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# taz.de -- DIW-Chef Fratzscher über Subventionen: „Es braucht ein neues Ste…
> DIW-Präsident Marcel Fratzscher ist gegen einen Industriestrompreis und
> Steuersenkungen für Firmen. Er wünscht sich mehr Mittel gegen
> Kinderarmut.
Bild: Marcel Fratzscher: „Es gibt ausreichend finanziellen Spielraum im Haush…
taz: Ist Deutschland gerade in keiner guten Verfassung, wie es zehn
SPD-nahe Ökonomen kürzlich in einem Schreiben an die Bundesregierung
formulierten – oder ist es bereits wieder der kranke Mann Europas?
Marcel Fratzscher: So viel Pessimismus ist fehl am Platz: Deutschland geht
es wirtschaftlich den Umständen entsprechend gut. Es leidet zwar stärker
als seine Nachbarn unter der Energiepreiskrise, weil es eine relativ offene
Volkswirtschaft ist und abhängiger von russischem Gas sowie Öl war als
andere. Es gibt aber keinen Grund, von einer drohenden Deindustrialisierung
zu sprechen, wie das einige Politiker tun.
Der Internationale Währungsfonds prognostiziert immerhin eine [1][Rezession
in diesem Jahr von minus 0,3 Prozent].
Nichtsdestotrotz ist Deutschland eine starke Volkswirtschaft. In den 2010er
Jahren hatte es ein relativ großes Wirtschaftswachstum, einen massiven
Beschäftigungsaufbau, und die Industrieunternehmen konnten ihre
Marktanteile weltweit ausbauen. Insofern geht es dem Land verhältnismäßig
gut. Die Probleme sind weniger kurzfristiger, sondern vielmehr
langfristiger Natur.
Was sind denn die großen Herausforderungen?
Wir müssen die Struktur der deutschen Volkswirtschaft grundlegend
verändern. Viele große deutsche Industriekonzerne haben in den vergangenen
Jahren die Transformation verschlafen. Und zwar sowohl in Bezug auf
Klimawandel und Energiewende als auch auf viele Zukunftstechnologien im
Rahmen der Digitalisierung. Klar ist auch: Es muss etwas bezüglich der
sozialen Teilhabe gemacht werden, damit es eine Akzeptanz für die
Transformation hin zu Nachhaltigkeit und Klimaschutz gibt. Nicht alle
Menschen in Deutschland konnten von den guten Entwicklungen in den 2010er
Jahren profitieren. Die jüngsten Krisen haben diese soziale Unwucht noch
verstärkt.
Nun hat sich die Ampelkoalition nach langen Diskussionen auf die Einführung
der Kindergrundsicherung geeinigt. 2,4 Milliarden Euro veranschlagt
Familienministerin Lisa Paus dafür. Ist das ein sozialpolitischer
Durchbruch?
Die verhandelte Lösung zur Kindergrundsicherung ist ein enttäuschender
Kompromiss. Die zusätzlichen 2,4 Milliarden Euro sind wenig mehr als ein
Tropfen auf den heißen Stein, der kaum substanzielle Linderung der
Kinderarmut in Deutschland bringt.
Hat dann Familienministerin Lisa Paus richtig gehandelt, als sie Christian
Lindners [2][Wachstumschancengesetz im Kabinett blockierte], um mehr Geld
für die Kindergrundsicherung herauszuholen?
Diese Diskussion ist ein Armutszeugnis. Wir haben in Deutschland eine der
größten Kinderarmutsquoten in Europa. Bei Kindern von Alleinerziehenden
beträgt sie fast 40 Prozent. Mehr Investitionen in die Kindergrundsicherung
sind essenziell. Auch für die Gesellschaft als Ganzes. Die Unternehmen
werden ebenfalls langfristig von der Kindergrundsicherung profitieren, wenn
dadurch Kinder aus armen Familien qualifizierte Bildungsabschlüsse erlangen
und so gute Fachkräfte werden.
Wie viel ist notwendig, um die Kinderarmut effektiv zu bekämpfen?
Bereits relativ kleine Beträge können einen großen Effekt haben. Würden
bedürftige Familien einen zusätzlichen Transfer zu den aktuellen Leistungen
von 100 Euro pro Kind und Monat erhalten, würden 400.000 bis 450.000 Kinder
und Jugendliche aus der Armut befreit. Das würde zwischen vier und fünf
Milliarden Euro jährlich kosten. Das ist eine sehr geringe Summe, wenn man
sie mit den 15 Milliarden Euro jährlich vergleicht, die allein die
Steuersenkungen in Rahmen des Inflationsausgleichsgesetzes im vergangenen
Jahr kosten und die vor allem Gutverdienenden zugute kommen.
