# taz.de -- Berliner SPD-Chef kritisiert Ampel: „Das Geld dafür ist da“ | |
> SPD-Chef Raed Saleh kritisiert die Politik von FDP und Grünen im Bund. | |
> Mehr Hilfe für die breite Bevölkerung sei nötig – und Geld vorhanden, | |
> sagt er. | |
Bild: Die Leute brauchen keine Bevormundung durch Politiker, die Spartipps gebe… | |
taz: Herr Saleh, wir sitzen hier idyllisch in Ihrem Wohnort Kladow an der | |
Fähre zusammen und lassen uns Milchkaffee und Spezi schmecken. Müssen wir | |
dabei ein schlechtes Gewissen haben, weil es anderen gerade nicht so gut | |
geht? | |
Raed Saleh: Diese Situation mit der Inflation und den Kriegsfolgen macht | |
mir schon extrem große Sorgen. Meine Vision ist seit vielen Jahren, dass | |
die Menschen sich ihr Leben leisten können müssen, dass sie in Frieden und | |
Sicherheit leben. Dass der Staat alles unternimmt, dass es den Menschen so | |
leicht wie möglich gemacht wird. | |
So leicht ist das aber gerade nicht. | |
Das besorgt mich ja so, denn das ist jetzt in Gefahr. Wir haben in Berlin | |
Stück für Stück eine Vision umgesetzt, die in keinem anderen Bundesland | |
existiert: Keine Gebühren für Kita und Hort, Schulessen und | |
BVG-Schülerticket. Wir haben die Menschen entlastet und wir haben als | |
erstes Bundesland einen Landesmindestlohn beschlossen. | |
Dazu würde Bundesfinanzminister Lindner wahrscheinlich sagen, das habe zu | |
einer von ihm kritisierten „Gratismentalität“ beigetragen. | |
Christian Lindner sollte eigentlich seiner Verantwortung als Finanzminister | |
nachkommen. Das Problem ist tatsächlich, dass er und seine FDP nicht | |
wirklich den Ernst der Lage erkennen. Ich will es mal am Beispiel des | |
9-Euro-Tickets zeigen: Es gibt eine große Offenheit auf Bundesebene für | |
eine Nachfolgefinanzierung bei der SPD, aber auch bei den Grünen. Aber | |
Lindner fährt bekannterweise lieber Porsche statt Bus und Bahn und stellt | |
sich quer. | |
Sie selbst sind allerdings gerade auch nicht im Bus, sondern im Dienstwagen | |
hier an den Fähranleger gekommen. | |
Trotzdem bin ich für das 9-Euro-Ticket, weil ich weiß, wie wichtig es ist, | |
dass man den Menschen eine breite Möglichkeit zum Teilhaben ermöglicht. | |
Gleichzeitig treiben wir damit die Mobilitätswende voran und bringen | |
Menschen dazu, das Auto stehen zu lassen. | |
Das machen aber nur 3 Prozent der Ticketkäufer und 97 Prozent eben nicht, | |
wie eine Studie dazu ergeben hat. Ist das wirklich ein Erfolg? | |
Trotz allem sind es 3 Prozent. Ich weiß gar nicht, wie die Zahlen ermittelt | |
worden sind – was ich mitbekomme ist, dass mehr Leute umgestiegen sind. In | |
einer Umfrage vom Juli sprechen sich rund 80 Prozent für eine Verlängerung | |
aus. Das Ticket ist ein gutes Beispiel dafür, dass man die Menschen bei | |
politischen Entscheidungen mitnehmen muss, und da stellt sich Christian | |
Lindner quer. Die meisten Menschen erwarten doch gar nicht viel von der | |
Politik. Die meisten kriegen ihren Alltag selbst in den Griff. Aber in | |
Krisen, wenn es wirklich hart auf hart kommt, erwarten die Menschen zu | |
Recht, dass das System funktioniert und der Staat ihnen hilft. | |
Warum wird die Hilfe dann nicht konzentriert auf die, die wirklich zu wenig | |
in der Tasche haben, statt allen eine Quasi-Freifahrtschein zu finanzieren? | |
Das haben Sie auch schon vor Jahren gefragt bei der Gebührenfreiheit in der | |
Bildung. Ich habe damals gesagt und sage das auch heute, dass ich | |
diejenigen, die zu den Spitzenverdienern gehören, über ein gerechteres | |
Steuersystem abrechnen will. | |
Aber das kriegen Sie doch erstens nicht schnell und zweitens nicht auf | |
Landesebene geändert. Wieso also nicht auf die Bedürftigen konzentrieren? | |
Bei dem Begriff fängt das Problem doch schon an: Wer sind denn die | |
