegriff der [2][FDP]: Menschen zu entlassen, Steuern zu bezahlen, | |
| Rücksicht zu nehmen sei eben eine Individualentscheidung. Einige FDPler | |
| riefen im Herbst nach einem „Freedom Day“, man kann sich | |
| Bundestags-Vizepräsident Wolfgang Kubicki vorstellen, wie er im Lockdown in | |
| der Stammkneipe feixt. Der argumentative Kern funktioniert auch bei | |
| Ostdeutschen, die dem Staat nichts glauben und AfD wählen. | |
| Die Schnittmenge solcher sozial und kulturell kreuzverschiedenen Lager | |
| liegt in ihrer Egozentrik. Und in der Freude, als Sperrminorität einer | |
| Gesellschaft zu agieren. Zur politischen Kühlerfigur hat sich die eitle | |
| Sahra Wagenknecht aufgeschwungen, für Beiträge bei Talkrunden und in | |
| Kommentaren bekommt sie Applaus aus Lagern, die niemals die Linken wählen | |
| würden. Das Argument dreht sich im Kreis, wasserdicht und zum Dogma | |
| verschweißt: Wer der Regierung misstraut, misstraut der Medizin, die mit | |
| viel öffentlicher Förderung entwickelt wurde. Wer der Medizin misstraut, | |
| misstraut auch der Regierung, die sie propagiert. | |
| In der Zeit hat Martin Machowecz darüber nachgedacht, ob die geringere | |
| Impfquote in Ostdeutschland mit zwei Punkten zusammenhänge: Erstens einer | |
| Unempfindlichkeit gegenüber einem Gesundheitsbegriff, den er aus der Zahl | |
| kardiovaskulärer Erkrankungen (hoch, weil viel Alkohol & Zigaretten) in | |
| Ostdeutschland und Osteuropa ableitet. Vier von fünf ostdeutschen | |
| Bundesländern belegen die Plätze mit der geringsten Impfquote. In Osteuropa | |
| ist die Impfquote deutlich niedriger als im Westen. Machowecz’ zweiter | |
| Punkt destilliert eine Empfindlichkeit gegenüber moralischen oder | |
| politischen Appellen, die nicht genügend ostdeutsches Kolorit tragen: Die | |
| Bereitschaft, Argumenten zuzuhören, die von Menschen formuliert werden, die | |
| nicht in meiner Gegend leben, nicht zu meinem politischen Milieu gehören, | |
| ist gering. Fans des Fußballvereins Erzgebirge Aue bewiesen, wie so eine | |
| identitätspolitische Debatte funktionieren soll: Sie forderten, der | |
| sächsische [3][Ministerpräsident Kretschmer], in Görlitz geboren, müsse für | |
| seine nun härtere Gangart in der Covid-19-Politik abgeschoben werden. In | |
| „den Westen“. | |
| Machowecz hat einen entscheidenden dritten Aspekt übersehen: die Lebenswelt | |
| gewordene Entsolidarisierung. Sächsischer Frust, thüringischer Daffke, | |
| allerlei Enttäuschung über die Mittelmäßigkeit der eigenen | |
| Lebensentwicklung hat weniger Wurzeln im Realsozialismus: Die ostdeutsche | |
| Misere kann man als Ergebnis der 1990er Jahre lesen. | |
| Stephen Holmes und Ivan Krastev haben vorgeschlagen, Probleme im | |
| Imitationsdruck und der Imitation westeuropäischer und westdeutscher | |
| Lebensstile und überhaupt des westlichen Politikmodells zu suchen. Polen | |
| und Ungarn haben sich inzwischen vom liberalen Politikmodell verabschiedet, | |
| lassen sich aber gerne noch von der EU alimentieren. Allerdings bedienen | |
| sie damit auch soziale Forderungen: die richtungslose Rebellion vieler, die | |
| für ihre Enttäuschung andere verantwortlich machen wollen. Die vielen ihre | |
| angeblich gute Laune vermiesen wollen: Geflüchteten, Menschen mit anderen | |
| sexuellen Orientierungen, oder den zum Stereotyp hochgejazzten Kreuzberger | |
| Hipster. Der Kern der Auseinandersetzung um die Impfung ist höchstens an | |
| der Oberfläche eine gesundheitspolitische Diskussion. In ihr spiegelt sich | |
| das Spannungsverhältnis vom Einzelnen zu Gruppen. Und eine olympische | |
| Disziplin der Deutschen: Rechthaberei. | |
| Viele Ostdeutsche und Osteuropäer erlebten die 1990er Jahre als immer | |
| heftigere Zumutung: Nach der Epoche, in der die Holzparolen der | |
