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# taz.de -- Sommerinterview mit Raed Saleh: „Ich habe noch eine Menge vor“
> Der SPD-Fraktionschef Raed Saleh pocht auf Regeln, würde Franziska Giffey
> als Parteichefin unterstützen und drängt Linke und Grüne zum Einlenken.
Bild: Ganz entspannt in einem Biergarten in Kladow: Raed Saleh nach dem taz-Int…
taz: Herr Saleh, Sie sind doch sonst der, der nah an den Problemen dran
sein will und auch da hingeht, wo’s nicht so nett ist – und jetzt sitzen
wir direkt am Fähranleger in [1][Kladow], an einem der lauschigsten und
lieblichsten Fleckchen, die Berlin zu bieten hat. Wie passt das denn?
Raed Saleh: Das ist ja das Großartige an Berlin. Die Stadt hat 1.000
Gesichter und ist gerade deshalb so großartig, weil sie all diese
Unterschiede in sich vereint. Es gibt Kladow, und es gibt die Platte in der
Heerstraße Nord, wo ich aufgewachsen bin, einer Gegend, von der man als
Armenhaus Berlins spricht.
Daran erinnern Sie ja immer gern.
Das ist ja auch meine Identität, mein Zuhause, alles, was ich jetzt
politisch mache, leite ich aus diesem Kiez ab – wie etwa die gebührenfreie
Bildung. Ich weiß, wie es ist, wenn man an vielen Dingen nicht teilhaben
kann, weil das nötige Kleingeld fehlt. Wenn es zum Schuljahresbeginn keine
Hortgebühren mehr für die Klassen 1 und 2 gibt, geht für mich ein Traum in
Erfüllung.
Aber heute haben Sie das nötige Kleingeld, als Fraktionschef verdienen Sie
mehr als die meisten Berliner. Warum sind Sie wie alle anderen, die genug
im Portemonnaie haben, von den Gebühren befreit und brauchen demnächst fürs
Mittagessen an Grundschulen oder die BVG-Karte ihrer Kinder nichts zu
bezahlen?
Ich möchte die Mittelschicht entlasten und die, die wirklich mehr Geld in
der Tasche haben, nicht über Gebühren für die Bildung, sondern über ein
gerechteres Steuersystem am Ende stärker zur Kasse bitten.
Aber aufs Steuergesetz da haben Sie auf Landesebene keinen Einfluss.
Dann muss das auf Bundesebene geregelt werden. Für mich ist klar: Bildung
darf nichts kosten, von der Kita bis zur Uni. Wir wollen aber noch mehr Ich
frage mich zum Beispiel: Warum gibt es immer noch Museen, wo Kinder
Eintritt zahlen müssen?
In vielen, wie im Pergamonmuseum, kommen die doch schon bis 18 Jahre
umsonst rein.
Aber nicht ins Technikmuseum oder ins Naturkundemuseum, gucken Sie nach!
Gerade ein Ort wie das Naturkundemuseum, das mit Hunderten von Millionen
bezuschusst wird, ist da in der Pflicht – jedes Kind hat ein Recht darauf,
einen Dino zu sehen.
Aus der Urzeit mal wieder zurück in unseren lauschigen Biergarten in Kladow
– Sie haben hier ja sogar ein Häuschen. Darf man oder frau das noch bei der
SPD, gibt es da keine Neiddebatte oder die Angst, es gehe die
Glaubwürdigkeit verloren, Anwalt der Benachteiligten zu sein?
Ich habe meiner Familie und mir einen großen Wunsch erfüllt, indem wir uns
vor vielen Jahren schon ein Reihenhaus gekauft haben. Eigentum und
Sozialdemokratie als Widerspruch – das wäre total falsch. Im Gegenteil: Die
beste Altersvorsorge ist eine eigene Wohnung. Im Nachhinein denke ich, dass
wir als Land Berlin, statt Wohnungsgesellschaften zu verkaufen, Wohnungen
den Mietern hätte anbieten sollen.
Sie sind selbst Aufstiegsgeschichte pur: Von der Heerstraße übers
Burger-Braten bis an die Fraktionsspitze. Wieso erweckt die SPD dann
eigentlich mitunter den Eindruck, mit dem Begriff „Leistung“ zu fremdeln?
Ich sehe es nicht so, dass die SPD mit Leistung fremdelt. Ich war immer
stolz darauf, mein eigenes Geld zu verdienen – mit 16 Jahren habe ich schon
Burger gebraten und Pommes verkauft. Wir sind doch eine Volkspartei und
haben ganz unterschiedliche Charaktere in der Partei. Und wir waren lange
so erfolgreich, weil ganz unterschiedliche Menschen die SPD wählen konnten:
der Polizist, weil für ihn die SPD für Recht und Ordnung und für einen
starken Staat stand …
… das würden mutmaßlich heute in Berlin weniger Polizisten sagen.
So ist zumindest die Idee. Uns gewählt hat aber auch der Sozialpädagoge,
dem das Thema Gerechtigkeit am Herzen liegt. All diese Leute mitzunehmen,
vom Rentner bis zur Studentin, das hat die SPD vielleicht verlernt. Wir
haben aber, glaube ich, zuletzt nicht mehr den richtigen Ton getroffen. Das
ist gefährlich: Wir dürfen nie zu einer Nischenpartei werden, wir dürfen
uns nicht nur um eine Gruppe kümmern. Wenn die SPD den Anspruch aufgibt,
Volkspartei zu sein, dann haben wir innerhalb der Gesellschaft ein Vakuum,
in das andere reingehen.
Können Sie das genauer sagen?
Etwa beim Thema Sicherheit und Werte. Ich höre immer: Wir dürfen nicht zu
streng sein beim Thema Migration, weil man sonst die Migranten verärgert –
so ein Quark!
