# taz.de -- Die Neue Rechte und Literatur: Vorleser mit Hintergedanken | |
> Das Interesse der Neuen Rechten an Romanen unterliegt einer | |
> metapolitischen Strategie. Sie nutzen Literatur, um den kulturellen | |
> Diskurs zu verschieben. | |
Bild: Die Neue Rechte will Literatur benutzen, um eine Verschiebung des kulture… | |
Keine andere politische Strömung hat sich in den letzten zwanzig Jahren so | |
intensiv mit Literatur beschäftigt wie die Neue Rechte. Insbesondere der | |
Kreis um das Ehepaar [1][Götz Kubitschek] und Ellen Kositza bespielt aus | |
Schnellroda eine Vielzahl von Medienformaten, in denen Gedichte empfohlen, | |
Romane besprochen und (meist männliche) Autoren diskutiert werden. | |
Klassische Rezensionen und Autorenporträts finden sich in der Zeitschrift | |
Sezession, in 90-minütigen Videogesprächen stellt Kubitschek gemeinsam mit | |
dem Historiker Erik Lehnert Schriftsteller wie Gottfried Benn oder Jochen | |
Klepper vor, während Kositza gemeinsam mit der Dresdner Buchhändlerin | |
[2][Susanne Dagen] und jeweils einem Gast in der Sendung „Aufgeblättert. | |
Zugeschlagen. Mit Rechten lesen“ im Stil der ZDF-Sendung „Das literarische | |
Quartett“ seit 2018 über Bücher diskutiert – darunter zahlreiche | |
Neuerscheinungen, die sich nicht dem rechten Spektrum zurechnen lassen. | |
Ähnliches findet man auch außerhalb von Schnellroda: Der Jungeuropa Verlag | |
betreibt den Podcast „Von rechts gelesen“ (dessen literarisches Spektrum | |
von Ernst Jünger bis zu „Harry Potter“ reicht), die Szene-Zeitschrift | |
Tumult enthält die Lyrik-Rubrik „Landschaften“, in der Ulrich Schacht dem | |
norwegischen Rechtsterroristen Anders Breivik ein Langgedicht widmen | |
durfte, das die Ermordung von 77 Menschen zu einer mythischen Tat in der | |
Tradition des griechischen Gottes Dionysos verklärt. | |
## Intellektualisierung des Rechtsextremismus | |
Ein Kernanliegen der Neuen Rechten besteht darin, sich um eine | |
Intellektualisierung des Rechtsextremismus zu bemühen – dabei spielt | |
Literatur eine zentrale Rolle. Eingebettet ist all das in eine | |
metapolitische Strategie. Angelehnt an den italienischen Kommunisten | |
[3][Antonio Gramsci] und den US-amerikanischen Politologen Gene Sharp geht | |
es der Neuen Rechten nicht um kurzfristige Wahlerfolge rechter Parteien | |
(mit denen man gleichwohl intensiv kooperiert), sondern um eine | |
mittelfristige Rechtsverschiebung des kulturellen Diskurses. | |
Wer das politische System nachhaltig verändern möchte, so die | |
Grundüberzeugung, muss dafür zunächst die geistige Basis schaffen, also | |
Einfluss im vorpolitischen Raum von Kneipen und Schulen, Internet und | |
Social Media gewinnen. | |
Um dabei erfolgreich zu sein, empfiehlt Kubitschek in einem | |
Sezessions-Artikel von 2017 mit dem bezeichnenden Titel | |
„Selbstverharmlosung“ drei unterschiedliche Strategien. Die erste besteht | |
in einer „Schaffung neuer Gewohnheiten“: Eine allmähliche | |
Rechtsverschiebung des privaten und öffentlichen Sprechens soll dadurch | |
erreicht werden, dass man immer wieder und immer weiter provozierend | |
vorstößt in die „Grenzbereiche des gerade noch Sagbaren und Machbaren“. | |
## Verkaufszahlen von „Remigration“ steigen | |
Wenn [4][Martin Sellners] Vorstellungen von „Remigration“ aus dem | |
[5][Potsdamer „Geheimtreffen“] heraus an die Öffentlichkeit gelangten, ist | |
das aus metapolitischer Perspektive kein Unfall, sondern ein Glücksfall. Ob | |
geplant oder nicht: Für die Popularität des Konzepts und die Verkaufszahlen | |
des kurz darauf in Kubitscheks Antaios Verlag erschienenen Sellner-Buchs | |
„Remigration“ waren die Enthüllungen zweifellos förderlich. | |
Die zweite Strategie wird von Kubitschek als „Verzahnung“‚ bezeichnet. Sie | |
zielt darauf ab, radikale Positionen salonfähig zu machen, indem man „auf | |
Sprecher aus dem Establishment verweist, die dasselbe schon einmal sagten | |
oder wenigstens etwas ähnliches“. Besonders geeignet sind dafür Zitate | |