| „Solidarität“ die kleine Münze politischer Bekenntnisse waren, wuchs der | |
| Stress aus Vereinzelung, Wettbewerb, Misstrauen. Das Elitenprojekt | |
| Sozialabbau, Beschneidung der Daseinsvorsorge, komplementiert mit | |
| militanter Forderung von Selbstverantwortung schallt nun aus dem Wald | |
| zurück als komplette Unfähigkeit, einen Gemeinschaftsbegriff zu denken. Der | |
| Wald bedeckt auch Teile der Mitte der ostdeutschen Gesellschaft. | |
| Von hier halten Menschen einer Mehrheit ihre Hartleibigkeit entgegen, die | |
| sie sich im Wettbewerb aller gegen alle angelegt haben. Plötzlich finden | |
| sie Gesinnungsgenoss*innen, taufen sich mit Telegram und Facebook zum | |
| widerspruchsfreien Kollektiv. Sich nicht impfen zu lassen, spiegelt die | |
| Selbstbezogenheit, die eine neoliberale Wirtschaftsordnung in die | |
| Gesellschaft getragen hat. Und fordert einen politischen Apparat heraus, | |
| der gegen Spaltung bei Einkommen und Vermögen nur Sonntagsreden parat | |
| hatte. Oder Zwang. Plötzlich können sich Menschen wichtig fühlen, indem sie | |
| sich stolz als Störung verstehen. Das Grinsen, mit dem viele auf den | |
| Antivax-Demonstrationen auftreten, ist ein Echo auf das Feixen der | |
| Kubickis. | |
| 8 Dec 2021 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Coronaleugner-in-Baden-Wuerttemberg/!5815909 | |
| [2] /FDP-vor-dem-Start-der-Ampel-Koalition/!5817350 | |
| [3] /Reaktionen-auf-Fackelmarsch-in-Sachsen/!5820438 | |
| ## AUTOREN | |
| Lennart Laberenz | |
| ## TAGS | |
| Schwerpunkt Coronavirus | |
| FDP | |
| Coronaleugner | |
| Neoliberalismus | |
| Impfung | |
| Pandemie | |
| Telegram | |
| Schwerpunkt Coronavirus | |
| IG | |
| Schwerpunkt Coronavirus | |
| IG | |
| Lesestück Recherche und Reportage | |
| Schwerpunkt Coronavirus | |
| Lesestück Recherche und Reportage | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Im Gespräch bleiben: Die Pandemie als Trainingslager | |
| Sich aufregen kann jeder. Miteinander reden aber muss man üben. Dafür war | |
| die Pandemie gut. Die Gruppe „Salong“ ist der Beweis dafür. | |
| Deutsche Politik attackiert Telegram: Fehlender Zugriff | |
| Die Politik fordert mehr Härte gegen den Hass im Messengerdienst Telegram. | |
| Doch die Betreiber reagieren nicht. Nun wird der Druck erhöht. | |
| Pandemien und Paranoia: Triumph des Irrationalen | |
| Ob Aids oder Corona: Pandemien mobilisieren Ängste und Ohnmachtsgefühle. Da | |
| ist es fast zwangsläufig, dass Verschwörungsmythen florieren. | |
| Gewaltbereite Netzwerke im Osten: Aufgeilen am schwachen Staat | |
| In Ostdeutschland erstarkt der Rechtsextremismus nicht wegen | |
| Impfpflichtdebatten. Sondern weil der Staat ihn verharmlost und sich | |
| zurückzieht. | |
| Dramatische Coronalage in Sachsen: Kaum Verständnis für neue Regeln | |
| In Sachsen wütet die Coronapandemie weiter. In Hotspot-Regionen müssen nun | |
| Restaurants und Cafés schließen. Viele Inhaber:innen sind sauer. | |
| Impfquote in Deutschland: Die Wut muss politisch werden | |
| Die Politik trägt die Verantwortung für die Impfquote in der Bevölkerung. | |
| Auch die katastrophale Lage in den Krankenhäusern ist ihr Versagen. | |
| FDP vor dem Start der Ampel-Koalition: Die Auferstandene | |
| Sie war tot geglaubt, doch dann schafft es die FDP acht Jahre nach dem | |
| Absturz wieder in die Regierung. Hat sie aus der Vergangenheit gelernt? | |
| Reaktionen auf Fackelmarsch in Sachsen: „In Art und Auftritt faschistoid“ | |
| Zahlreiche Politiker:innen zeigen Solidarität mit Sachsens | |
| Gesundheitsministerin Köpping (SPD). Vor ihrem Haus waren rechtsextreme | |
| Coronaleugner aufgezogen. | |
| Coronaleugner in Baden-Württemberg: Schlechte Nachbarschaft | |
| Proteste, Schmierereien und eine „Corona-Schule“: Im Schwarzwaldkreis | |
| Rottweil sorgen Impfgegner für gereizte Stimmung. Was ist da los? |