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# taz.de -- Corona und Armut: 4,70 Euro für die Hygiene
> Armutslagen haben sich durch Corona verschärft. Nicht nur
> Hartz-IV-Empfänger:innen, auch Selbstständige sind betroffen, so ein
> Bericht.
Bild: Dazu verdienen, weil das Geld vom Amt nicht reicht
Berlin taz | Armut und Reichtum wirken sich auf die Lebenslagen in der
Pandemie sehr unterschiedlich aus. „Arme Menschen trugen aufgrund ihrer
schlechteren Arbeitsbedingungen, ihrer Angewiesenheit auf öffentliche
Verkehrsmittel, ihrer schlechteren und beengteren Wohnverhältnisse und
ihrer im Schnitt schlechteren gesundheitlichen Verfassung von Anfang an ein
deutlich höheres Risiko, an Corona zu erkranken – von Flüchtlingen in
Sammelunterkünften oder Obdachlosen ganz zu schweigen“, sagte Ulrich
Schneider, Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Gesamtverbands, am
Donnerstag in Berlin.
Schneider präsentierte den aktuellen [1][Armutsbericht des Gesamtverbandes]
unter dem Titel „Armut in der Pandemie“, bezogen auf Mikrozensus-Daten für
das Jahr 2020. Die sogenannte Armutsquote erreichte mit 16,1 Prozent laut
Bericht einen „neuen Höchststand“. „Noch nie wurde auf der Datenbasis des
Mikrozensus eine höhere Armutsquote in Deutschland gemessen als 2020“, so
Schneider.
Die „Armutsquote“, in anderen Studien auch „Armutsgefährdungsschwelle“
genannt, bezieht sich auf einen Wert von 60 Prozent des mittleren
Einkommens. Diese Armutsschwelle lag im Jahr 2020 bei einem Nettoeinkommen
von monatlich 1.126 Euro, für einen Singlehaushalt gerechnet. Wer darunter
liegt, gilt laut Bericht des Paritätischen als „arm“, das ist fast ein
Sechstel der Bevölkerung.
Die Armutsquote von 2020 liegt 0,2 Prozentpunkte höher als der
Vergleichswert aus dem Vorjahr. Schneider räumte jedoch ein, man müsse den
Wert „differenziert“ betrachten. Aus methodischen Gründen sei ein Vergleich
des Jahres 2020 mit den Werten früherer Jahre „nur eingeschränkt möglich�…
## Höhere Kosten machen arm
Bei Hartz-IV-Empfänger:innen waren es höhere Kosten und der Wegfall
von „Unterstützungsangeboten“ wie Tafeln, Schulessen, Sozialkaufhäuser, d…
das Leben in der Pandemie erschwerten, zählte Schneider auf. „Zugleich
sollten die Menschen noch zusätzlich Geld ausgeben für Masken und
Desinfektionsmittel“, sagte er. Im Hartz-IV-Regelsatz seien aber nur 4,70
Euro im Monat für Hygieneartikel vorgesehen. Erst in der zweiten
Jahreshälfte 2020 wurde ein einmaliger Kinderbonus von 300 Euro pro Kind
für Familien im Hartz-IV-Bezug gewährt.
Die Einkommensverlierer:innen seien „vor allem unter den
Erwerbstätigen“ und darunter „vor allem unter den Selbstständigen zu
suchen“, führte Schneider aus. Unter Selbstständigen zählte die
Mikrozensuserhebung 2019 9 Prozent Arme, 2020 war dieser Wert auf 13
Prozent gestiegen. Unter Erwerbstätigen insgesamt, die zumeist
sozialversicherungspflichtig beschäftigt sind, gab es 2019 hingegen 8
Prozent Arme und ein Jahr später 8,7 Prozent.
Bei den sozialversicherungspflichtig Beschäftigten wirkten „insbesondere
das Kurzarbeitergeld, aber auch das Arbeitslosengeld I als Instrumente der
Armutsbekämpfung“, so Verbandschef Schneider, „das große Beben in der
Armutsstatistik ist trotz Pandemie ausgeblieben.“ Der ganz überwiegende
Teil der Bevölkerung – rund vier Fünftel – habe in 2020 keine
coronabedingten Einkommensverluste erlitten, darunter Rentnerinnen und
Rentner, Beamte, Angestellte des öffentlichen Dienstes. 37 Prozent der
Selbstständigen und 44 Prozent der Solo-Selbstständigen haben hingegen
während der Pandemie Einkommenseinbußen erlebt, so der Bericht.
Eine Sonderauswertung einer [2][aktuellen Konjunkturumfrage des Münchner
Ifo-Instituts] beschäftigt sich ebenfalls mit den Selbstständigen. Es zeige
sich, dass „Soloselbstständige und Kleinstunternehmen die aktuelle Lage in
deutlich geringerem Maße positiv einschätzen, als das in der gesamten
Wirtschaft der Fall ist“, heißt es im Ifo-Papier. „Insgesamt deuten die
Ergebnisse darauf hin, dass kleinere Unternehmen am stärksten von der
Coronakrise in Mitleidenschaft gezogen wurden.“
## Kein Publikum, kein Geld
Besonders Selbstständige in der Gastronomie und im Kultur- und
Veranstaltungsbereich leiden unter pandemiebedingtem Auftragsmangel,
Besucherrückgängen und der Absage von Veranstaltungen – auch jetzt wieder
in der vierten Coronawelle. Darauf weist Andreas Lutz hin, Vorsitzender des
Verbands der Gründer und Selbstständigen Deutschland (VGSD).
Die Umsatzrückgänge beträfen auch die aktuelle Vorweihnachtszeit, in denen
weitgehende Coronabeschränkungen gelten. „Weihnachtsfeiern fallen weg,
Weihnachtsmärkte werden geschlossen, in München haben die Bars dicht
gemacht“, schilderte Lutz im Gespräch mit der taz.
Solo-Selbstständige in Not können bis März 2022 mit dem Nachweis
erheblicher Umsatzrückgänge die sogenannte Neustarthilfe Plus beantragen,
die monatliche Zuschüsse bis zu 1.500 Euro vorsieht.
Schneider sagte, [3][der Koalitionsvertrag] der neuen Ampelregierung
biete „eine Reihe von Vorhaben“, um Einkommensarmut wirkungsvoll zu
bekämpfen. Das Grundproblem sei, dass mit Ausnahme des Mindestlohns
sämtliche relevanten Vorhaben unter „Finanzierungsvorbehalt“ stünden. So
könne von der versprochenen „Kindergrundsicherung“ nur gesprochen werden,
wenn sie die Einkommensarmut von Kindern in Deutschland praktisch beende.
Es werde sehr darauf ankommen, wie die angekündigte Neudefinition des
soziokulturellen Existenzminimums der Kinder ausfalle, sagte der
Verbandschef.
16 Dec 2021
## LINKS
[1] https://www.der-paritaetische.de/themen/sozialpolitik-arbeit-und-europa/arm…
[2] https://www.ifo.de/publikationen/2021/aufsatz-zeitschrift/das-neue-geschaef…
[3] https://www.spd.de/fileadmin/Dokumente/Koalitionsvertrag/Koalitionsvertrag_…
## AUTOREN
Barbara Dribbusch
## TAGS
Hartz IV
Protokoll Arbeit und Corona
Selbstständige
Schwerpunkt Klimawandel
Aufstocker
Schwerpunkt Coronavirus
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