linker und/oder jüdischer Personen – so berief sich Sellner in seiner | |
Verteidigung der ausländerfeindlichen Sylter Vorgänge ausgerechnet auf | |
Hannah Arendt. | |
Kubitschek ist überzeugt, dass Prestigegewinne nicht so sehr von | |
Verbotsverfahren verhindert werden, sondern vor allem von einer | |
„emotionalen Barriere“, die man in traditionell konservativen Kreisen | |
gegenüber der extremen Rechten noch empfindet. Zur Auflösung dieser | |
Barriere empfiehlt er drittens eine strategische „Selbstverharmlosung“, | |
also „die Vorwürfe des Gegners durch die Zurschaustellung der eigenen | |
Harmlosigkeit abzuwehren und zu betonen, daß nichts von dem, was man | |
fordere, hinter die zivilgesellschaftlichen Standards zurückfalle“. | |
Man muss Kubitschek nicht böswillig interpretieren, sondern einfach nur | |
lesen, um zu verstehen, worum es der Neuen Rechten eigentlich geht: | |
zivilgesellschaftliche Standards abzuschaffen. Zu dieser Einsicht ist nun | |
auch das Bundesamt für Verfassungsschutz gekommen, das den Antaios Verlag | |
[6][seit Juni als „gesichert rechtsextrem“ einstuft.] | |
Alle drei von Kubitschek empfohlenen Strategien prägen die neurechte | |
Literaturpolitik. Denn gerade das Widersprüchliche, das im Zugleich von | |
Selbstverharmlosung und schleichender Radikalisierung liegt, lässt sich | |
mithilfe von Literatur besonders gut in den kulturellen Diskurs einspeisen. | |
## Kritik an digitalen Medien | |
Auf Sympathiegewinne außerhalb der eigenen Kreise zielt etwa das von | |
Kositza gemeinsam mit Caroline Sommerfeld verfasste und vergleichsweise | |
harmlose Buch „Vorlesen“ (2019), das Dutzende Kinder- und | |
Jugendbuchklassiker als hilfreich für die Persönlichkeitsentwicklung | |
empfiehlt, Vorlesen als eine „Unterform des Kuschelns“ versteht („es geht | |
am besten auf dem Schoß, auf dem Sofa und im Bett“) und mit seiner Kritik | |
an der Nutzung digitaler Medien in bildungsbürgerlichen Kreisen offene | |
Türen einrennt. | |
Auch das neurechte Interesse an ironischer Popliteratur von Christian | |
Kracht oder Leif Randt erzeugt Schnittmengen mit nichtrechten Lesekulturen | |
und Stilgemeinschaften. Wie sich literarische Texte – auf der anderen Seite | |
– für eine Rechtsverschiebung des Sagbaren einsetzen lassen, zeigt etwa die | |
Arbeit mit demokratiefeindlichen und faschismusaffinen Texten der | |
kanonisierten Autoren Ernst Jünger oder Gottfried Benn. | |
Gleichzeitig bemüht man sich um die Wiederentdeckung weitgehend vergessener | |
Schriftsteller wie Ernst von Salomon (1902–1972). Salomon zählt zur | |
sogenannten Konservativen Revolution, also den antidemokratischen Stimmen | |
der 1920er Jahre, bekleidete im Nationalsozialismus aber keine | |
herausgehobene Funktion. Sein Mammutwerk „Der Fragebogen“ von 1951 war | |
einer der größten Verkaufserfolge der Nachkriegszeit und erscheint bis | |
heute – Stichwort „Verzahnung“ – im renommierten Rowohlt Verlag. | |
## Nationalsozialismus partiell rehabilitieren | |
Die neurechte Begeisterung für Buch und Autor – Benedikt Kaiser erklärte | |
Salomon im Jungeuropa-Podcast kürzlich zum besten Schriftsteller der | |
Konservativen Revolution – hat mehrere Gründe. Dass Salomon die | |
amerikanischen Internierungslager mit den deutschen Konzentrationslagern | |
überblendet, spielt der Neuen Rechten gleich doppelt in die Karten, weil | |
damit sowohl Entnazifizierung und Re-Education nach 1945 kritisiert als | |
auch der Nationalsozialismus zumindest partiell rehabilitiert werden | |
können. | |
Entscheidend für Letzteres ist die Schlusspassage des „Fragebogens“, in der | |
Salomon seinen Respekt für Hanns Ludin zum Ausdruck bringt. Ludin fungierte | |
1941–45 als Gesandter des Deutschen Reichs in der Slowakei, sprach sich | |
1942 für eine „100prozentige Lösung der Judenfrage“ aus, war für die | |
Deportation 60.000 slowakischer Jüdinnen und Juden verantwortlich und | |
bekannte sich noch 1946 zum Nationalsozialismus und zu Hitler; 1947 wurde | |
er als Kriegsverbrecher hingerichtet. | |
