| # taz.de -- Hintergründiges Buch zur AfD: Die wirkliche Gefahr | |
| > Hendrik Cremer reagiert auf das gewachsene rechte Selbstbewusstsein. | |
| > Seine Studie liefert trotz mancher Schwächen Argumente für ein Verbot der | |
| > AfD. | |
| Bild: Die AfD ist rechtsextrem wie nie zuvor: Anti-Höcke-Plakat bei der Demons… | |
| Der Parteitag der Alternative für Deutschland in Essen im Sommer 2015 gilt | |
| als ein früher Wegstein der Radikalisierung der Partei nach rechts. Damals | |
| setzte sich Frauke Petry gegen den liberalkonservativen Gründer Bernd Lucke | |
| durch, der die AfD in der Folge verließ. | |
| Am Rande des Parteitags ereignete sich auch eine Szene, an die sich | |
| Partei-Aussteiger:innen in der sehenswerten WDR-Doku „Wir waren in der AfD“ | |
| erinnern: Nachdem der Thüringer Fraktionsvorsitzende Björn Höcke zur Wahl | |
| in den Vorstand vorgeschlagen wurde, sei dieser ans Mikrofon getreten und | |
| habe mit ruhiger Stimme gesagt: „Noch nicht“. Seine Anhänger klatschten und | |
| grölten. | |
| Fast neun Jahre später ist Höckes völkischer „Flügel“ zwar offiziell | |
| aufgelöst, aber die Partei so rechtsextrem wie nie zuvor. Unlängst nahmen | |
| AfDler an einem [1][Treffen mit Identitären in Potsdam] teil, wo sie heiter | |
| ihre Pläne für Massendeportationen diskutierten. Dabei waren die Vorschläge | |
| kaum neu. Schon 2018 sprach Höcke in einem Buch von der Notwendigkeit eines | |
| [2][„großangelegten Remigrationsprojekts“], das eine Politik der | |
| „wohltemperierten Grausamkeit“ erfordere. | |
| Im selben Jahr konstatierte der stellvertretende Parteivorsitzende in | |
| Sachsen-Anhalt, Hans-Thomas Tillschneider: „Die AfD will das Gleiche wie | |
| die Identitäre Bewegung, inhaltlich gibt es keinen Dissens.“ Gewachsen ist | |
| allerdings das Selbstbewusstsein, mit dem die Rechte in Deutschland über | |
| ihre Vorhaben spricht. Die Gesellschaft spricht ihrerseits deswegen über | |
| ein Parteiverbot. | |
| Argumente für ein solches Verbot liefert ein neues Buch von Hendrik Cremer, | |
| der im Deutschen Institut für Menschenrechte zu Rassismus und | |
| Rechtsextremismus forscht. „Je länger wir schweigen, desto mehr Mut werden | |
| wir brauchen“ – erschienen im Berlin Verlag – sammelt Beweise aus | |
| Wahlprogrammen, Recherchen und öffentlichen Reden, die zeigen, welche | |
| völkischen und verfassungsfeindlichen Ziele die Partei heute verfolgt. Und | |
| wie es ihr gelingt, diese in der öffentlichen Debatte zu streuen, sei es in | |
| Talkshows oder in weichgespülten Sommerinterviews. | |
| ## demos versus ethnos | |
| In seiner Analyse verweist Cremer auf die völkische Ideologie des | |
| AfD-Programms, die der Verfassung zuwiderläuft. Im Grunde richtetet sich | |
| die Partei gegen die liberale Idee von Staatsbürgerschaft, nach der jeder | |
| und jede durch Einbürgerung potenziell Teil des demos werden kann. Dem | |
| entgegen stellt die AfD das Volk als schicksalhafte Kulturnation oder | |
| ethnos. | |
| Auch der [3][linke Philosoph Gáspár Tamás] sah diese Rebellion gegen die | |
| liberale Staatsbürgerschaft als zentrales Merkmal des Faschismus. Tamás | |
| prägte Anfang der 2000er Jahre in einem Essay den Begriff „Postfaschismus“ | |
| für die heutigen Neurechten, die zwar vom selben völkischen Ressentiment | |
| getrieben sind, sich dabei aber höchstens lose auf ihre Vorgänger aus den | |
| 1930ern beziehen. | |
| Cremer unterscheidet dagegen nicht tiefgreifender zwischen den Nazis von | |
| damals und den heutigen Postfaschisten. Wenn er Björn Höcke vorwirft, einen | |
| „neuen Nationalsozialismus“ und eine „Gewaltherrschaft“ anzustreben, | |
| übersieht er, dass die gesellschaftlichen Bedingungen heute andere sind. | |
| Eben darum bemerkte Tamás, der Postfaschismus müsse als eigenes, neues | |
| Phänomen begriffen werden. | |
| Anders als in den 1930er Jahren gibt es heute keine bewegten Massen, keine | |
| Straßenschlachten zwischen bewaffneten Kampfverbänden, und wohl am | |
| wichtigsten: keine echte sozialistische oder kommunistische Alternative, | |
| die das Bürgertum einst in die Hände der Nazis trieb. | |
| ## Wohlüberlegte Ausrutscher | |
| Auch der Postfaschismus einer Giorgia Meloni in Italien ist nicht einfach | |
| eine Neuauflage des Mussolini-Faschismus, denn sie bricht nicht radikal mit | |
| dem bestehenden System. In ihrer Hybridität birgt ihre Regierung jedoch | |
| eine ganz eigene Bedrohung. Analogien zu 1933 und dergleichen eignen sich | |
| vielleicht für Demoplakate. Doch können sie auch den Blick auf die | |
| wirkliche Gefahr verstellen: dass Rechte, sollten sie an die Macht kommen, | |
| nicht Revolution machen, sondern sich länger in der bestehenden Ordnung | |
| bewegen, um diese langsam von innen auszuhöhlen. | |
| Der Autor geht in kurzen Abschnitten auch auf die Russlandnähe der AfD ein | |
| oder auf ihre Kontakte ins neurechte intellektuelle Spektrum, etwa zum | |
| Institut für Staatspolitik um Götz Kubitschek. Diese kurzen Streifzüge sind | |
| jedoch inhaltlich nicht sehr ergiebig. Wer eine politische Tiefenanalyse | |
| der Partei erwartet, wird von dem Buch also eher enttäuscht sein. | |
| Stattdessen dient es als Kompendium der Menschenverachtung und als Aufruf, | |
| die AfD in ihren antiliberalen Bestrebungen ernst zu nehmen. | |
| Aufmerksamen Beobachter:innen dürften einige der angeführten Belege – | |
| völkische Parolen und wohlüberlegte „Ausrutscher“ – bekannt sein. Wer s… | |
| aber auf gut 200 Seiten noch mal auf Stand bringen möchte, welche Ziele die | |
| AfD heute verfolgt, ist mit dem Buch bestens bedient. | |
| 11 Feb 2024 | |
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| ## AUTOREN | |
| Leon Holly | |
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