Lindner will mit seinem Wachstumschancengesetz die Unternehmen entlasten.
Wie kann der Staat der Wirtschaft helfen?
Die Unternehmen brauchen jetzt Fachkräfte, eine große Initiative in
Forschung und Entwicklung sowie Bildung. Entlastungen von Unternehmen über
Industriestrompreis, Steuersenkungen und Blanko-Subventionen sind der
falsche Weg. Sie zementieren alte Strukturen und verhindern Wettbewerb. Die
Unternehmen brauchen verlässliche Rahmenbedingungen und damit Klarheit, wo
es in den nächsten 20 Jahren hingeht.
Vor einigen Tagen hat sich eine [3][Allianz pro Brückenstrompreis]
gegründet. Sie besteht aus Gewerkschaften und Industrieverbänden und warnt,
dass bis zu 2,4 Millionen Arbeitsplätze und gut 240 Milliarden Euro
Wertschöpfung an energieintensiven Unternehmen hängen. Ist das für Sie eine
vernachlässigbare Größe?
Die Industrie ist wichtig in Deutschland. An ihr hängen viele gute
Arbeitsplätze. Es ist wünschenswert, wenn die betroffenen Branchen
innovativ und global wettbewerbsfähig bleiben. Zur Transformation gehört
aber auch, dass mehr Unternehmen als üblich aus Deutschland verschwinden
werden. Entweder, weil sie ins Ausland abwandern oder weil ihr
Geschäftsmodell nicht mehr tragfähig ist. Das ist notwendig, damit neue
Ideen, neue Produkte, neue Unternehmen entstehen können. Das bedeutet
Transformation.
Was ist mit den Arbeitsplätzen, die dadurch vernichtet werden?
Bei der Beschäftigung mache ich mir keine Sorgen. Wir haben heute bis zu
zwei Millionen offene Jobs. Wir haben ein Problem mit Fachkräftemangel –
nicht mit Arbeitslosigkeit.
Der grüne Wirtschaftsminister Robert Habeck fordert einen subventionierten
Industriestrompreis, wenigstens eine Zeitlang. Weite Teile der SPD sind
dafür, Kanzler Olaf Scholz aber dagegen. Wird der Industriestrompreis
kommen?
Wahrscheinlich ja. Aber es ist eine politische Frage. Ein subventionierter
Industriestrompreis ist aus ökonomischer Sicht aus zwei Gründen falsch:
Erstens werden damit alte Strukturen zementiert und notwendige
Veränderungen verhindert. Zweitens wird das Geld mit der Gießkanne
verteilt. Wenn dem Staat gewisse Branchen wichtig sind, dann muss er
Unternehmen sehr selektiv helfen. Ansonsten ist es lediglich eine
Umverteilung, die die Transformation bremst.
Befürworter wenden ein, dass es nicht unbedingt darum geht, den
Industriestrom billiger zu machen, sondern den Preis zu stabilisieren, weil
dieser derzeit stark schwankt. Sie wollen den Unternehmen dadurch
Planungssicherheit geben.
Planungssicherheit ist wichtig. Strompreisspitzen entstehen aus
Knappheiten. Dagegen kann man durchaus auch etwas machen. Aber der
Industriestrompreis ist dafür das falsche Instrument. Schwankungen im Preis
sind kein Argument für einen durch Subventionen künstlich verringerten
Industriestrompreis.
Wenn Sie weder für Steuersenkungen noch verbilligten Strom sind: Wo sollte
der Staat dann den Unternehmen unter die Arme greifen?
Wenn der Staat Unternehmen hilft, sollte das sehr gezielt geschehen. Hilfen
sollten bei der Forschung und Entwicklung ansetzen. Neue
Abschreibungsmöglichkeiten bei Forschungs- und Entwicklungsprojekten wären
ein Ansatz. Denn bei der Transformation geht es nicht darum, dass durch den
Ausbau der Erneuerbaren der Strompreis wieder sinkt. Es geht darum, dass
Prozesse neu und effizienter gestaltet werden müssen, dass neue
Technologien umgesetzt werden. Dabei sind auch endlose
Genehmigungsverfahren Gift für Investitionen.