Immer wieder kommen Kubitschek und Kositza im Zusammenhang mit Salomon auf | |
Ludin zu sprechen – und zwar durchweg hochachtungsvoll. So bezeichnet | |
Kositza die von Ludins Enkeln betriebene Aufarbeitung der | |
Familiengeschichte als „hinterlistigen Dolchstoß“ und in „besonderer Wei… | |
erschreckend“, während sie das Schicksal der jüdischen Menschen nur | |
insofern beschäftigt, als es sich für eine zynische Pointe nutzen lässt: | |
„Hanns Ludin, der die Deportationsbefehle von 60.000 Juden unterschrieb, | |
muß ein beeindruckender Mensch gewesen sein.“ Eine solche Schamlosigkeit | |
findet sich selbst bei Salomon nicht. | |
Attraktiv für die Neue Rechte ist Salomon aber auch aufgrund seiner eigenen | |
Verstrickung in den Rechtsterrorismus, denn er war 1922 aktiv an der | |
Ermordung des jüdischen Außenministers Walther Rathenau durch die | |
Organisation Consul beteiligt. | |
So beschäftigt sich ein Sezessions-Artikel zum 40. Todestag Salomons 2012 | |
kaum mit dessen Werk, sondern huldigt stattdessen den dreimal namentlich | |
erwähnten Salomon-Attentätern, zeigt einen von Neonazis neu errichteten | |
Gedenkstein für diese und betreibt ein augenzwinkerndes Versteckspiel | |
dadurch, dass als Verfasser des aktuellen Artikels Hans Wilhelm | |
Stein-Saaleck angegeben wird, der bereits 1944 verstarb (und die | |
Rathenau-Attentäter auf seiner Burg versteckt hatte). | |
## Feier politischer Attentate | |
Mustergültig, aber keineswegs singulär führt der Umgang mit Salomon vor, | |
wie die Neue Rechte ein vermeintlich literaturbezogenes Sprechen dazu | |
benutzt, Positionen zu lancieren, die in ihrer Radikalität über das in | |
politischen Essays Gesagte hinausgehen – bis hin zur Feier politischer | |
Attentate. | |
Kurz gesagt: In neurechter Literaturpolitik wird gekämpft und gekuschelt. | |
Diese paradoxe Doppelstrategie muss als solche erkannt und ernst genommen | |
werden, da sie metapolitischen Erfolg verspricht. Deshalb ist es | |
fahrlässig, wenn der FAZ-Redakteur Patrick Bahners 2021 auf Twitter eine | |
Rezension von Ellen Kositza lobend erwähnt und verlinkt, als sei die | |
Sezession eine gewöhnliche literaturkritische Institution. | |
Dass die Neue Rechte viel zu oft bereits als solche wahrgenommen wird, | |
zeigen Fälle aus dem Literaturunterricht an Schulen und Universitäten, in | |
denen Lerngruppen neurechtes Material, das u.a. auf Youtube frei zugänglich | |
ist, zur Verfügung gestellt wurde, ohne den Publikationskontext | |
mitzureflektieren. | |
## Einfluss im Bildungsbetrieb | |
Bedenklich ist das nicht zuletzt deshalb, weil sich die Neue Rechte | |
gegenwärtig besonders darauf konzentriert, Einfluss im Bildungsbetrieb zu | |
gewinnen. | |
Zu diesem Zwecke wurde im Herbst 2023 die [7][„Aktion 451“] ins Leben | |
gerufen, die eine Gründung studentischer Lesekreise anstrebt, um damit – so | |
Kubitscheks Zielvorgabe – „einen Roman nach dem andern und ein zentrales | |
Werk nach dem andern für uns [zu] vereinnahmen, aus rechter Sicht [zu] | |
lesen und daraus das [zu] machen, was man eine Rückeroberung oder | |
Reconquista an der Universität nennen sollte“. | |
Insbesondere Lehrer:innen an Schulen und Hochschulen sollten sich | |
deshalb rasch über zwei Dinge klar werden: dass die Neue Rechte (erstens) | |
auch das literarische Feld mit ausgeklügelten und variantenreichen Taktiken | |
bespielt und dass dies (zweitens) im Rahmen einer metapolitischen Agenda | |
stattfindet, also nicht um der Literatur willen geschieht. Harmlosigkeit | |
und Selbstverharmlosung sind zwei völlig unterschiedliche Dinge – das gilt | |
es im Hinblick auf die neurechte Literaturarbeit immer im Kopf zu behalten. | |
Torsten Hoffmann ist Professor für Neuere Deutsche Literatur an der | |
Universität Stuttgart, wo er das DFG-Projekt „Neurechte Literaturpolitik“ | |
leitet. Er ist Präsident der Internationalen Rilke-Gesellschaft und in | |
diesem Jahr Mitglied der Jury des Deutschen Buchpreises. | |
6 Jul 2024 | |
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