Bedürftigen, auf die wir uns konzentrieren sollen? Sind das die Menschen, | |
die Hartz-IV empfangen? Sind das die, die Grundsicherung beziehen? Für mich | |
geht das viel weiter: Ich sehe die Breite der Mittelschicht in Gefahr. | |
Menschen, die noch nie Unterstützung bekommen haben.Diejenigen, die bisher | |
immer sagen: Staat, lass mich in Ruhe, ich kann für mich selbst sorgen, | |
macht es mir aber nicht so kompliziert. | |
Dann legen Sie halt eine höhere Grenze für Hilfen fest, vielleicht bei | |
5.000 Euro – aber eben nicht per Gießkannenprinzip Geld für alle. | |
Jetzt sagen Sie so einfach „Gießkanne“. Was die meisten nicht bedenken ist, | |
das wir durch diese Entlastungen auch die Wirtschaft fördern. Denn was | |
machen die Menschen, wenn es im Portemonnaie knapp wird? Sie sparen, indem | |
sie Verzicht üben: In der Gastronomie, beim Schulranzen der Kinder, beim | |
Einkauf,von guten Lebensmitteln. Und was passiert dann? Die Wirtschaft | |
leidet und Arbeitsplätze werden gefährdet. | |
Arbeitsplätze sieht auch FDP-Mann Lindner in Gefahr. | |
Wir haben da doch die Erfahrung aus der Pandemie. Was haben wir gesagt und | |
erfolgreich gemacht? „In der Krise spart man nicht.“ Dieser Satz gilt für | |
mich jetzt mehr denn je. | |
Und dabei immer mehr Schulden anhäufen? | |
Geld dafür ist doch da! Der Staat ist der größte Krisengewinner in diesem | |
Moment: Wenn die Marmelade jetzt bei Lidl oder Aldi teurer ist, bedeutet | |
das auch höhere Einnahmen bei der Mehrwertsteuer. Insgesamt wird der Staat | |
künftig jedes Jahr durchschnittlich 163 Milliarden Euro Steuermehreinnahmen | |
haben. Die Umsatzsteuern allein wachsen in den nächsten Jahren um | |
durchschnittlich 60 Milliarden Euro pro Jahr. Ich will nicht, dass die | |
Leute abgewürgt werden, ich will ihnen das Geld zurückgeben und sie mehr | |
entlasten. | |
Das Geld hätten aber auch die großen Umbauvorhaben wie in der | |
Energieversorgung nötig. | |
Da erwarte ich von den Grünen, dass sie nicht versuchen, die Krise zu | |
nutzen, um ihre Ideologie durchzusetzen – nämlich Energieeinsparung zu | |
erzwingen, indem man den Preis künstlich hochschraubt. Das werden die | |
Menschen nicht akzeptieren. Die verzweifeln sonst und gehen daran kaputt, | |
dass sie sich das Leben in der Gesellschaft nicht mehr leisten können. | |
Außenministerin Baerbock befürchtete jüngst, es könnte deshalb | |
Volksaufstände geben. | |
Ministerin Baerbock schwadroniert vom Volksaufstand, Minister Habeck malt | |
Untergangsszenarien. Das macht man doch als verantwortungsbewusste | |
Politiker nicht! Wir sind gewählt, um die Menschen in dieser Phase zu | |
unterstützen und nicht, um Angst zu verbreiten. Und deswegen sage ich noch | |
mal: Wir brauchen ein ganz klares Bekenntnis, die Milliardensteuergewinne, | |
die der Staat gerade macht, an die Bevölkerung zurückzugeben. | |
All diese Themen haben fast vergessen lassen, dass es eine Sommerpause gab | |
oder was vorher war. Eine Ausnahme ist der SPD-Landesparteitag vom Juni: Da | |
ist gut in Erinnerung, dass kaum mehr als jeder zweite Delegierte Sie als | |
Parteichef wiederwählte. Welche Lehren ziehen Sie daraus mit zwei Monaten | |
Abstand? | |
Ich habe am ersten Tag danach bereits gesagt, dass ich das als einen | |
Auftrag wahrnehme. Ich bin von meiner Partei noch nie groß verwöhnt worden | |
bei Wahlergebnissen. Deswegen habe ich auch gleich betont: Lasst uns | |
gemeinsam gucken, dass wir es zusammen besser machen. | |
Gemeinsam? Wenn das schlechte Wahlergebnis von 57 Prozent ohne | |
Gegenkandidaten ein Auftrag ist, dann müssen doch erstmal Sie selbst etwas | |
ändern. | |
Die Berliner SPD hat 20.000 Mitglieder und bei denen erkennen wir immer | |
viel Zuspruch für unsere Arbeit als Landesvorsitzende. Letztendlich ist das | |