Sagt jetzt einer, der selbst Anfang der 80er Jahre als Migrant nach
Deutschland kam.
Die härtesten Forderungen, Regeln einzuhalten, kommen von den Migranten
selbst! Weil sie nicht mit den wenigen Spinnern, die sich danebenverhalten,
in einen Topf geworfen werden wollen. Wenn meine Mutter nach den
Nachrichten den Fernseher ausmacht, höre ich oft: Mensch, Raed, ihr müsst
da durchgreifen, Straftaten sind Straftaten, egal wo jemand herkommt, ihr
müsst da Härte zeigen. Meine Schwester sagt, egal ob einer Mustafa oder
Björn heißt, es gelten Regeln. Vielleicht hat die SPD den Eindruck
hinterlassen, dass wir den Anspruch, dass Regeln gelten müssen, nicht ernst
genug nehmen.
Da sind wir ja gleich tief im beliebten Thema: „Wohin mit der SPD und mit
wem an der Spitze?“ War es für Sie eine Genugtuung, als Gesine Schwan sich
jüngst ins Gespräch für eine Doppelspitze brachte? Sie hatten, von manchen
belächelt, Schwan 2015 als Kanzlerkandidatin vorgeschlagen.
Als ich das hörte, ging mir durch den Kopf: Wow, die ist mutig. Wer sie
kennt, weiß: Die lebt Sozialdemokratie, die ist Überzeugungstäterin.
Respekt, dachte ich.
Wen wünschen Sie sich denn an der Spitze der SPD?
Wir müssen jetzt schauen, welche Kandidatenteams antreten und welche
Inhalte sie präsentieren.
Gut, dann konkret: Wenn Ihre Berliner Parteifreundin Franziska Giffey
antritt, unterstützen Sie sie dann?
Wenn Franziska antreten würde, hätte sie meine volle Unterstützung. Sie hat
ja immer wieder deutlich gemacht, dass das für sie auch eine Frage der
Vereinbarkeit von Familie und Beruf ist – sie hat ja einen neunjährigen
Sohn. Ich kann auch begründen, warum ich sie unterstützen würde: Weil
Franziska mit den Themen, die sie seit vielen Jahren in Neukölln bewegt
hat, eine Person ist, die die SPD bundesweit wieder zur stärksten Kraft
machen könnte, und zwar in kürzester Zeit. Denn Franziska verkörpert eine
Sehnsucht, dass die Sozialdemokratie wieder Probleme erkennt und anpackt,
Situationen nicht schlechtredet, aber auch nicht beschönigt.
Gehen wir eine Etage tiefer. Warum ist Michael Müller unter den 16
deutschen Ministerpräsidenten der unbeliebteste Regierungschef, warum sind
in Berlin nach jüngster Umfrage nur 27 Prozent mit ihm zufrieden?
Ich glaube, das wird sich im Laufe der nächsten Monate wieder ändern.
Umfragen sind Momentaufnahmen, und die SPD ist ja bundesweit in einer
tiefen Krise.
Parallel zur SPD-Misere läuft es auch in der Berliner Koalition nicht rund.
Zuletzt stand wieder mehr im Vordergrund, was die Regierungskoalition
trennt – Tempelhofer Feld, Volksbefragung, der Stadtentwicklungsplan –, als
das, was Rot-Rot-Grün eint. Was war das noch mal?
Die Vision von einer solidarischen, von einer starken Stadt, die es
hinbekommt, soziale Gerechtigkeit und wirtschaftliche Vernunft
zusammenzudenken. Wir wollen eine menschlichere Metropole. Aber außer dem,
was Sie angesprochen haben, könnten noch ein paar andere Dinge schneller
gehen. Etwa beim Thema Cannabis, wo es mal eine Bundesratsinitiative geben
müsste …
… das ist jetzt aber auch nicht das drängendste Thema für die große
Mehrheit in der Stadt.
Es ist ein kleines Thema, es betrifft aber Hundertausende in der Stadt.
Hunderttausende?
Ja, fragen Sie doch mal rum bei sich in der taz. Oder das Wahlalter ab 16 –
wer soll das hinbekommen, wenn nicht Rot-Rot-Grün? Oder ein politisches
Bezirksamt. Beim Thema Tempelhofer Feld, beim Thema Videoüberwachung, beim
Thema Polizei, da haben wir tatsächlich klar unterschiedliche Sichtweisen.
Aber Politik bedingt immer auch Beweglichkeit und Eingehen auf neue
Situationen, das gilt gerade beim Tempelhofer Feld. Wir wollen nur am Rand
bauen, und zwar nicht mit Luxusprojekten, sondern mit 100 Prozent
landeseigenen Wohnungen. Da sage ich zu Linken und Grünen: Lasst uns
diskutieren – sprechen hilft!
Über Gesine Schwan haben wir gesprochen, über Müller und Giffey, aber noch
nicht über Ihre Zukunft. Sie selbst sind nun knapp acht Jahre Fraktionschef
– wo sehen Sie sich denn in ein paar Jahren? Manche sagen, für Spandau im
Bundestag.
Erst mal bin ich dankbar, dass ich nun seit acht Jahren diese Stadt
politisch mit prägen darf und viele Veränderungen habe bewirken können. Es
wird aber nicht langweilig, mir macht die Arbeit Spaß. Und was den
Bundestag angeht: Ich möchte gerne Landespolitiker bleiben, und ich habe
noch eine Menge vor.
30 Jul 2019
## LINKS
[1] https://de.wikipedia.org/wiki/Berlin-Kladow
## AUTOREN
Stefan Alberti
## TAGS
Schwerpunkt Rot-Rot-Grün in Berlin
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