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# taz.de -- Das heikle Amt der Verteidigung: Die To-do-Liste des Boris Pistorius
> Das Verteidigungsministerium gilt als unregierbar. Der Aufgabenzettel des
> neuen Chefs steckt voller schwieriger Aufgaben.
Bild: Der frisch gekürte Verteidigungsminister nimmt Erstkontakt zur Truppe auf
Zeit zur Einarbeitung hat er nicht. Direkt [1][nach seiner Vereidigung im
Bundestag] eilt Boris Pistorius in sein neues Ministerium. Bei Eiseskälte
steht der neue Verteidigungsminister nun neben seiner Vorgängerin Christine
Lambrecht im Hof des Bendlerblocks, wo ihn das Wachbataillon der Bundeswehr
mit militärischen Ehren empfängt.
Ein Händedruck, Lambrecht rauscht ab und Pistorius stellt sich an ein
Mikrofon. „Es sind keine normalen Zeiten“, sagt er, „es ist Krieg in
Europa.“ Die Streitkräfte seien die letzten Jahrzehnte vernachlässigt
worden. Es komme jetzt darauf an, die Bundeswehr „schnell stark zu machen“.
Kurz darauf muss er auch schon seinen amerikanischen Amtskollegen in
Empfang nehmen. In passablem Englisch begrüßt Pistorius den
US-Verteidigungsminister Lloyd Austin. Der Amerikaner witzelt, er sei nicht
überrascht, der erste Gast zu sein – Pistorius sei ja erst eine Stunde im
Amt. [2][Die Zeitenwende wirft Pistorius von Niedersachsen gleich auf das
internationale Parkett.] Die Aufgaben, die auf ihn warten, sind enorm.
## Die Unterstützung für die Ukraine
Gleich an seinem zweiten Arbeitstag reiste Pistorius zum
US-Luftwaffenstützpunkt Ramstein in Rheinland-Pfalz weiter, wo die
Unterstützerstaaten der Ukraine über weitere Waffenlieferungen
verhandelten. Schon vor Beginn der Konferenz hatte er auf der Air Base
Nato-Chef Jens Stoltenberg und den ukrainischen Verteidigungsminister
Oleksij Resnikow zu Einzelgesprächen getroffen.
Die Bundesregierung werde prüfen, ob Deutschland jetzt [3][doch
Leopard-2-Kampfpanzer liefere oder zumindest anderen EU-Staaten erlaube],
die Fahrzeuge aus deutscher Produktion abzugeben – so ließ Pistorius es am
Freitag in Ramstein verlauten. „Wir bereiten uns vor für den Fall der
Fälle“, sagte er kurz vor Redaktionsschluss, die Entscheidungen würden „so
bald wie möglich“ getroffen. Wie auch immer das letztlich ausgeht: Bei
Waffenlieferungen wurden die Grundsatzfragen bislang direkt im Kanzleramt
geklärt.
Je länger der Krieg dauert, je mehr Kampfgerät sich abnutzt oder zerstört
wird, desto dringlicher wird die Frage nach Nachschub. Pistorius muss
klären, ob die Bundeswehr aus ihren dünnen Beständen noch mehr entbehren
kann, muss mit Gegenwind aus der Truppe rechnen und [4][mit der Industrie
darüber sprechen], was sie noch eingelagert hat und wie lange die
Instandsetzung dauert – von Munition, Ersatzteilen und Wartungspersonal
ganz zu schweigen.
## Die Beschaffung von Material
Weniger dringlich, aber nicht weniger relevant: der Kauf neuer Waffen für
die Bundeswehr. [5][100 Milliarden Euro aus dem 2022 beschlossenen
Sondervermögen liegen bereit]. Das Geld sinnvoll auszugeben, ist aber
schwierig (siehe Interview).
Pistorius’ Vorgängerin Lambrecht stand auch innerhalb der Ampel in der
Kritik, dass sie neue Beschaffungsvorhaben nicht schnell genug angeschoben
habe. Die Kritik ist verständlich, zum Beispiel mit Blick auf die geringen
Munitionsvorräte der Bundeswehr. Einige Partnerstaaten haben schon im
vergangenen Jahr Nachschub bestellt. Allerdings ist Schnelligkeit nicht
alles. Gründliche Ausschreibungen und Vertragsverhandlungen brauchen Zeit –
zumal die Strukturen im Beschaffungswesen in der Vergangenheit schon damit
überfordert waren, weit geringere Summen auszugeben.
Erste Änderungen hat Lambrecht im letzten Sommer umgesetzt. Kurz vor ihrem
Rücktritt legte sie weitere Reformvorschläge vor, eine „kritische
Bestandsaufnahme“, die die Ampel schon im Koalitionsvertrag vereinbart
hatte. Die Umsetzung liegt jetzt bei Pistorius.
## Der schwierige Einsatz in Mali
Um die Auslandseinsätze der Bundeswehr ist es ruhig geworden. Nach dem
Abzug aus Afghanistan verbleibt als letzter großer Einsatz der in Mali. Und
auch dieser neigt sich dem Ende zu: Die Ampel will ihn bis Mai 2024
beenden. Mit der Lage in dem westafrikanischen Land sollte sich Pistorius
trotzdem schnell vertraut machen, ein Verteidigungsminister steht schnell
im Fokus, wenn es in einem Einsatzland knallt. In Mali ist das nicht
ausgeschlossen.
Seit Monaten gibt es Reibereien zwischen der Bundeswehr und der
[6][malischen Militärregierung, die mit Russland kooperiert] und Kämpfer
der Söldnertruppe Wagner ins Land geholt hat. Aktuell sind den Deutschen
erneut Drohnenflüge verboten, sodass sie eine ihrer Hauptaufgaben –
Aufklärung für die UN-Mission Minusma – kaum erfüllen können. Wie ein
Bundeswehrsprecher der taz sagte, warte man seit Weihnachten auf eine neue
Fluggenehmigung.