Die Unternehmen klagen nicht nur über zu hohe Energiepreise. Viele monieren
auch, dass US-Präsident Biden mit seinem [4][milliardenschweren
IRA-Subventionspaket] zu ihrem Nachteil die eigene Wirtschaft massiv
fördert. Muss die Bundesregierung da nachlegen?
Deutschland fördert seine Wirtschaft bereits in einem ähnlichen Umfang wie
die USA. Biden hat für sein IRA in den nächsten zehn Jahren 369 Milliarden
US-Dollar veranschlagt. Die Bundesregierung hat in den vergangenen
anderthalb Jahren über die verschiedenen Fonds wie den Klima- und
Transformationsfonds und den Wirtschaftsstabilisierungsfonds insgesamt 350
Milliarden Euro zur Verfügung gestellt. Dabei ist die US-Volkswirtschaft
fünfmal größer als die deutsche. Am Geld mangelt es also nicht, es sollte
nur klüger eingesetzt werden.
Wohin sollte das Geld dann fließen?
Wir haben in Deutschland eine Investitionslücke von drei bis vier Prozent
der Wirtschaftsleistung. Das sind 120 bis 160 Milliarden Euro, die mehr
investiert werden müssten. Das meiste sind private Investitionen, aber auch
in der öffentlichen Infrastruktur gibt es einen massiven Bedarf. Auch der
Abbau der Bürokratie und die anstehende Gebäudesanierung kosten Geld. Und
es darf nicht vergessen werden, dass die Hälfte der öffentlichen
Investitionen von Kommunen getätigt werden. Da gibt es ein großes
Süd-Nord-Gefälle. 30 Prozent der Kommunen sind überschuldet. Denen muss
geholfen werden.
Und das alles ohne zusätzliche Mittel?
Nein. Derzeit gibt es durch die Fonds ausreichend finanziellen Spielraum im
Haushalt. Für die nächsten zehn Jahre brauchen wir sicherlich zusätzliche
Mittel. Da muss sich die Politik eingestehen und sich fragen, ob sie die
Schuldenbremse als Überbleibsel vergangener Zeiten beibehalten will oder in
Transformationszeiten für dringend notwendige Investitionen mehr Geld in
die Hand nehmen will.
Sie sehen die schwarze Null, auf die Herr Lindner pocht, kritisch?
Eindeutig ja.
Darf sich der Staat in Zeiten steigender Zinsen überhaupt höhere Schulden
leisten?
Ich mache mir wenig Sorgen um Deutschlands Schuldenstand. Er ist gering,
Deutschland zahlt sehr wenig Zinsen. Eine Rendite von 2,8 bis 3,0 Prozent
auf zehnjährige Staatsanleihen bei einer Inflation von voraussichtlich 6
Prozent bedeutet, dass die Zinsen, die der Bund für seine Schulden zahlen
muss, nach Abzug der Inflation negativ sind. Der Staat ist einer der
größten Gewinner der Inflation. Erstens, weil die Steuern ordentlich
sprudeln und zweitens, weil die Schuldenquote im Vergleich zur
Wirtschaftsleistung deutlich sinkt.
Mehr Schulden sind eine Finanzierungsmöglichkeit. Die andere wären höhere
Steuern. Braucht es ein neues Steuersystem?
Es braucht ein neues, faireres Steuersystem. Das ist nicht allein eine
Frage der Gerechtigkeit, sondern auch eine ökonomische. Es gibt kaum ein
Land, das Arbeit stärker und Vermögen geringer besteuert als Deutschland.
In Deutschland machen vermögensbezogene Steuern ungefähr 1 Prozent der
Wirtschaftsleistung aus. In Frankreich, Großbritannien oder den USA sind es
3 bis 4 Prozent. Würde Deutschland Vermögen so stark wie sie besteuern,
dann bedeutete dies Mehreinnahmen für den Staat von jährlich 100 bis 120
Milliarden Euro.
29 Aug 2023
## LINKS
[1] /Deutschland-in-der-Wirtschaftskrise/!5949699
[2] /Veto-gegen-Steuernachlaesse-fuer-Firmen/!5954248
[3] /SPD-Fraktion-fordert-Industriestrompreis/!5951191
[4] /Klimaschutz-in-Australien-und-USA/!5872622
## AUTOREN
Simon Poelchau
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