auch ein gemeinsamer Auftrag der Partei. So habe ich Parteiarbeit immer | |
verstanden. | |
Sonst säßen Sie tatsächlich jetzt nicht hier. Über den Sommer hat es zudem | |
bei mehreren Themen in der rot-grün-roten Koalition gehakt. Können wir ein | |
paar davon durch gehen? | |
Fangen Sie an. | |
Da machen zum einen die Grünen den Eindruck, als würden sie gerne ihre Idee | |
eines soldarisch finanzierten, also von allen zu bezahlenden Umwelttickets | |
wieder aufleben lassen. | |
Ich bin ein großer Freund des 365-Euro-Tickets. Aber das muss freiwillig | |
sein. Ein Zwangsticket wird es mit der SPD nicht geben. Die Menschen | |
brauchen Entlastung und nicht eine weitere Belastung. | |
Dann hat Grünen-Fraktionschef Graf jüngst ein „Recht auf Rausch“ und die | |
Freigabe harter Drogen in kleinen Mengen gefordert. | |
Ich habe vor Jahren als einer der Ersten in der SPD gesagt, dass wir | |
Cannabis entkriminalisieren müssen. Aber eine Freigabe harter Drogen wie | |
Kokain und Heroin lehne ich strikt ab: Diese Drogen zerstören Menschen. Wir | |
hatten das schon ausführlich in den Koalitionsverhandlungen diskutiert. Wer | |
so etwas fordert, spielt mit der Gesundheit von Menschen. Und ich weiß gar | |
nicht, ob Werner Graf sich damit einen Gefallen getan hat. | |
Warum meinen Sie das? | |
Fragen Sie doch mal die Berlinerinnen und Berliner, was sie von dem | |
Vorschlag halten, tödliche Substanzen freizugeben und sie damit zu | |
entkriminalisieren. | |
Blicken wir auf die Linkspartei und deren Haltung zu Autobahnblockaden | |
durch Klimaaktivisten. Da könnte man das Gefühl haben, dass die | |
Justizsenatorin nicht vollends an einer Strafverfolgung interessiert ist. | |
Ich unterstütze die Position von Innensenatorin Iris Spranger … | |
… die zu Ihrer Partei gehört und erwartet, dass die Justiz dabei auch zu | |
Verurteilungen kommt. Aber die Justizsenatorin der Linken sagt dazu: Man | |
lebe in einem Rechtsstaat mit Gewaltenteilung, da hätten politische | |
Einflussnahmen nichts verloren. | |
Ich respektiere die Gewaltenteilung. Aber was macht das mit Menschen, die | |
auf der Autobahn stecken bleiben und unverschuldet Stunden zu spät zur | |
Arbeit kommen? Oder die dadurch einen lang erwarteten Termin beim Arzt | |
verpassen? Es gab sogar Fälle, bei denen Schwangere auf dem Weg zur | |
Entbindung oder Krankenwagen wegen der Blockaden im Stau stecken geblieben | |
sind. | |
Die Aktivisten verweisen auf die Demonstrationsfreiheit. | |
Demonstrationen und Proteste sind legitim, gar keine Frage. Aber man muss | |
gucken, dass man das so macht, dass nicht tausende Menschen darunter | |
leiden. Man kann auch anders Aufmerksamkeit erlangen, so wie Greenpeace das | |
oft gemacht hat. | |
Da haben sich Leute etwa mit Schlauchbooten vor riesige Walfänger gestellt… | |
… oder sind an Fassaden geklettert und haben damit auf ihre Sache | |
aufmerksam gemacht. Aber die haben nicht zigtausende Menschen blockiert. | |
Nochmal zum Energiesparen: Regierungschefin Giffey propagiert dazu | |
Achtsamkeit. Wie sieht das in Ihrem Privatleben aus? Wie versuchen Sie, die | |
eine oder andere Kilowattstunde zu sparen? | |
Ich glaube, dass sich die Menschen ihrer Verantwortung bewusst sind, dass | |
man jetzt gemeinsam seinen Beitrag zum Energiesparen leisten kann und muss. | |
Ich glaube, dass das eine sehr, sehr weit verbreitete Haltung ist. | |
Da glauben Sie wirklich? | |
Ja, davon bin ich überzeugt – die Menschen sind doch nicht dumm, leisten | |
schon jetzt ihren Beitrag und sind auch darüber hinaus bereit, mehr zu tun. | |
Was nicht ankommt, ist der Zeigefinger, der permanent ermahnt. Ich mag | |
diese Arroganz nicht: Die Leute brauchen keinen drei Mal schlauen Habeck | |
dazu, der besserwisserisch auf sie einredet, oder einen Ministerpräsidenten | |