Wenn die Schikanen anhalten, wenn sich die Sicherheitslage verschärft oder
wenn die malische Regierung, anders als von Deutschland gefordert, keine
Wahlen vorbereitet, könnte die Frage nach einem schnelleren Abzug wieder
auf die Tagesordnung kommen. Die Bundesregierung hat die Entscheidung nicht
zwingend selbst in der Hand: Auch die UN könnten das vorzeitige Ende der
internationalen Mission beschließen. Und selbst wenn alles nach Plan läuft
und in diesem Sommer ein schrittweiser Abzug beginnt: Ein Selbstläufer wird
selbst das nicht werden.
Welche Rolle sollen Auslandseinsätze noch spielen – und was können sie
bewirken? In Malis Nachbarland Niger will Deutschland weiterhin an einer
EU-Ausbildungsmission teilnehmen. Die Bundeswehr soll die Sahelzone nicht
komplett verlassen, alleine schon, um die Region nicht Russland zu
überlassen. Komplett auf die Bündnisverteidigung in Europa wird sich das
deutsche Militär also nicht konzentrieren können.
## Der Umgang mit Ortskräften
[7][Amir Azizi* ist einer der Afghanen, die sich von der Bundesregierung im
Stich gelassen fühlen.] Im Jahr 2010 war er kurzzeitig für die Bundeswehr
als Übersetzer tätig. Da ihn die Taliban wegen seines Jobs bedrohten,
kündigte er. Im Visier hatten sie ihn weiterhin, auch noch nach dem Fall
Kabuls im Sommer 2021. Er hat schriftliche Belege dafür und würde gerne
nach Deutschland evakuiert werden – bekommt von der Bundesregierung aber
keine Hilfe. Afghanische Ortskräfte werden nur aufgenommen, wenn sie nach
2013 für deutsche Stellen gearbeitet haben. So sind die Regeln.
Betroffene, NGOs und manche Ampel-Abgeordnete machen Druck, dass sich das
ändert. Sie fordern die Reform des Ortskräfteverfahrens, das im
Koalitionsvertrag vereinbart war. Relevant ist die Frage auch mit Blick auf
den Mali-Abzug und die dortigen Mitarbeiter*innen.
Als Landesinnenminister hatte Pistorius sich nach der Machtübernahme durch
die Taliban dafür ausgesprochen, den Ortskräften schnell zu helfen. Als
Verteidigungsminister ist sein Spielraum nicht grenzenlos, auf eine Reform
müsste sich die Regierung gemeinsam einigen. Vor allem das Innenministerium
bremst dabei.
* Name aus Sicherheitsgründen geändert
## Rechtsextreme in der Truppe
In der Bundeswehr sind 17 Extremisten unterwegs, 1.452 sind Verdachtsfälle,
die meisten mutmaßlich rechtsextrem. Das ist die offizielle Zahl für das
Jahr 2021, die Dunkelziffer ist wohl deutlich größer, [8][viele Skandale
wurden erst nach journalistischen Recherchen bekannt und ernst genommen].
Pistorius erbt also auch hier ein altbekanntes Problem. Das Ausmaß der
Gefahr wurde jüngst bei der [9][Reichsbürgerrazzia] deutlich.
Ein paar Dinge wurden in den vergangenen Jahren verbessert:
Reservist:innen marschieren nicht mehr so weit unter dem Radar, weil
sich der Verfassungsschutz und der Bundeswehrgeheimdienst MAD nun über
Verdachtspersonen austauschen. Auch neue Sicherheitsüberprüfungen wurden
eingeführt. Allerdings: Extremismusfälle werden vor Truppendienstgerichten
verhandelt – und diese sind so überlastet, dass die Verfahren größtenteils
Jahre dauern, auch wegen vakanter Richterstellen.
Die Ampel hat in ihrem Koalitionsvertrag immerhin schon mal festgehalten,
die Gesetzeslage zu ändern, „um Extremistinnen und Extremisten umgehend aus
dem Dienst entlassen zu können“. Alle Soldat:innen sollen demnach per
Verwaltungsakt entlassen werden können, wenn sie nicht für die Erhaltung
der freiheitlich-demokratischen Grundordnung eintreten. Erst danach würde
die Entlassung gegebenenfalls gerichtlich überprüft. Das ließe sich durch
eine Änderung im Soldatengesetz regeln.
Der Entwurf „wird aktuell finalisiert“, wie eine Sprecherin des
Verteidigungsministeriums auf taz-Anfrage sagte. Parallel dazu hat auch
[10][Bundesinnenministerin Nancy Faser (SPD) ein Gesetz auf den Weg
gebracht], mit dem extremistische Beamte schneller aus dem Dienst entfernt
werden können. Aber dafür müssten sie erst einmal erkannt werden.
20 Jan 2023
## LINKS
[1] /Neuer-Chef-im-Verteidigungsministerium/!5909911
[2] /Amtsantritt-von-Boris-Pistorius/!5906707
[3] /Panzer-fuer-die-Ukraine/!5908521
[4] /Lambrecht-Nachfolge/!5906220
[5] /Nutzung-des-Bundeswehr-Sondervermoegens/!5862608
[6] /Bundeswehr-in-Mali/!5897548
[7] /Ortskraefte-in-Afghanistan/!5824296
[8] /Nach-Razzia-bei-Reichsbuergern/!5901948
[9] /Razzia-gegen-Reichsbuerger/!5898636
[10] /Verfassungsfeinde-in-den-Behoerden/!5903868
## AUTOREN
Sebastian Erb
Jasmin Kalarickal
Tobias Schulze
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