der Grünen, der der Bevölkerung zum Waschlappen rät. | |
22 Aug 2022 | |
## AUTOREN | |
Stefan Alberti | |
## TAGS | |
Berlin | |
Sparpolitik | |
Energiepreise | |
Energiesparen | |
Daniel Wesener | |
Hartz IV | |
Franziska Giffey | |
Wochenkommentar | |
9-Euro-Ticket | |
Energiekrise | |
Berlin | |
Kai Wegner | |
Energieunternehmen | |
Berlin | |
Martin Schirdewan | |
Robert Habeck | |
SPD | |
Energiekrise | |
Schwerpunkt Rot-Rot-Grün in Berlin | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
17 Milliarden Investitionen bis 2026: Mehr Geld zum Ausgeben | |
Der Senat beschließt die Finanz- und die Investitionsplanung bis 2026. Ein | |
wichtiger Schwerpunkt bleibt die Schulbauoffensive. | |
Kritik am Bürgergeld: Völlig unangemessene Vorstellungen | |
Das Handwerk beklagt zu hohe Sozialbezüge. Eine solche Haltung ist | |
angesichts der rasant steigenden Preise nicht nur zynisch, sie ist auch | |
falsch. | |
Giffeys Sicht auf Berliner Krisenlage: „Wir haben keinen Krieg“ | |
Regierungschefin Giffey stellt Inflation und Energienot ins Verhältnis zu | |
schlimmeren Zeiten in Berlins Geschichte und kritisiert Protestaufrufe. | |
Debatte um 9-Euro-Ticket in Berlin: Verkorkster Anschluss | |
Regierungschefin Giffey (SPD) widerspricht mit ihrem Vorpreschen nicht nur | |
sich selbst, sondern vergrätzt so auch Koalitionspartner und Brandenburg. | |
Trotz Giffey-Telefonats mit Woidke: Ländernachbarn weiter im Clinch | |
Der Senat will ein Nachfolgemodell für das 9-Euro-Ticket notfalls auch ohne | |
Brandenburg durchziehen. Donnerstag sollen sich alle Beteiligten treffen. | |
Krisenpolitik in Berlin: Koalition legt 'ne Schippe drauf | |
BerlinerInnen sollen angesichts steigener Energiekosten stärker entlastet | |
werden als geplant. Auch ein Nachfolger für das 9-Euro-Ticket kommt wohl. | |
CDU schlägt Energiegeld für alle vor: Die Gießkanne muss ausgedient haben | |
300 Euro für jeden helfen nicht, die Probleme zu lösen. So ein Vorgehen | |
wäre das Gegenteil von zielgenauer Hilfe. | |
Entlastungsvorschlag der CDU: 300 Euro Energiegeld für alle | |
CDU-Chef Wegner will, wie SPD-Chef Saleh, in der Energiekrise Milliarden | |
aus dem Haushalt direkt an die Berliner überweisen. | |
Entlastungen für die Energiepreiskrise: Unmut gegenüber Ampel wächst | |
In den Landesverbänden von SPD und Grünen wächst der Unmut über fehlende | |
Entlastungen. Am Freitag will die Koalition über eigene Maßnahmen sprechen. | |
Halbjahresbilanz zum Haushalt: Koalition uneins über Finanzlage | |
Finanzsenator Daniel Wesener (Grüne) warnt davor, von Gewinnen zu sprechen. | |
Für SPD-Fraktionschef Raed Saleh hingegen sind „2 Milliarden übrig“. | |
Linken-Chef Schirdewan zur Energiekrise: „Axt an den sozialen Frieden“ | |
Der Linken-Vorsitzende Martin Schirdewan macht der Ampelkoalition schwere | |
Vorwürfe. Gegen die „soziale Kälte“ ruft er zu Protesten auf – ohne die | |
Rechten. | |
Kernthema der Grünen: Unbemerkt sozial | |
Für die Grünen ist Sozialpolitik längst Kernanliegen. Aber wissen das alle? | |
Minister Habeck droht zum Gesicht hoher Energiepreise zu werden. | |
Energiekrise und Inflation: Grüne und SPD wollen Entlastungen | |
Grüne und SPD wollen zielgerichtete Entlastungen für Einkommensschwache. | |
Die FDP um Finanzminister Lindner drängt auf Steuersenkungen. | |
Stark steigende Preise: Solidarität? Ja, aber für alle! | |
Die Regierung erwartet von der Bevölkerung, Sanktionen gegen Russland | |
mitzutragen. Aber auch bei der Verteilung der Lasten braucht es | |
Solidarität. | |
Sommerinterview mit Raed Saleh: „Ich habe noch eine Menge vor“ | |
Der SPD-Fraktionschef Raed Saleh pocht auf Regeln, würde Franziska Giffey | |
als Parteichefin unterstützen und drängt Linke und Grüne zum Einlenken. |